Artikel von Rüdiger Sünner
Zu Ulrich Kaiser: ›Der Erzähler Rudolf Steiner‹
Nachdem ich 2008 meinen Dokumentarfilm ›Abenteuer Anthroposophie – Rudolf Steiner und seine Wirkung‹ veröffentlich hatte, hörte ich natürlich nicht auf, mich weiter mit diesem eigenwilligen Denker zu befassen. Immer wieder beschäftigte mich die große Diskrepanz zwischen der bewundernden Anerkennung Steiners in anthroposophischen Kreisen und den enormen Schwierigkeiten, welche die Öffentlichkeit und auch die Wissenschaft mit seinen esoterischen Lehren haben. Und wie konnte ich selbst seine schwer verständlichen Deutungen der Urgeschichte, der Evolution, der Erzengel, Elementarwesen und Inkarnationsfolgen noch besser verstehen?
Zu Horst Bredekamp: ›Aby Warburg, der Indianer‹
Von 2015 bis 2018 gehörte der renommierte Kunsthistoriker Horst Bredekamp, gemeinsam mit Hermann Parzinger und Neil Mac Gregor, zur Gründungsintendanz des Berliner Humboldtforums, in dem ab Dezember 2019 zahlreiche außereuropäische Weltkulturen vorgestellt werden sollen. Bredekamp, der seine Disziplin immer als Bildwissenschaft verstanden hat, kam wohl in diesem Triumvirat die Rolle des ausgewiesenen Symbolforschers zu. So lag es für ihn nahe, mit Aby Warburg einen berühmten Vorgänger zu porträtieren und in Verbindung mit den ethnologischen Beständen zu bringen, die im Humboldtforum gezeigt werden sollen. So lag es für ihn nahe, mit Aby Warburg einen berühmten Vorgänger zu porträtieren und in Verbindung mit den ethnologischen Beständen zu bringen, die im Humboldtforum gezeigt werden sollen. Denn die Reisen, die Warburg 1895/1896 zu den Puebloindianern in New Mexiko unternahm, dienten nicht kunsthistorischen Untersuchungen, sondern waren Recherchen zum kultischen Ursprung des bildhaften Denkens, das lebenslang den Forschungsschwerpunkt dieses eigenwilligen Gelehrten bildete.
Zur Tagung ›Das Problem Beuys‹ am 15. und 16. Oktober in Düsseldorf
Am 15. und 16. Oktober 2021 fand in Düsseldorf im Haus der Universität am Schadowplatz die Tagung ›Das Problem Beuys‹ statt, in der Experten über strittige Fragen zu Werk und Wirken dieses Künstlers debattierten. Geladen waren u.a. der Filmemacher Andres Veiel, der Anthroposoph Walter Kugler, die Kunsthistoriker Benjamin Buchloh, Beat Wyss und Philip Ursprung, der Religionshistoriker Helmut Zander, der Theologe Alf Christophersen, der Künstler Albert Markert sowie der Autor Hans-Peter Riegel, der eine vierbändige Beuys-Biografie veröffentlicht hat. Über Live-Stream konnte ich die 12 Stunden des Symposiums mitverfolgen, was zu einer der spannendsten Online-Erfahrungen meines Lebens wurde. Ich kann hier nur Zusammenfassungen von Schwerpunkten geben sowie ein paar kritische Bemerkungen vor dem Hintergrund meiner eigenen langen Beschäftigung mit Joseph Beuys. Es ging auch um die Medienrezeption dieses Künstlers und um aktuelle Urheberrechtsfragen – aber am interessantesten waren die Themenfelder ›Der Hang zum Esoterischen‹ und ›Zum Rechtsideologischen‹. Die Kuratoren Eugen. Blume und Catherine Nichols hatten, wohl getrieben von vielen kritischen Stimmen zum Beuys-Jubiläumsjahr 2021, diese Tagung organisiert, um sich solchen Vorwürfen zu stellen. So fragte man nach Beuys’ Aktivitäten im Nationalsozialismus, seinen umstrittenen Äußerungen zu dieser Zeit, seinen häufigen Kontakten zu Männern mit NS-Vergangenheit und nach seinem Verhältnis zur Anthroposophie.
Zu Bron Taylor: ›Dunkelgrüne Religion‹
Vor allem durch drei Aspekte fasziniert das Buch ›Dunkelgrüne Religion‹ des amerikanischen Religionswissenschaftlers Bron Taylor: es hat nicht nur einen wunderschönen Titel, sondern beschreibt auch spannend die in Deutschland wenig bekannte Geschichte naturreligiöser Bewegungen in den USA und skizziert eine »vernunftgestützte« Spiritualität der Zukunft, die auch an Erkenntnissen der Wissenschaft orientiert sein sollte.
Zu Ansgar Martins: ›Adorno und die Kabbala‹
Als ich Ende der 1970er Jahre an der Freien Universität Berlin zu studieren begann, war Theodor W. Adorno in aller Munde – nicht nur in Philosophie und Soziologie, sondern ebenso in Germanistik und Musikwissenschaft. Seine scharfsinnigen Gesellschaftsanalysen sowie seine subtilen Studien zu Literatur und Musik begeisterten viele, auch mich, der ich 1985 über seine Kunsttheorie promovierte.
Mit Paul Celan in der Kabbalisten-Stadt Safed
Eines der spannendsten Fotos, das ich bei den Recherchen zu meinem Film ›Gottes zerstreute Funken. Jüdische Mystik bei Paul Celan‹ sah, zeigte den Dichter vor den Gräbern großer Kabbalagelehrter in Safed. Celan hatte 1969 während seiner Israelreise einen Abstecher in dieses spirituelle Zentrum gemacht, um das Grab des Mystikers Isaac Luria (1534–1572) zu besuchen, der im 16. Jahrhundert eine völlig neue Deutung der Kabbala vorgelegt hatte. Auch mich hatte Lurias Interpretation schon lange fasziniert, und erst die Entdeckung, dass Celan davon beeinflusst war, führte zu der Entscheidung, einen Film über diesen von Tragik umwölkten Dichter zu riskieren. Ich hatte die Lurianische Kabbala über die Kunst von Anselm Kiefer kennengelernt, zuerst über geheimnisvolle Bildtitel wie ›Bruch der Gefäße‹, ›Zimzum‹, ›Schechina‹ und ›Sefiroth‹. Dann durch die Kabbalastudien von Gershom Scholem, die mir diese Begriffe verständlicher machten, mit denen Luria versucht hatte, die brutale Vertreibung der Juden aus Spanien mit seinem Gottesbegriff zusammenzudenken. Gott, so seine Hypothese, muss sich bereits am Anfang der Schöpfung zurückgezogen haben, um die freie Entwicklung der Welt nicht zu gefährden (Zimzum). Seine wenigen Lichtstrahlen waren aber immer noch so mächtig, dass die ersten Seinsformen (»Gefäße«) zerbrachen und ihre Scherben von nun an durch das All schwirrten (Shevirat Ha kelim). An ihren Rändern aber kleben noch göttliche Lichtfunken, die der spirituell Suchende einsammeln und neu zusammensetzen kann, im Akt des Tikkun, was übersetzt »Reparatur der Welt« heißt.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Zu Harald Meller & Kai Michel: ›Das Rätsel der Schamanin‹
Im Jahre 2002 half der deutsche Archäologe Harald Meller mit, die berühmte »Himmelsscheibe von Nebra« zu sichern, die als erste Himmelsdarstellung der Welt gilt, und 2008 grub sein Kollege Nicholas Conard in Höhlen der Schwäbischen Alb die frühesten Musikinstrumente und Tierskulpturen der Menschheit aus. Nun hat Deutschland wieder eine archäologische Weltsensation, an deren Erforschung erneut Harald Meller beteiligt ist, der darüber zusammen mit dem Historiker Kai Michel ein faszinierendes Buch geschrieben hat. ›Das Rätsel der Schamanin‹ erzählt spannend wie ein Krimi und zugleich spirituell berührend die Geschichte einer ca. 35-jährigen Frau aus dem Mesolithikum, die mit einem kleinen Kind bereits 1934 in einem Grab im Kurpark von Bad Dürrenberg entdeckt wurde. Doch erst neuere Untersuchungen legten die Vermutung nahe, dass es sich um eine vor 9.000 Jahren verstorbene »Schamanin« gehandelt haben könnte, was jetzt durch wiederholte Grabungen und genauere Analysen am Skelett endgültig bestätigt werden konnte. Eine Weltsensation ist das insofern, als es sich um den ersten wissenschaftlichen Nachweis von Schamanismus im prähistorischen Europa handelt, den man zwar schon anhand von anderen Funden angenommen hatte, aber bisher nicht zweifelsfrei belegen konnte. Nun aber sind verschiedene Analyseergebnisse zusammengekommen, die das Bild komplett und schlüssig machen.
Zum Film ›Becoming Animal‹ von Emma Davie und Peter Mettler