Artikel von Wolfgang G. Vögele
Anmerkungen zu einem Deutungsproblem
Rudolf Steiners durchaus ambivalente Haltung gegenüber Ernst Haeckel und dessen Monismus spielte in der steinerkritischen Literatur seit jeher eine große Rolle. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Steiner vorgeworfen, er habe durch zahlreiche Textänderungen in den Neuauflagen seiner Schriften seine ideologische Kehrtwende vom monistischen Materialisten zum dualistischen Esoteriker nachträglich verschleiern wollen. Vertreter des ›Deutschen Monistenbundes‹ (DMB) glaubten gar beweisen zu können, dass sein Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft nur aus einer finanziellen Notlage heraus erfolgt sei. Der folgende Aufsatz möchte einige noch immer kursierende Falschbehauptungen richtigstellen. Wenn der Haeckel- und Steinerbiograph Johannes Hemleben feststellt: »Haeckel hat sich [die] Schützenhilfe Steiners gerne gefallen lassen, bis er erfuhr, daß derselbe ›Theosoph geworden‹ sei (1902)«, so ist das korrekturbedürftig. Das vermeintliche Haeckelzitat (»Theosoph geworden«) ist eine Erfindung des Haeckelschülers Heinrich Schmidt, und die Datierung von Haeckels »Rückzug« muss bezweifelt werden, gehörte doch Steiner noch 1903 zu den Empfängern eines Widmungsexemplars der Volksausgabe von Haeckels ›Die Welträtsel‹.
Zur Erinnerung an Siegfried Nacht (1878–1956)
Unter den Hörern Rudolf Steiners an der Berliner Arbeiterbildungsschule befanden sich auch Anarchisten, von denen einige unter polizeilicher Beobachtung standen. Dies betraf vor allem Siegfried Nacht (1878–1956), der wenig später steckbrieflich als Terrorist europaweit gesucht wurde. In seinen revolutionären Schriften (die auch unter den Pseudonymen Arnold Roller und Stephen Naft erschienen) plädierte er für den Generalstreik als Mittel des gesellschaftlichen Wandels. Langfristiges Ziel war die soziale Revolution mit selbstverwalteten Arbeiterkollektiven. Nacht gilt bis heute als klassischer Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Steiner hat ihn in einem Vortrag 1918 namentlich erwähnt und während der Dreigliederungszeit auch zum Syndikalismus Stellung bezogen.