Artikel von Wolfgang G. Vögele
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele « anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe, oderden US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht. Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Anmerkungen zu einem Deutungsproblem
Rudolf Steiners durchaus ambivalente Haltung gegenüber Ernst Haeckel und dessen Monismus spielte in der steinerkritischen Literatur seit jeher eine große Rolle. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Steiner vorgeworfen, er habe durch zahlreiche Textänderungen in den Neuauflagen seiner Schriften seine ideologische Kehrtwende vom monistischen Materialisten zum dualistischen Esoteriker nachträglich verschleiern wollen. Vertreter des ›Deutschen Monistenbundes‹ (DMB) glaubten gar beweisen zu können, dass sein Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft nur aus einer finanziellen Notlage heraus erfolgt sei. Der folgende Aufsatz möchte einige noch immer kursierende Falschbehauptungen richtigstellen. Wenn der Haeckel- und Steinerbiograph Johannes Hemleben feststellt: »Haeckel hat sich [die] Schützenhilfe Steiners gerne gefallen lassen, bis er erfuhr, daß derselbe ›Theosoph geworden‹ sei (1902)«, so ist das korrekturbedürftig. Das vermeintliche Haeckelzitat (»Theosoph geworden«) ist eine Erfindung des Haeckelschülers Heinrich Schmidt, und die Datierung von Haeckels »Rückzug« muss bezweifelt werden, gehörte doch Steiner noch 1903 zu den Empfängern eines Widmungsexemplars der Volksausgabe von Haeckels ›Die Welträtsel‹.
Zur Erinnerung an Paul Klein (1871–1957)
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Christengemeinschaft sollte auch an Paul Klein erinnert werden, der als einflussreicher evangelischer Stadtpfarrer in Mannheim und persönlicher Schüler Rudolf Steiners der jungen Gemeinschaft die Wege ebnete. Zugleich sei einiges aus seinem Wirken für die anthroposophische Gesamtbewegung mitgeteilt, wobei hier nur einzelne Aspekte und Ereignisse aus seinem Leben berührt werden können.
Zur Erinnerung an Siegfried Nacht (1878–1956)
Unter den Hörern Rudolf Steiners an der Berliner Arbeiterbildungsschule befanden sich auch Anarchisten, von denen einige unter polizeilicher Beobachtung standen. Dies betraf vor allem Siegfried Nacht (1878–1956), der wenig später steckbrieflich als Terrorist europaweit gesucht wurde. In seinen revolutionären Schriften (die auch unter den Pseudonymen Arnold Roller und Stephen Naft erschienen) plädierte er für den Generalstreik als Mittel des gesellschaftlichen Wandels. Langfristiges Ziel war die soziale Revolution mit selbstverwalteten Arbeiterkollektiven. Nacht gilt bis heute als klassischer Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Steiner hat ihn in einem Vortrag 1918 namentlich erwähnt und während der Dreigliederungszeit auch zum Syndikalismus Stellung bezogen.