Artikel von Wolfgang G. Vögele
Richard Strauss, Rudolf Steiner und die ›Gralshüter‹ am Goetheanum
Mit seinen Opern, sinfonischen Dichtungen und Liedern hat sich Richard Strauss (1864-1949), dessen 150. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, schon in jungen Jahren einen festen Platz in den internationalen Spielplänen erobert. Allerdings blieb sein Ruhm nicht unbestritten: Bis heute wird seiner Musik mangelnder Tiefgang, ihm selbst raffinierte Geschäftstüchtigkeit und politischer Opportunismus vorgeworfen. Die folgende Betrachtung, die musikalisch-ästhetische und politische Fragen weitgehend ausklammert, soll die freigeistige Welt- und Lebensanschauung des gebürtigen Münchners beleuchten, deren Fundament während seiner Weimarer Kapellmeisterjahre gelegt wurde. – Strauss befasst sich zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr nicht nur intensiv mit Goethe, sondern auch mit den radikal individualistischen Anschauungen Nietzsches und Max Stirners. Er befreundet sich mit John Henry Mackay, dem anarchistischen Schriftsteller und ersten Stirnerbiografen, von dem er einige Gedichte vertont. Spuren dieser radikalen Anschauungen finden sich im selbstverfassten Text seiner ersten Oper Guntram. Während diese Fakten in der Strauss-Literatur präsent sind, besteht hinsichtlich seiner Begegnung mit dem Goetheforscher und gefragten Nietzschekenner Rudolf Steiner, der damals in Weimar seine Philosophie der Freiheit vollendete, noch Forschungsbedarf.
Zugewandtheit in der Horizontalen
Immer schon Mystiker gewesen
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele « anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe, oderden US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht. Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Anmerkungen zu einem Deutungsproblem
Rudolf Steiners durchaus ambivalente Haltung gegenüber Ernst Haeckel und dessen Monismus spielte in der steinerkritischen Literatur seit jeher eine große Rolle. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Steiner vorgeworfen, er habe durch zahlreiche Textänderungen in den Neuauflagen seiner Schriften seine ideologische Kehrtwende vom monistischen Materialisten zum dualistischen Esoteriker nachträglich verschleiern wollen. Vertreter des ›Deutschen Monistenbundes‹ (DMB) glaubten gar beweisen zu können, dass sein Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft nur aus einer finanziellen Notlage heraus erfolgt sei. Der folgende Aufsatz möchte einige noch immer kursierende Falschbehauptungen richtigstellen. Wenn der Haeckel- und Steinerbiograph Johannes Hemleben feststellt: »Haeckel hat sich [die] Schützenhilfe Steiners gerne gefallen lassen, bis er erfuhr, daß derselbe ›Theosoph geworden‹ sei (1902)«, so ist das korrekturbedürftig. Das vermeintliche Haeckelzitat (»Theosoph geworden«) ist eine Erfindung des Haeckelschülers Heinrich Schmidt, und die Datierung von Haeckels »Rückzug« muss bezweifelt werden, gehörte doch Steiner noch 1903 zu den Empfängern eines Widmungsexemplars der Volksausgabe von Haeckels ›Die Welträtsel‹.
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Wie Ludwig Thoma gegen Rudolf Steiner hetzte
Zur Erinnerung an Paul Klein (1871–1957)
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Christengemeinschaft sollte auch an Paul Klein erinnert werden, der als einflussreicher evangelischer Stadtpfarrer in Mannheim und persönlicher Schüler Rudolf Steiners der jungen Gemeinschaft die Wege ebnete. Zugleich sei einiges aus seinem Wirken für die anthroposophische Gesamtbewegung mitgeteilt, wobei hier nur einzelne Aspekte und Ereignisse aus seinem Leben berührt werden können.
Rudolf Steiner und Mynona
Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedlaender (1871–1946), der unter dem Pseudonym »Mynona« (Umkehrung von »anonym«) bekannt wurde, gehörte zu den zahlreichen Intellektuellen, die von Rudolf Steiner wussten und sich über ihn äußerten. Doch im Gegensatz zu den satirischen Darstellungen aus der Feder eines Kurt Tucholsky oder Gustav Meyrink blieben die Grotesken weitgehend unbeachtet, in denen Mynona den Schöpfer der Anthroposophie ironisiert hat. Da Mynona in der anthroposophischenLiteratur bisher nicht rezipiert wurde, soll im Folgenden sein Verhältnis zu Rudolf Steiner erörtert werden. Dazu gehört auch, dass Friedlaender im Jahre 1903 vergeblich versuchte, einen Artikel in Steiners Zeitschrift ›Luzifer‹ unterzubringen.
Zur Erinnerung an Siegfried Nacht (1878–1956)
Unter den Hörern Rudolf Steiners an der Berliner Arbeiterbildungsschule befanden sich auch Anarchisten, von denen einige unter polizeilicher Beobachtung standen. Dies betraf vor allem Siegfried Nacht (1878–1956), der wenig später steckbrieflich als Terrorist europaweit gesucht wurde. In seinen revolutionären Schriften (die auch unter den Pseudonymen Arnold Roller und Stephen Naft erschienen) plädierte er für den Generalstreik als Mittel des gesellschaftlichen Wandels. Langfristiges Ziel war die soziale Revolution mit selbstverwalteten Arbeiterkollektiven. Nacht gilt bis heute als klassischer Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Steiner hat ihn in einem Vortrag 1918 namentlich erwähnt und während der Dreigliederungszeit auch zum Syndikalismus Stellung bezogen.
Ein norwegischer Gymnasiast interviewt Rudolf Steiner
In seinen Ansprachen für die Jugend wies Rudolf Steiner mehrfach darauf hin, dass diese seit der Jahrhundertwende unbewusst den Beginn einer neuen Epoche fühle. »Da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwicklung der Menschheit«, sagte er dazu am 20. Juli 1924. Als nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt Angehörige der Jugendbewegung zur Anthroposophie fanden, hielt er das für einen Glücksfall, denn das gemeinsame Ziel beider Bewegungen war die fundamentale Erneuerung aller Lebensbereiche. Das unbewusste Jugenderlebnis sollte Steiner zufolge durch das Zusammenwachsen mit der Anthroposophie zu einem bewussten werden. 1924 wurde am Goetheanum eine ›Sektion für das Geistesstreben der Jugend‹ gegründet. Auch Kirchen und Parteien, die der Anthroposophie zum Teil ablehnend gegenüberstanden, versuchten damals, die Jugend in eigenen Bünden zusammenzuschließen.
Zu Rudolf Steiner: ›Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902-1913‹ (GA 250)*
Kaum eine weltanschauliche Organisation war so häufig von Skandalen und Abspaltungen betroffen wie die 1875 gegründete ›Theosophical Society‹, deren Hauptquartier sich im indischen Adyar bei Madras befindet. Gleichwohl übte die Lehre ihrer Gründerin Helena P. Blavatsky, besonders durch ihr Hauptwerk ›The Secret Doctrine‹ (1888), einen tiefen Einfluss auf die europäische Literatur- und Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts aus. Asiatische Weisheitslehren und zahlreiche Begriffe, die bis heute den Esoterik-Markt beherrschen, wie Aura, Chakren, Karma oder Reinkarnation, fanden durch die Theosophie Eingang in westliche Länder. Die ›Theosophical Society‹ gliedert sich in Landesgesellschaften (Sektionen), deren deutsche 1902 in Berlin gegründet wurde. Ihr erster Generalsekretär war bis 1913 Rudolf Steiner.
Manfred Kyber und sein Rückzug aus der anthroposophischen Bewegung
In dieser Zeitschrift erscheinen regelmäßig Gedichte des baltendeutschen Schriftstellers Manfred Kyber (1880–1933), auch Würdigungen seines Lebenswerkes wurden hier immer wieder veröffentlicht. Bekannt ist er als Verfasser von Tiergeschichten und Märchen, denen eine esoterische Weltsicht zugrunde liegt. 1911 lernte Kyber in Berlin Rudolf Steiner kennen und wurde bald darauf Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Weil er diese immer mehr als sektiererisch empfand, distanzierte er sich 1923 von ihr, trat aber nicht aus. Die Beweggründe seines Rückzugs gehen aus einem seiner Bücher hervor, und in krasser Deutlichkeit legte er sie in einem Brief an Steiner dar. Wenn im Folgenden aus diesem Brief zitiert wird, dann vor allem aus zwei Gründen: Erstens steht er exemplarisch für die Haltung einer ganzen Reihe unabhängiger Anthroposophen, die öffentlich bekannt und anerkannt waren, sich aber nach einer Zeit der Mitwirkung von der organisierten Anthroposophie fernhielten; und zweitens, weil manche von Kybers Kritikpunkten keineswegs überholt sind. Eine Antwort Steiners ist nicht bekannt. Hält man sich vor Augen, wie oft Steiner selbst manches Verhalten seiner »lieben Freunde« missbilligte, darf man aber annehmen, dass er Kyber in vielem Recht gegeben hätte.
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Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv, Nr. 12 / Oktober 2021
Rudolf Steiner und Pazifismus
Während des Ersten Weltkriegs kritisierte Rudolf Steiner mit deutlichen Worten die Parolen mancher Friedensfreunde. Es gebe verblendete Menschen - »sie nennen sich oftmals auch Pazifisten« - die scheinbar höchste Ideale verkünden und »einen dauerhaften, ganz vollkommenen Frieden« anstrebten. Allerdings mit militärischen Mitteln. Wer sage, er »kämpfe für den Frieden und müsse deshalb Krieg führen, Krieg bis zur Vernichtung des Gegners, um Frieden zu haben«, der rede nicht nur Unsinn, sondern lüge. Bei anderer Gelegenheit wies Steiner auf einen Ausspruch des französischen Germanistikprofessors Henri Lichtenberger (1864-1941) hin, der meinte, es schade nichts, wenn der Krieg möglichst lange fortgesetzt werde, wenn nur am Ende ein dauerhafter Friede zustande komme. Die vielen Todesopfer hielt Lichtenberger für unwesentlich.Seit dem Ukrainekrieg 2022 scheint dieser »militante Pazifismus« wieder auf dem Vormarsch zu sein. Selbst die linksgrüne ›tageszeitung‹ (taz) schreibt: »Frieden gibt es erst, wenn Russland militärisch besiegt ist.« Die ehemals mächtige Friedensbewegung hat im Bundestag keine nennenswerte Lobby mehr, keine feste politische Heimat. Wer an diplomatische Konfliktlösungen glaubt, wird als naiv verspottet. Denn dem »Bösen« (in diesem Fall: dem russischen Aggressor) dürfe nicht tatenlos zugesehen werden. Auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung wird der Krieg kontrovers diskutiert.
Wie Nietzsches Schwester sich an Rudolf Steiner erinnerte
Der elsässische Schriftsteller Friedrich Lienhard (1865–1929), der eine Zeit lang der anthroposophischen Bewegung nahestand, lebte seit 1916 in Weimar, wo er auch Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935), kennenlernte. Kurz nach Rudolf Steiners Tod ließ er ihr Teile aus dessen Autobiografie zukommen, die bis 5. April 1925 in Fortsetzungen in der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹ erschienen war. Das unvollendete Werk erschien erst im September in Buchform. Wie Steiner rückblickend seine Beziehung zum Nietzsche-Archiv sah, dürfte Förster-Nietzsche besonders interessiert haben.
Zu Markus Osterrieders Studie über den Ersten Weltkrieg