Zur Ausstellung ›Elementarteile‹ im Sprengel Museum Hannover
Was ist Kunst? Wie entsteht sie? Woraus besteht sie? Worauf bezieht sie sich? Wovon erzählt sie? – Diese Ausstellung wirft unzählige Fragen auf und gebiert mit jedem Versuch einer Antwort doch nur neue Fragen. Der Titel ›Elementarteile‹ allerdings könnte zu einer falschen Antwort verleiten – als ob Kunst aus der Summe der Teile erklärbar wäre. Das ist sie eben nicht. Es gehört vielmehr zu ihrem Wesen, dass künstlerische Werke als Ganzes wirken und sich nicht durch Zerpflücken erklären lassen.
Stanislas Stückgold in der Galerie Uwe Opper bei Kronberg
Betritt man die Galerie von Uwe Opper in den historischen Räumen der (nie geweihten) Streitkirche in dem Städtchen Kronberg am Taunusrand, so ist der Eindruck überwältigend: An roten Wänden hängen stark farbige, teils großformatige Bilder mit menschlichen Figuren, Blumen oder geheimnisvollen Arabesken auf blauem Grund. Sie wirken mit ihren klaren Farben und einfachen Formen monumental und zart zugleich, sind Ausdruck von Sinnlichkeit ebenso wie von Askese, von Sehnsucht wie von Erfüllung, und zeugen von einer tiefen jüdisch-christlichen Religiosität. Wie aus der Zeit gefallen und doch nicht unzeitgemäß.
Rüdiger Sünner: ›Wildes Denken – Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt‹
Wer an einer Universität studiert, muss lernen, logisch nachvollziehbar zu denken, und sich Methoden aneignen, die reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen. Bei diesem Vorgehen bleiben aber weite Bereiche der menschlichen Fähigkeiten unberücksichtigt und ungenutzt. Alles Künstlerische, Imaginative, Bildhafte oder Erzählerische würde nur stören und muss deshalb, wie Rüdiger Sünner als Student empfand, »zusammen mit dem Mantel an der Garderobe abgegeben werden«. Im der Freien Universität Berlin in Dahlem benachbarten Ethnologischen Museum, das er zwischendurch aufsuchte, fand er eine andere Welt vor: Die Masken der nordwestamerikanischen Kwakiutl-Indianer, die steinernen, präkolumbianischen Götterbilder Südamerikas oder die hölzernen Statuen Westafrikas sind perfekt gearbeitete Kunstwerke. Sie scheinen von alten Mythen und Geschichten zu berichten und sind keinesfalls mit rein logisch-abstrakten Mitteln vollständig zu ergründen. Sünner erlebte beide Welten jahrelang als völlig voneinander getrennt. Erst das Buch ›Das wilde Denken‹ (1962) des berühmten französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zeigte ihm eine Brücke, die diese Welten miteinander verbinden konnte. Lévi-Strauss rehabilitiert das den Mythen, Erzählungen und figürlichen Darstellungen solcher frühen Kulturen zugrunde liegende bildhafte, assoziative und vielschichtige Denken und beschreibt es nicht als primitiv und dem logischen Denken nur vorausgehend, sondern als in dem jeweiligen Kulturzusammenhang vollkommen berechtigt. Und es ist keineswegs vergangen: »Das Denken im wilden Zustand blüht in jedem menschlichen Geist – zeitgenössisch oder alt, nah oder fern.« (S. 227) In jahrzehntelanger Beschäftigung mit indigenen Kulturen auf mehreren Kontinenten vertiefte Sünner sich in den Prozess des »wilden Denkens«, den er in seinem neuen Buch und seinem gleichnamigen Film in großer Breite vorstellt.
Zu ›Ernst Barlach zum 150. Geburtstag. Eine Retrospektive‹ im Albertinum zu Dresden
Zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs (1870–1938) wird in enger Zusammenarbeit des Dresdener Albertinums mit dem ›Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma‹ in Hamburg und der ›Ernst Barlach Stiftung‹ Güstrow eine repräsentative Werkschau mit rund 230 Exponaten gezeigt. Das Dresdener Kupferstichkabinett selbst kann auf einen umfangreichen Bestand an Lithografien und Holzschnitten des Künstlers zurückgreifen. Die Ausstellung umfasst dadurch die verschiedensten Genres: Holzskulpturen, Bronzeplastiken, Druckgrafiken, Zeichnungen, Skizzenbücher, einige Gemälde und Kunsthandwerk.
Zur Verleihung des Büchner-Preises 2020 an Elke Erb
Ich lese: »Wenn der Mensch / ans letzte Ende seines Weges kommt, / blickt er sich um nach der Erde / und, erfüllt von allem Menschlichen, / sagt er:/ Einmal lebten hier Vögel, / die Menschen waren.« An anderer Stelle lese ich: »Ich weiß, dass ich sterben werde beim Himmelsrot! / Bei welchem, mit welchem – das ist nicht auf Wunsch zu entscheiden. / Ach, käm meine Fackel löschen doch zweimal der Tod, / Beim Morgenrot und beim Abendrot ging ich mit beiden!« Die Verse sind nicht von Elke Erb – und ein bisschen doch. Das erste Zitat stammt von dem Weißrussen Ales Rasanaŭ (*1947), das zweite von der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941). Elke Erb (*1938) hat die Verse ins Deutsche übertragen oder besser: nachgedichtet. Wieviel Elke Erb in den deutschsprachigen Zeilen steckt, kann ich nicht beurteilen, da ich die Originalsprache nicht lesen kann – eine Verwandtschaft empfinde ich jedoch, besonders mit Rasanaus Kurzgedichten, die er »Punktierungen« nennt. Auch Elke Erb schreibt teilweise sehr knappe Gedichte – eines der kürzesten lautet: »Das Aus hat (wie / der Laut sagt) // keinen Garten.«3 Elke Erb hat zahllose Übersetzungen geschrieben, die Liste ist imponierend lang – vielleicht, weil das auch eine Ausweichmöglichkeit in DDR-Zeiten war? Wie viele Gedichte mag sie selbst seit etwa 1968 bis heute geschrieben haben?
Johannes Rudbeck (*1581 in Ormästa/Örebro – †1646 in Västerås)
Der Mälarsee verbindet Stockholm mit der 80 km entfernten, mehr als tausendjährigen Stadt Västerås. Mit einer schwedischen Reisegruppe besichtige ich die 1271 erbaute riesige Domkirche, deren Turmspitze 100 m hoch in den Himmel strebt. 1417 erhielt sie mit rotem und weißem Backstein ihr heutiges Aussehen. Der Innenraum wirkt intim. Besonders fallen das große Kruzifix auf, das schon 700 Jahre auf dem Lettner steht, der Sarkophag von König Erik XIV. (1533–1577) – einem Sohn Gustav I. Wasas, der von seinen Halbbrüdern Johann und Karl entmachtet wurde – und die drei farbigen Glasfenster der Künstlerin Randi Fisher (1920–1997) aus dem Jahr 1961 ›De tre stegen‹ (Die drei Stufen), deren Licht eine fast überirdische Stimmung hervorruft. Doch mahnt die Reiseleiterin zur Eile, und beim Heraustreten auf den Domvorplatz erst bemerke ich die Bronzeskulptur einer offenbar bedeutenden Persönlichkeit. Darunter steht der Name »Johannes Rudbeck«. Ein kleiner Engel auf seiner Schulter spricht zu ihm und weist auf die Sonne. Mit halbem Blick sehe ich noch die langgestreckten Gebäude hinter dem Dom und den Biskops gård, den Bischofshof. Der Bus wartet schon, und so bleibt nur die Frage: Was habe ich da eigentlich gesehen?
Vor 100 Jahren erschienen Manfred Kybers ›Märchen‹
»… und auf waldwilden Wegen / das Märchen lautlos geht: // Blauaugen, kinderreine, / Blauaugen, lieb und fremd, / aus Spinnweb und Mondenscheine / ein Königshemd. // Ihr Haar von Gold gesponnen, / bis auf die Hüften rollt, / wie tausend sinkender Sonnen / verträumtes Dämmergold. // Blauaugen, kinderweiche, / sie tragen ein heilig Mal / aus heiligem Rätselreiche: / es war einmal …« Es muss ein beglückender Augenblick für den jungen Lyriker gewesen sein: Sein erstes Buch war gedruckt! Carl Manfred Kyber: ›Gedichte‹ (1902) hieß es, verlegt im Verlag von Hermann Seemann Nachfolger in Leipzig. Das oben zitierte Eingangsgedicht war ihm so wichtig, dass er es auch in seine zweite Gedichteausgabe ›Der Schmied vom Eiland‹ (1908) übernahm.
Wolfram von Eschenbach (* um 1170; † um 1220) und sein ›Parzival‹
In das Jahr 2020 fallen der mutmaßlich 850. Geburtstag und der 800. Todestag des großen höfischen Dichters Wolfram von Eschenbach. Sehr wahrscheinlich wurde er im fränkischen Ober-Eschenbach geboren (1917 in Wolframs-Eschenbach umbenannt), und im Eschenbacher Liebfrauenmünster wurde er einst begraben. Außer zu Leben und Werk des Dichters soll im Folgenden auf zwei Neuerscheinungen eingegangen werden: das neue Prosabuch ›Parzival‹ von Richard Baumann und auf das »Kyot-Problem« in dem Buch ›Parzifal‹ von Jochen Bertheau.
Zur Ausstellung ›Fantastische Frauen‹ in der Frankfurter Schirn
Wäre ich unmittelbar nach dem Besuch der Ausstellung nach meinen Empfindungen gefragt worden, hätte ich es schwer gehabt, die richtigen Worte zu finden. Offenbar haben mich die vielen Bilder, die bei den Künstlerinnen aus dem Unterbewussten emporgestiegen sind und die vielleicht ein Tor zur geistigen Welt aufgestoßen haben, sehr berührt und auch bei mir selbst Unbewusstes aufscheinen lassen. Ich war verwirrt – nein, das trifft es nicht ganz, es klingt zu negativ. »Gefesselt« wäre richtiger, aber auch das könnte negativ, als einengend verstanden werden. Doch ist das Gegenteil der Fall: Wer sich darauf einlässt, in Ruhe die ausgebreitete Fülle der Bilder zu betrachten, mit Interesse im Sinne des inneren Dabeiseins, wer sich der Fantasie der Künstlerinnen und der eigenen öffnet, dabei ab und zu eine Pause zum Durchatmen einlegt – die oder der wird zwar angestrengt sein, aber dennoch ein Gefühl der Freiheit empfinden. Die ganze Ausstellung wirkt wie vom Atem der Freiheit durchweht.
in zwei Bildern von Giotto di Bondone
»Das Was bedenke, mehr bedenke Wie« – dieses Motto aus Goethes ›Faust‹ kann auch für die Kunstbetrachtung gelten. Mit dem »Was« des Bildes, seiner gegenständlichen Ausdeutung, beschäftigt sich die Ikonografie und Ikonologie, die Erwin Panofsky (1892–1968) begründete. Doch muss jede Interpretationsmethode, welche die spezifische Gestaltung des Werkes außer Acht lässt, rein spekulativ bleiben. Ein Kunsthistoriker, der sein Augenmerk auf das »Wie« lenkte, war Max Imdahl (1925–1988). Die Ansätze von Panofsky und von Imdahl lassen sich an zwei Fresken erläutern, die Giotto zu Beginn des 14. Jahrhunderts schuf und die in der Scrovegni-Kapelle in Padua übereinander angeordnet sind: die ›Darbringung Jesu im Tempel‹ und die ›Gefangennahme Christi‹.
Zum 100. Geburtstag Paul Celans
Er kam als Verfolgter zu uns, auf lebensgefährlichem Fluchtweg, nach Wien, 1947. Von da nach Paris. Deutschen Boden hat er nur besuchsweise betreten, immer auch mit dem unguten Gefühl, Personen zu begegnen, die in die Verbrechen des Dritten Reichs verstrickt waren. Er kam aus dem Osten, aus der Bukowina, das die Österreicher Buchenland nannten, genau aus Czernowitz, dem heute zur Ukraine gehörenden Czernowzy. Er ent-kam: ein Jude. Dass er überlebte, während seine Eltern dem Holocaust zum Opfer fielen, hat sich ihm »schwarz« als Schuld und »Erinnerungswunde« eingebrannt. Aus dieser »phylakterienfarbenen« Düsternis und Trauer ist sein unvergleichbares poetisches Werk erwachsen, dessen Anfänge klangvoll, farbig, langversig, oft auch gereimt, surrealistisch aufwogten, eine »Tonkunst«, die das Publikum verzauberte, ihm selbst aber immer verdächtiger wurde: »EIN KNIRSCHEN von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum. / Aus Helmen schäumt dir der Sommer. Der schwärzliche Kuckuck / malt mit demantenem Spornsein Bild an die Tore des Himmels.«
Theater im Nichttheater
Der Begriff »Theater im Nichttheater« stammt von Stefan Hasler, dem Intendanten der Goetheanum- Bühne. »Wo sind wir hier eigentlich?« lautete seine Begrü.ungsfrage an das Publikum. In einer Hochschule für Geisteswissenschaft und zugleich in einem Theatersaal. Eben das, was sich normalerweise nicht am selben Ort und zur gleichen Zeit miteinander vereinbaren lässt, stellt Anthroposophie dar. Es ist nicht ihre Ideologie, das Postulat ihrer Habe, sondern ihr tatsächliches Sein, das darin zum Ausdruck kommt. Es liegt allein im Bereich der menschlichen Phantasie, Wissenschaft und Kunst als die beiden untrennbaren Seiten unseres menschlichen Wesens aufzufassen. Diese auseinanderreißen zu wollen oder gar gegeneinander auszuspielen, ergibt eben das Weltbild, an dem wir leiden und das wir vorfinden als Schöpfung unserer Lebensart.
Das theosophische Fotoalbum Wilhelm von Hübbe-Schleidens
Fotoalben sind zumeist höchst persönliche Sammelstellen für Dokumente eines individuellen Lebensganges. Vom Reisebericht bis zur Familienchronik machen sie private – und oft auch mehr als nur private – Geschichte sichtbar. Das Rudolf Steiner Archiv beherbergt mehrere eigens angelegte Fotoalben mit thematischer oder personeller Orientierung, etwa solche mit historischen Aufnahmen vom Bau des ersten Goetheanums oder mit Bildern ehemaliger Mitarbeiter der Nachlassverwaltung. Ein ganz besonderes, schon als Objekt historisch wertvolles Exemplar ist ein 2009 an das Archiv gekommenes Fotoalbum aus dem Nachlass Wilhelm von Hübbe-Schleidens, einem der Pioniere der theosophischen Bewegung in Deutschland, das insgesamt über fünfzig Fotografien und Postkarten der bekanntesten Persönlichkeiten dieser Bewegung enthält, immer wieder mit handgeschriebenen Widmungen, etwa für den »lieben [theosophischen] Bruder« (dear brother) Hübbe-Schleiden versehen.
Freies Geistesleben in der DDR – Teil IV
Jutta Hecker wurde 1904 als jüngste Tochter von Max und Lili Hecker in Weimar geboren. Der Vater, seit 1900 Archivar am Goethe- und Schiller-Archiv, vermittelte ihr die Liebe zur Literatur. Von ihm wusste sie auch, dass Rudolf Steiner von 1890 bis 1897 im Archiv gearbeitet hatte. Sein Direktor Bernhard Suphan (1845–1911) beschwerte sich öfter, dass dieser kein Archivar im peniblem Sinne gewesen war. Steiners Werdegang aber erschien unglaublich: ›Theosophische Gesellschaft (Adyar Madras), die Deutsche Sektion, Generalsekretär: Dr. R. Steiner – Berlin‹, verzeichnete das Weimarer Adressbuch von 1904. Selbst in Weimar hatte sich ein Kreis gebildet! Diese Erzählungen genügten, in Jutta Hecker ein Vorurteil gegen die spätere Anthroposophie zu begründen.
Zum 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft am 9. November 2019 in Stuttgart
Am 9. November 2019 veranstaltete die Akanthos Akademie im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart das 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft zum Thema ›Von der Natur zur Geisterkenntnis – ein methodischer Vergleich zwischen Goetheanismus und Bildekräfteforschung‹. Durch die Beiträge von Laurens Bockemühl, Ulrike Wendt, Markus Buchmann und dem Verfasser sowie in Gesprächsgruppen und einer Podiumsdiskussion wurden etliche Gemeinsamkeiten, aber auch einige wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Forschungsmethoden deutlich. Weitere Fragen zu diesem Thema wurden in einer intensiven Nachbesprechung aufgegriffen.
Ein norwegischer Gymnasiast interviewt Rudolf Steiner
In seinen Ansprachen für die Jugend wies Rudolf Steiner mehrfach darauf hin, dass diese seit der Jahrhundertwende unbewusst den Beginn einer neuen Epoche fühle. »Da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwicklung der Menschheit«, sagte er dazu am 20. Juli 1924. Als nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt Angehörige der Jugendbewegung zur Anthroposophie fanden, hielt er das für einen Glücksfall, denn das gemeinsame Ziel beider Bewegungen war die fundamentale Erneuerung aller Lebensbereiche. Das unbewusste Jugenderlebnis sollte Steiner zufolge durch das Zusammenwachsen mit der Anthroposophie zu einem bewussten werden. 1924 wurde am Goetheanum eine ›Sektion für das Geistesstreben der Jugend‹ gegründet. Auch Kirchen und Parteien, die der Anthroposophie zum Teil ablehnend gegenüberstanden, versuchten damals, die Jugend in eigenen Bünden zusammenzuschließen.
Drei Kolloquien und eine Woche der Inspiration und Begegnung
Der Klimawandel – aufgrund seines schnellen Verlaufs auch »Klimabruch« genannt – ist ein brennendes Problem, nicht nur für die junge Generation, die sich ihrer Zukunft beraubt fühlt, sondern für jeden Menschen, den die Not der Erde und ihrer Bewohner aufrüttelt. Die naturwissenschaftlichen Fakten sind in vereinfachter Form in aller Munde, die »Feinde« identifiziert. Und so wird einerseits radikaler Verzicht gefordert, oder man hofft auf technische Lösungen, die das Desaster wieder richten sollen. In beiden Fällen bleiben viele ungelöste Probleme. Es ist spürbar, dass sich etwas verändern muss, aber wie kommt das in Gang? Und wo bleibt die geistig-spirituelle Perspektive?
Zu ›Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft‹ in der Bundeskunsthalle Bonn
Max Klinger (1857-1920), herausragender Vertreter des Symbolismus, zu seiner Zeit so hoch verehrt wie heftig angegriffen, wurde dieses Jahr anlässlich seines 100. Todestages vom Museum der bildenden Künste seiner Geburtsstadt Leipzig mit der umfangreichen Sonderausstellung ›Klinger und Europa‹ geehrt. Das Museum besitzt die weltweit größte Klinger-Sammlung. Dazu gehören neben Gemälden, Skulpturen sowie Entwurfsgipsen sämtliche grafischen Zyklen und ein umfangreicher Bestand an Zeichnungen, Druckplatten und zeitgenössischen Fotografien. Auch monumentale Werke befinden sich hier, so das Beethoven-Denkmal (1886-1902) und die wandfüllenden Gemälde ›Christus im Olymp‹ (1889-1897) und ›Die Kreuzigung Christi‹ (1888-1891). Das gleichzeitige Jubiläum des in Bonn geborenen Ludwig van Beethoven (1770-1820) veranlasste eine kluge Kooperation der Leipziger mit der Bundeskunsthalle. Internationale Leihgaben anderer zeitgenössischer Künstler erweitern die Sicht auf Klinger durch Vergleiche, darunter mehrere Werke von Auguste Rodin, Max Klimt oder die berühmte, 1895 geschaffene polychrome Büste der Sarah Bernhardt (ca. 1895) von Jean-Léon Gérôme aus dem Pariser Musée d’Orsay.
Zum Umgang mit einem problematischen Denkmal
In Heidenheim an der Brenz steht auf einer Anhöhe ein gemauerter Steinblock aus hellem Muschelkalk. Er bildet den Abschluss einer niedrigen Mauer, die einen Viertelkreisbogen um eine weit ausladende Buche schlägt. Der Steinblock trägt in reliefartigen Lettern den Namen eines Mannes, der von 1941 bis 1943 das deutsche Afrikakorps befehligte. Es wurden infolge dieses Feldzuges 220.000 Gefallene auf alliierter Seite gezählt sowie etwa 62.0000 auf der Deutschlands und Italiens. Zudem wurden etwa 20 Mio. Sprengminen in einem Küstenstreifen zwischen Libyen und Ägypten ausgelegt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind hier etwa 3.300 Menschen durch Minenexplosionen umgekommen. Mehr als 7.000 wurden verletzt.
Zur Tagung ›Die Wahrheit tun – Der Meditationsimpuls im Werk von Georg Kühlewind (1924-2006)‹ vom 9. bis 11. Oktober 2020 in Stuttgart
An den Impuls Georg Kühlewinds anzuknüpfen, ihn wieder bekannter zu machen und das Meditieren in seinem Sinne zu fördern, das war der Impuls der diesjährigen Meditationstagung der Akanthos Akademie, die im Oktober 2020 im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart stattfand. In diesem Sinne begrü.te Andreas Neider – der zusammen mit Laurence Godard die Veranstaltung organisiert hatte – die Teilnehmer. Die produktive eigene Beschäftigung mit Kühlewinds Werk könne die Brücke bilden zwischen Anthroposophie, akademischer Wissenschaft und der Bewusstseinsforschung im buddhistischen Umfeld und sei so eine mögliche Voraussetzung für ein Gespräch zwischen verschiedenen Weltanschauungen und Disziplinen.
Am 19. Mai 2020 wäre die anthroposophische Ärztin und Schriftstellerin Lore Deggeller 100 Jahre alt geworden. Sie verstarb im hohen Alter am 8. Mai 2016.
Zur Ausstellung ›Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa‹ im Landesmuseum Mainz
Eine Ausstellung, in der die Leihgaben aus so verschiedenen Orten wie dem Pariser Louvre und Limburg an der Lahn stammen, wäre mir bisher unvorstellbar gewesen. Nun ist eben dies im Landesmuseum Mainz in der Ausstellung: ›Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa‹ zu sehen. Es empfiehlt sich, ein Zeitfenster-Ticket im Voraus online zu erwerben. Die Herrschaftsbasis der großen Dynastien des Mittelalters war der Mittelrhein, eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrallandschaft Europas. Die Mainzer Ausstellung vermittelt eine einzigartige zeitlich-räumliche Perspektive auf dieses Gebiet. Sie behandelt Fragestellungen, die anhand ausgewählter Kaiserpersönlichkeiten aus den vier großen Herrschergeschlechtern – Karolinger, Ottonen, Salier und Staufer – durch fünf Jahrhunderte verfolgt werden, flankiert von sogenannten Korrespondenzstädten. Diese in der Umgebung gelegenen Städte veranstalten nicht nur Programme parallel zur Mainzer Ausstellung, sondern sind jeweils auch Originalschauplätze – hier finden sich Schlösser, Dome, Burgen und andere architektonische Zeugnisse in großer Zahl.
Zur Ausstellung ›Max Beckmann. weiblich-männlich‹ in der Hamburger Kunsthalle
Oft sind es Kleinigkeiten, die bei einem Kunstwerk viel aussagen. Es empfiehlt sich, genau hinzuschauen, mit einem zweiten und dritten Blick dem Werk noch näher zu kommen, vielleicht gefördert von hilfreichen Hintergrundinformationen. Das wurde mir einmal mehr bei dieser Ausstellung klar, besonders an einem Beispiel: dem ›Bildnis Ludwig Berger‹ (Abb. 1), das Max Beckmann (1884-1950) im Jahre 1945 geschaffen hat. Auf den ersten Blick scheint das Ölgemälde zu der üblichen Vorstellung zu passen, die sich zu Beckmann herausgebildet hat: betont männlich, tatmenschenhaft. Der berühmte Theater- und Filmregisseur pflegte im Amsterdamer Exil engen freundschaftlichen Kontakt zum Ehepaar Beckmann. Berger hatte das Porträt selbst veranlasst, aber es gefiel ihm nicht. Warum? Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Berger in der rechten Hand eine Blume hält, mit der er offenbar sanft über den linken Handrücken streift. Die Beigabe von Blumen ist in Beckmanns Porträts sonst Frauen vorbehalten. Bei Berger ist es ausgerechnet eine Lotusblüte, Symbol der Fruchtbarkeit, der Weisheit und spirituellen Erleuchtung – und des göttlichen wie menschlichen Hermaphroditen (laut Helena Petrovna Blavatskys ›Geheimlehre‹, die der Katalog auf S. 121f. zitiert). Berger war (verdeckt) homosexuell und hat die weiblich anmutende Geste vielleicht als Anspielung darauf empfunden. Dass Beckmann davon wusste, ist aber nicht nachweisbar; vielleicht wollte er nur auf den feinen Kunstsinn des Freundes anspielen. Die Gestaltung der Hände spricht auch dafür. Als Berger Beckmann fragte, ob er sich mit der Blume über ihn habe lustig machen wollen, antwortete der: »Nee-nee ... So SIND Sie!« (Zitiert im Katalog auf S. 122)
Zum 50. Todestag von Nelly Sachs (1891 – 1970) und zum Andenken an Kurt Kehrwieder (1928 – 2020)
Der vorliegende Essay ist zum einen ein Nachruf auf den am 25. Februar gestorbenen Kurt Kehrwieder, der dem Werk von Nelly Sachs auf ungewöhnliche Weise gedient hat. Zum anderen mag er ein Aufruf sein, diese – wie es Kehrwieder ein Anliegen war – nicht nur als eine Dichterin des jüdischen Schicksals im letzten Jahrhundert zu sehen, sondern sie auch als eine tief Eingeweihte in unser Menschheits-Schicksal lesen zu lernen, welche die »lebendig flutende Bilderwelt des ätherischen Raumes bewegen und […] in das Gewand der Erdensprache hüllen« konnte.
August Macke zu Pandemie-Zeiten im Museum Wiesbaden
August Macke, am 3. Januar 1887 geboren, war in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmekünstler, der zu Unrecht oft im Schatten von Franz Marc, Wassily Kandinsky oder Paul Klee steht. Zum einen hat er schnell die akademische Kunst seiner Zeit überwunden und gehörte nach einem kurzen impressionistischen Zwischenspiel zur Speerspitze der Avantgarde. Er hat sich durch seine Pariser und Münchener Kollegen anregen lassen, aber bald seinen eigenen Stil gefunden – nicht zuletzt durch den räumlichen Abstand, den er gesucht hat: Nach nur zehn Monaten in der Gegend von München ist er im November 1910 in seine Heimatstadt Bonn zurückgekehrt, ohne jedoch seine Beziehungen zu den Freunden des ›Blauen Reiters‹, insbesondere zu Franz Marc, aufzugeben. Und vor allem: Er hat sich bis zu seinem frühen Soldatentod am 26. September 1914 einen weitgehenden Optimismus bewahrt, von dem sein nur zehnjähriges künstlerisches Schaffen getragen ist.
Zu Henrik Steffens: ›Einleitung in die philosophischen Vorlesungen‹
Die romantische Bewegung, von Jena ausstrahlend, hatte einen bedeutenden Anteil daran, wie im 19. Jahrhundert in ganz Europa Ethnien, Sprachengruppen und Völker zu einem Selbstgefühl erwachten. In der romantischen Musik ist das fast mit Händen zu greifen – etwa bei Modest P. Mussorgski, Pjotr I. Tschaikowski und Nikolai A. Rimskij-Korsakow in Russland, Bedřich Smetana und Antonin Dvořák in Tschechien, Edward Elgar in England, Edvard Grieg in Norwegen und Jean Sibelius in Finnland. Entsprechende Parallelen finden sich auch in der Literatur. Das vorliegende Buch über den Norweger Henrik Steffens handelt von einem, der als Naturforscher und Philosoph bei der Geburt der Romantik dabei war und dem zugeschrieben wird, sie schon 1802/03 von Jena nach Skandinavien getragen zu haben.
Zu Roland Halfen: ›Kunst und Erkenntnis‹
»Irgend eine Linie, die von rechts nach links geht, und die empfunden ist als Linie, so etwas ist wichtig!« – Worauf diese Bemerkung Rudolf Steiners abzielt, ist das Aufwachen für spezifische Qualitäten, die man erleben kann, wenn man beim Wahrnehmen eines Kunstwerks auf das eigene Tun und Empfinden achtet. Hierin bekundet sich bereits ein zentrales ästhetisches Anliegen Steiners. Wenn also von »Rudolf Steiners Ästhetik« die Rede ist, dann bezieht sich das nicht auf irgendwelche stilistischen Kategorien, die manche Menschen aus seinen Werken ableiten möchten: Roland Halfen widmet sich den grundlegenden Fragen, welche die ästhetische Erfahrung selbst sowie den Zusammenhang von Kunst und Erkenntnis betreffen. In seinem Buch lässt sich nachverfolgen, wie und zu welchen Einsichten Steiner auf dem Gebiet der Ästhetik kam.
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Zum Gedenken an Bertil Ekman (22. Juni 1894 – 3. August 1920)
Der schwedische Dichter und Mystiker Bertil Ekman war von geistiger Bedeutung für den UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, worauf der schwedische Schriftsteller Sven Stolpe in dessen Biografie hinweist. Nachdem 1923 ein schmales Heft aus Ekmans Nachlass mit dem Titel: ›Strödda Bladur. Bertil Ekmans Efterlade Papper‹ herausgegeben worden war, blieb dieses über mehrere Jahrzehnte unauffindbar, bis es 1999 in der Königlichen Bibliothek in Stockholm wieder auftauchte. Schon lange bestand das Bedürfnis, Ekmans Gedanken auch in deutscher Sprache kennenzulernen. Die von Lars-Åke Karlsson besorgte Übersetzung: ›Verstreute Blätter. Bertil Ekmans nachgelassene Papiere‹ erschien 2018 als Heft 15 der ›Beiträge für religiöse Erneuerung‹. Das Heft enthält Aphorismen, Gedichte und unveröffentlichte Texte, darunter Tagebucheintragungen sowie ein Foto Ekmans: ein junger Mann voll Ernst und Traurigkeit, mit einem geraden, eindringlichen Blick. Er trägt die weiße Studentenmütze von Uppsala mit der gelb-blauen Kokarde.
Anmerkungen zum ›Museu Oscar Niemeyer‹ in Curitiba/Brasilien
Mitten im Häusermeer der Millionenstadt Curitiba in Südbrasilien erhebt sich das Oscar Niemeyer Museum, das im Volksmund »Olho« (= »Auge«) genannt wird, weil es wie die Pupille des menschlichen Auges auf seinen seitlichen Glasflächen Himmel, Wolken und umgebende Gebäude spiegelt. Die aus zwei geometrischen Baukörpern, dem Auge und dem Sockelbau, zusammengefügte gelbe Skulptur wirkt monumental. Vom Ausgang im oberen Sockelbereich windet sich eine Rampe über ein Wasserbecken hinweg nach unten auf den Museumsvorplatz. Der von dem Stararchitekten Oscar Niemeyer entworfene und 2002 eröffnete Museumskomplex birgt heute eine Gemälde- und Skulpturensammlung, die zu großen Teilen Kunstwerke südamerikanischer Provenienz umfasst, die andernorts, vor allem in Europa, so nicht bekannt sind, sich aber mit Ausstellungsstücken weltbekannter Museen messen können. Überhaupt ist es zunehmend das Kennzeichen zeitgenössischer Kunst, dass viele Installationen, Videoarbeiten, Skulpturen und Bilder eine globale künstlerische Sprache sprechen. So könnte auch das »Olho« an irgendeinem anderen Ort der Welt stehen. Die Polarisierung der Ost- und Westkunst, wie sie noch im figurativen und abstrakten Expressionismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, wurde inzwischen von vielfältigen künstlerischen Positionen überlagert und aufgelöst. Schließlich bürgt die bereits 1979 von Jean-François Lyotard angekündigte Postmoderne für das »Ende der großen Erzählungen«, an deren Stelle ein durch technische Medien vermitteltes Wissen getreten sei.
Zu Lutz Seiler: ›Stern 111 – Roman‹
›Stern 111‹, der neue Roman von Lutz Seiler, hat den Geisterpreis der (nicht stattgefundenen) Leipziger Buchmesse erhalten. Wie schon sein Vorgänger ›Kruso‹, der 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, landete er bald auf Platz 1 der ›Spiegel‹-Bestsellerliste. Das ist definitiv erstaunlich und auf jeden Fall tröstlich, denn es bedeutet viel in diesen Zeiten. Da draußen in der Welt der Slogans, Internet-Sprechblasen und Ghetto-Slang-Sprachgewohnheiten sind offenbar viele – Hunderttausende – am Leben, die noch Dichtung schätzen.