Zweite Betrachtung zu den Fenstermotiven im Großen Saal des Goetheanums
Wir lassen den Bereich der grünen Fenster hinter uns und öffnen uns dem Blau. Würde man sich mit dieser Farbe identifizieren, sagt Rudolf Steiner, »so würde man durch die Welt gehen, indem man das Bedürfnis empfindet, mit dem Blau immer weiter und weiter fortzuschreiten, den Egoismus in sich zu überwinden, gleichsam makrokosmisch zu werden, Hingabe zu entwickeln. [...] Wie begnadet von göttlicher Barmherzigkeit würde man sich fühlen, wenn man also durch die Welt geht.« Derart gestimmt können wir in das innige, schöne und ausgewogene Blau – das durch Kobalt und Kupferoyxyde gefärbt wurde – eintauchen.
Zur Ausstellung: ›Flowers Forever – Blumen in Kunst und Kultur‹ in der Kunsthalle München
Die ursprüngliche Geburt der Blumen auf der Erde liegt Millionen Jahre zurück – ihr uraltes Wesen verkörpert sich jedes Jahr aufs Neue. In einem wundersamen Zauber. Was uns die Erde durch ihren Blütenteppich sagt: Wer sie selbst ist und wer wir sind. »Schau,« könnte die Erde murmeln, »wenn der frosthart gefrorene Boden unter den Schritten knirscht und ein Schneeglöckchen oder ein Winterling sein hauchzartes grünes Stängelchen hindurchschiebt und ans Licht bringt.« Mit aller Kraft gelingt uns dies nicht. Jedes kleine Kind versteht: Das geht eigentlich nicht, für ein rein materielles Weltverständnis undenkbar. Also ein Wunder: Wie sich die Winzlinge in den Schwingungen der Materie, den räumlich-körperlichen Verhältnissen so einrichten, dass sie ihren eigenen Freiraum schaffen – vor sich her den Geburtskanal bilden, um so erscheinen zu können. Was wir im Denken leisten, die Schwere des Irdischen aufheben, lösen und durchdringen, das tun die kleinen Blüten in ihrer zarten Körperlichkeit wesentlich. Und ein Mensch, der angesichts des Blumenwesens gar nichts zu empfinden meint, dem muss das Herz gebrochen sein, oder die Seele geraubt.
Ein Lehrgang in lebendiger Lauterfahrung
Zu Rolf Henrich: ›Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen‹*
Was da am 24. Februar 1944 im sächsischen Werdau begann, hätte eigentlich eine, wenn schon nicht typische, so doch im Wesentlichen konforme DDR-Biografie werden können, trotz des dunklen Flecks, der die familiäre Erinnerung belastete: der von einem alliierten Henker 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtete Onkel. Der früh vaterlose Rolf Henrich durfte die Erweiterte Oberschule besuchen, blies im FDJ-Fanfarenzug und errang mehrmals Sportmedaillen. Aber da war eben auch (erste geistige Korrektur sozusagen) die so scheinbar aus der Zeit gefallene Lateinlehrerin, die seine tieferen Interessen mit Shakespeare, Seneca, Kant und Nietzsche förderte und ihn auf das Studium der Jurisprudenz lenkte – eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft.
Betrachtungen zu Heinrich Bölls Kurzgeschichte ›Skelett einer menschlichen Siedlung‹
Heinrich Böll war Irland in besonderem Maße verbunden. Er besuchte die Insel ab 1954 mehrfach. In seinem ›Irischen Tagebuch‹ findet diese Beziehung ihren bleibenden Ausdruck. Die Kurzgeschichten erschienen zunächst einzeln in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, um 1957 als Buch verlegt zu werden. Die folgende Betrachtung bezieht sich auf die darin enthaltene fünfte Erzählung ›Skelett einer menschlichen Siedlung‹.
Zur Ausstellung ›Karl Schmidt-Rottluff: expressiv – magisch – fremd‹ im Bucerius Kunst Forum Hamburg
Das ist schon kühn vom Bucerius Kunst Forum: eine Ausstellung mit einer kleinen Postkarte zu beginnen. 1909 im November hatte sie Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) aus Hamburg an seinen Künstler-Kollegen Erich Heckel nach Dangast geschrieben und auf der Vorderseite mit Tusche eine weibliche Figur aus Kamerun skizziert, die er offenbar in Hamburg bei einem Sammler oder Händler von außereuropäischer Kunst gesehen (oder gar erworben?) hat. Die Ausstellungen des Bucerius Kunst Forums, das bekanntlich keinen eigenen Werkbestand besitzt, haben sich immer schon durch einen besonderen Blickwinkel ausgezeichnet, der die Sehgewohnheiten angesichts der Kunst, die man zu kennen glaubt, verändert.
Zur Tagung »Grundlos Boden los« am 17./18. Oktober in Berlin
Zu Alexander Batthyány: ›Das Licht der letzten Tage‹
Der Kognitionswissenschaftler Prof. Dr. Alexander Batthyány (*1971), Direktor des Viktor-Frankl-Instituts für theoretische Psychologie in Wien, hat ein Buch zur terminalen Geistesklarheit Demenzkranker vorgelegt. Er selbst hat dieses Phänomen bei seiner Großmutter erlebt und sich zehn Jahre danach auf Spurensuche begeben. Weltweit wird eine Zahl von 55 Mio., in Deutschland rund 1,8 Mio. Demenzkranker genannt, die im Mittel rund zehn Jahre an der fortschreitenden Erkrankung leiden. 6% von ihnen erfahren eine solche spontan auftretende Geistesklarheit. Da dies in 93% der Fälle nur Minuten oder höchstens 48 Stunden vor Eintritt des Todes geschieht, wird dies als »terminale Geistesklarheit« (TG) bezeichnet.
Sie ist lang, die Nacht in der Hütte des Bergregenwaldes – je nach Wolken über elf Stunden lang, viel länger jedenfalls, als ein Mensch zum Schlafen braucht. Und sie ist dunkel, dunkler, als es das Wort für gewöhnlich meint, wenn man vielleicht den unbeleuchteten Garten vom hellen Wohnzimmer aus betrachtet. Denn trätenwir da hinaus, könnten wir durch entfernte Straßenlaternen oder die nächtlich erleuchteten Nachbarfenster uns doch problemlos orientieren. Die Dunkelheit aber in den tropischen Wäldern ist total. Keine Stadt erleuchtet von ferne die Wolken. Selbst wenn der Mond senkrecht herunterscheint, verschlucken die Bäume fast alles Licht. Wegen der zu Hause vergessenen Taschenlampe vermag nur eine flackernde Kerzenflamme mühsam das Dunkel zu verdrängen und den Weg zur Schlafkammer zu erleuchten, um eine eventuelle Korallenschlange oder eineebenfalls hochgiftige Lanzenotter vom alten Laub unterscheiden zu können.
Der plötzliche Regen hat uns an diesem eigentlich sonnigen Mainachmittag überrascht, sodass wir uns nach einem Unterstand umsahen. Ringsum sprie.ten zwar schon frische, hellgrüne Blättchen an den Birken und Buchen des Botanischen Gartens, waren aber noch lange nicht breit und flächig genug, um den Regen abzuhalten. Doch über und durch das maigrüne, flirrende Blätternetz hindurch ragten glänzende, regennasse Dachschindeln – eine kleine Kuppel? Aber mit einer nach oben ausgezogenen Spitze, wie ein halb aufgeklappter Regenschirm? Erst aus der Nähe sahen wir, wie dieses Dach sich an seinem unteren Ende an acht Zipfeln wieder schräg nach oben wandte – wie der hüpfende Rock eines tanzenden Kindes – und dass es wirklich fast nur ein Dach war: ein chinesischer Teepavillon ohne Wände auf acht zierlichen, dunkelrot gestrichenen Holzsäulen.
Max Brod zum 50. Todestag
Oft ist davon berichtet worden, wie der Abend des 13. August 1912 bei der Familie Brod in der Prager Schalengasse für Franz Kafka verlaufen ist, zumal dieser es selbst notiert hat. Für Max Brod war der Abend wohl nicht so wichtig, aber immerhin war Felice Bauer aus Berlin die Cousine seines Schwagers Max Friedmann, und sie achtete ihn als einen schon berühmten Schriftsteller. Das tat ihm sicherlich gut. Als Kafka um neun Uhr abends erschien, hatte Brod vielleicht schon gebangt, ob dieser überhaupt käme, denn es ging ihm um die Ordnung von Texten für den Rowohlt Verlag. Insofern war Felice für Max eine Abhaltung von der Arbeit, und der Abend – mit Gespräch, Essen und auch noch Klavierspiel – eine Anstrengung, obwohl er tagsüber nur in »einfacher Frequenz« bei der Post arbeitete, um genug Zeit zum Schreiben zu haben. Dafür spricht auch, dass er nicht mitging, als sein Vater und Kafka Felice spätabends zu ihrem Hotel begleiteten.
Zur bayerisch-tschechischen Landesausstellung 2016/17 über Karl IV.
Die große bayerisch-tschechische Landesausstellung, die am 15. Mai pünktlich zum 700. Geburtstag Karls IV. in Prag eröffnet wurde und nun bis zum 5. März 2017 in Nürnberg zu sehen ist, wird mit sparsamen Worten angekündigt: »1316 | *700 | 2016 | Karl IV. | Prag/Nürnberg«. Wer auf der Autobahn zwischen diesen Städten unterwegs ist, wird immer wieder auf die ›Via Carolina‹ hingewiesen, welche die enge Verbindung beider Orte im Leben und Wirken dieses spätmittelalterlichen Herrschers symbolisiert. Indessen wird gerade im Vergleich dieser Orte ein großer Unterschied deutlich, denn wer durch Prag geht, wird vielfach – und nicht nur an den einschlägigen tourist spots – mit dem bedeutenden Kaiser konfrontiert; doch einer wie geringen Zahl von Menschen bei uns in Deutschland ist Karl IV. geläufig! Am Ende der Ausstellung wird das sogar thematisiert: Ganz unterschiedliche Narrative sind hierzulande und in Tschechien mit seiner Person verbunden. Wäre es nicht – wenn es doch das Ziel sein muss, viele Menschen zu erreichen – sinnvoll gewesen, sich von vornherein etwas mehr Gedanken über eine angemessene, ja volkspädagogische Präsentation zu machen?
Zu ›Unheimliches Tal / Uncanny Valley‹ von ›Rimini Protokoll‹
Sie sind dramatische Zeitzeugen: Das Theaterkollektiv ›Rimini Protokoll‹ ist mit seinen Aktionen immer am Puls der Zeit und an gesellschaftlichen Wundrändern zugange. Die aktuelle Performance, eine Uraufführung in den Münchner Kammerspielen, trifft thematisch wieder den kairós – den Augenblick, in dem Kunst der Realität begegnet. ›Unheimliches Tal / Uncanny Valley‹ heißt das Bühnenprogramm, in dem der einzige Darsteller durch einen Roboter vertreten wird. Zeitgleich wird weltweit die Sensation gefeiert, dass erstmals eine Maschine ein Bild »gemalt« hat. Dahinter steckt natürlich (noch) der Mensch, ebenfalls ein Künstlerkollektiv. Die französische Gruppe ›Obvious‹ hat den Algorithmus mit 15.000 Kopien klassischer Werke gefüttert – aus dieser Einspeisung wurde das Bild kreiert. Nun gilt es erstens als Original, und zweitens verfügt das selbstlernende Programm jetzt über die einverleibten Daten und könnte munter seine »Kreativität« weiterentwickeln. Werden wir also mit KI bald nicht mehr »künstliche«, sondern »künstlerische« Intelligenz meinen?
Eurythmie als ein Weg zu einem erweiterten Sprach- und Lautverständnis
Nach Jahren der toneurythmischen Dominanz auf der Bühne wächst derzeit wieder ein neues Interesse an der Sprache in der Eurythmie: Rechtzeitig zur Dornacher Eurythmietagung ›Sprach-Bewegung‹ zu Ostern 2018 (mit über 700 Teilnehmern aus über 40 Ländern) waren zwei neue Bücher zum Thema erschienen. Beide suchen und finden ihr Material in der Vergangenheit, in der Entstehungszeit der Eurythmie – es entwickeln sich daraus aber erstaunlich moderne und zeitgemäße Perspektiven für den Umgang mit eurythmischen Angaben.
Sebastian Voltmers Filmporträt »Desna – Musik rettete mein Leben«
Eine Aufführung der Compagnie Phoenix Berlin
Ein Interpretationsversuch im Hinblick auf die Beziehung von An na Amalia zu Goethe
500 Jahre Melanchthons Antrittsrede in Wittenberg
Im Lutherjahr 2017 wurde viel über Martin Luther und den Thesenanschlag gesprochen, auch viel Unwesentliches. Denn es war ja nicht das Anschlagen der Thesen wichtig, sondern ihr Inhalt, der den Nerv der Zeit vor 500 Jahren traf. Über Philipp Melanchthon (1497–1560) jedoch sprach kaum einer. Wie so oft, auch während seines Lebens, stand er – der äußerlich zart, klein und unscheinbar war – im Schatten Luthers, obwohl ohne ihn die Reformation kaum möglich gewesen wäre.
Vor 100 Jahren erschienen Manfred Kybers ›Märchen‹
»… und auf waldwilden Wegen / das Märchen lautlos geht: // Blauaugen, kinderreine, / Blauaugen, lieb und fremd, / aus Spinnweb und Mondenscheine / ein Königshemd. // Ihr Haar von Gold gesponnen, / bis auf die Hüften rollt, / wie tausend sinkender Sonnen / verträumtes Dämmergold. // Blauaugen, kinderweiche, / sie tragen ein heilig Mal / aus heiligem Rätselreiche: / es war einmal …« Es muss ein beglückender Augenblick für den jungen Lyriker gewesen sein: Sein erstes Buch war gedruckt! Carl Manfred Kyber: ›Gedichte‹ (1902) hieß es, verlegt im Verlag von Hermann Seemann Nachfolger in Leipzig. Das oben zitierte Eingangsgedicht war ihm so wichtig, dass er es auch in seine zweite Gedichteausgabe ›Der Schmied vom Eiland‹ (1908) übernahm.
Zu zwei restaurierten Bildern von Caspar David Friedrich – Teil I
Zu ›Adam’s Passion‹ von Robert Wilson und Arvo Pärt
›Adam’s Passion‹ heißt ein Musiktheater von Robert Wilson nach Werken von Arvo Pärt. Es wurde während der Karwoche 2018 im Berliner Konzerthaus dreimal aufgeführt. Die Uraufführung hatte drei Jahre vorher in Tallinn stattgefunden. Die musikalische Leitung hatte jeweils der estnische Dirigent Tonu Kaljuste. Auch die Schauspieler waren, bis auf die Kinder, dieselben. Von der Weltpremiere existiert ein Film, in dem die Bilder des von Wilson inszenierten Licht- und Bewegungstheaters im Vordergrund stehen. In Berlin war hingegen das Musikerlebnis stärker, obwohl Orchester und Chor verborgen blieben. Schon im September 2015 war die Filmaufnahme von ›Adam’s Passion‹ zusammen mit ›The Lost Paradise‹, einer Dokumentationen von Pärts Zusammenarbeit mit Wilson, im Wolff-Saal der Berliner Philharmonie gezeigt worden. An den beiden aufeinanderfolgenden Abenden war Wilson selbst anwesend und erzählte viel. So beruht dieser Bericht neben der Berliner Aufführung auch auf den genannten Filmen und Wilsons Erzählungen.
Ein Kolloquium über das menschliche Bewusstsein
Impressionen von der Leipziger Buchmesse
Zur Geschichte eines Symbols an den Schwellen des Lebens
›Der letzte Granatapfel‹, ›Das Haus der Granatäpfel‹, ›Tausendundein Granatapfelkern‹, ›Granatapfel – Frucht der Götter‹: Solche Buchtitel aus den letzten Jahren zeigen, welche Faszinationskraft von dieser aus dem Vorderen Orient stammenden Frucht ausgeht. Auch dort ist sie schon immer mehr als nur ein selbstverständliches Lebensmittel. Es gibt wohl kaum eine Frucht, deren Symbolkraft im Hinblick auf das menschliche Leben sich so augenfällig an ihrer sinnlichen Erscheinung festmacht, an ihrer auffälligen Färbung, ihrer äußeren Form und inneren Struktur und nicht zuletzt an ihrem Geschmack und Duft. – An dieser Stelle gehe ich den Bedeutungen dieser Frucht in ihrem Ursprungsraum nach sowie ihren Transformationen ins christliche Europa.