Zum Tod von Friederike Mayröcker (* 20. Dezember 1924; † 4. Juni 2021)
Ein Nachruf für Friederike Mayröcker kann nicht anders als kunterbunt verzettelt sein. So lebte sie, die Wiener Dichterin, die am 4. Juni 2021 mit 96 Jahren gestorben ist. Jahrzehntelang lebte sie mit ihrem Lebens- und Kunstgefährten Ernst Jandl (1925–2000) im selben Haus, aber nicht in derselben Wohnung. Das wäre unmöglich gewesen, denn beider Lebensraum war buchstäblich die Sprache – durchaus bis ins Leibliche zu verstehen.
Muximiches ist ein Wort, das es nicht gibt. Ich habe es einmal aufgeschrieben und später vergeblich in den Wörterbüchern danach gesucht. Auch Googles große Suchmaschine wusste nicht weiter: »Es wurden keine mit deiner Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden.« Ich habe das Wort wohl geträumt. Es scheint aus einer Sphäre zu stammen, wo die Wörter entstehen. Ein Kindersprachgelände und Sprachkindergelände, wo die Wörter noch frei umherlaufen und die Bedeutungen nur lose an ihnen haften, ein Land, wo die Begriffe noch beweglich sind. Muximiches. Das Wort schien nicht arretiert von einer verbindlichen Bedeutung, war noch offen für dies und das und also kaum lexikontauglich.
Please. Was für ein schönes, was für ein liebenswürdiges und zugleich starkes Wort! So viele Male habe ich das Wort gehört und gesagt und bin ihm doch nie wirklich begegnet. Es beginnt mit einer Explosion und endet inständig und leise. Es besteht nur aus einer einzigen Silbe, und doch sagt diese alles, was es zu sagen gibt. Das Wort hat etwas Unausweichliches, Eindringliches, vielleicht sogar Forderndes, aber es sagt es auf die sanfte Art. Ohne Umschweife wendet es sich an das angesprochene Du.
Das Wort Ruhe spricht nicht vom Zustand, den es bezeichnet, sondern wie es dazu kommt, vom »Zur-Ruhe-Kommen«. Das Wort verweist ganz allgemein auf die Abwesenheit von Bewegung und Hörbarem. Aber wie ließe sich Unbewegtes mit Bewegung ausdrücken? Wie Lautloses mit Lauten? Das englische hush für »Lautlosigkeit« meldet sich zwar nicht lautstark zu Wort, sondern eher wie ein flüsternder, flüchtiger Windzug, kommt aber wie alle Worte an der Verlautbarung kaum vorbei.
Tabelle ist ein schönes Wort, was sich von dem, was es bezeichnet, nicht unbedingt sagen lässt. In der Tabelle klingen die Libelle und die Gazelle an, und auseinandergenommen ließe es sich auch französisch als ta belle, »deine schöne ...« lesen: ta belle main.
Seltsame Wege nimmt die Geschichte mancher Wörter. Die Vorstellungen, die heute allgemein mit bestimmten Wörtern einhergehen, unterscheiden sich oft enorm von den Vorstellungen und Referenzen, die ursprünglich oder in früheren Zeiten damit verbunden waren. Wald ist so ein Wort. Schwer und gewichtig, dunkel und nahezu gewaltig kommt es daher wie eine mächtige Woge, die über Land geht und an der Stelle, wo sie zur Ruhe kommt, einen Wald zurücklässt, der sich dann weiter ins Land hinein ausbreitet.
Die Texte, zu denen diese Einleitung gehört und die in Folge an dieser Stelle erscheinen sollen, sind aus Begegnungen mit Worten entstanden. Solche Begegnungen verdanken sich Umständen, die in der täglichen Verständigung mit Worten kaum vorgesehen sind. Denn Worte verwendend und vernehmend zielt unsere Aufmerksamkeit auf das, was sie bedeuten und nicht auf sie selbst. Das ist weitgehend auch in diesem Text der Fall. Schreibend bin ich mit dem befasst, was ich beschreiben und mitteilen will. Selbst wenn ich hin und wieder eine Formulierung prüfe oder ändere, selbst wenn ich beim Reden abwäge, was ich sage, kommt es zu keiner wirklichen Begegnung mit den Worten.
Zur Tagung ›Das Problem Beuys‹ am 15. und 16. Oktober in Düsseldorf
Am 15. und 16. Oktober 2021 fand in Düsseldorf im Haus der Universität am Schadowplatz die Tagung ›Das Problem Beuys‹ statt, in der Experten über strittige Fragen zu Werk und Wirken dieses Künstlers debattierten. Geladen waren u.a. der Filmemacher Andres Veiel, der Anthroposoph Walter Kugler, die Kunsthistoriker Benjamin Buchloh, Beat Wyss und Philip Ursprung, der Religionshistoriker Helmut Zander, der Theologe Alf Christophersen, der Künstler Albert Markert sowie der Autor Hans-Peter Riegel, der eine vierbändige Beuys-Biografie veröffentlicht hat. Über Live-Stream konnte ich die 12 Stunden des Symposiums mitverfolgen, was zu einer der spannendsten Online-Erfahrungen meines Lebens wurde. Ich kann hier nur Zusammenfassungen von Schwerpunkten geben sowie ein paar kritische Bemerkungen vor dem Hintergrund meiner eigenen langen Beschäftigung mit Joseph Beuys. Es ging auch um die Medienrezeption dieses Künstlers und um aktuelle Urheberrechtsfragen – aber am interessantesten waren die Themenfelder ›Der Hang zum Esoterischen‹ und ›Zum Rechtsideologischen‹. Die Kuratoren Eugen. Blume und Catherine Nichols hatten, wohl getrieben von vielen kritischen Stimmen zum Beuys-Jubiläumsjahr 2021, diese Tagung organisiert, um sich solchen Vorwürfen zu stellen. So fragte man nach Beuys’ Aktivitäten im Nationalsozialismus, seinen umstrittenen Äußerungen zu dieser Zeit, seinen häufigen Kontakten zu Männern mit NS-Vergangenheit und nach seinem Verhältnis zur Anthroposophie.
Joseph Beuys als Raumkurator in der Stuttgarter Staatsgalerie
Voller Erwartung betrete ich den Beuys-Raum im Stirling-Bau der Staatsgalerie in Stuttgart. Mein Blick fällt als erstes auf die Gebilde aus sprödem Gips und massigem Wachs, die dort herumliegen, und auf die durch den Raum schwingende Filzrolle – als Teile des ›dernier espace avec introspecteur‹ (Letzter Raum mit Introspecteur, 1964-1982). Von der Installation ›Plastischer Fuß Elastischer Fuß‹ (1969-1986) ragen nur vier auf dem Boden liegende Stahlplatten von links her in den Raum, auf denen drei große Autobatterien und eine Luftpumpe in einer Linie aufgereiht stehen. Die zwei großen Matten an der linken Wand fallen nicht gleich ins Auge. Erst recht nicht die beiden kleinen Plastiken, die Joseph Beuys zu beiden Seiten des Eingangs installiert hat: rechts auf einem Sockel die ›Kreuzigung‹ (1962/63) aus ärmlichen Materialien, linker Hand in einem in die Wand eingelassenen Kasten der goldene ›Friedenshase‹ (1982) samt Sonnenkugel, die aus den auf dem schmalen Boden des Safes drapierten Preziosen herausragen. Diese beiden Objekte, die kaum unterschiedlicher sein könnten, setzen das Thema dieses 1984 von Joseph Beuys eingerichteten Raumes: Polarität, die im Menschen ihre Steigerung erfährt.
Zur Beuys-Rezeption in zwei anthroposophischen Zeitschriften
Ja, Joseph Beuys war tatsächlich im Goetheanum, wohl zweimal. Über seinen ersten Besuch im Jahre 1951 berichtet sein Studien- und Künstlerkollege Günther Mancke (1925–2020) im Gespräch mit Rudolf Bind, das 1994 im ›Goetheanum‹ – nun ist die Wochenschrift gemeint – wiedergegeben wurde. Auf diese bezieht sich auch der Titel des kürzlich erschienenen Buches ›Beuys im Goetheanum‹. Anlass ist ein Beuys-Symposium, das im Juni 2021 im Goetheanum hätte stattfinden sollen, wegen der Corona-Pandemie aber verschoben wurde und nun für den 12. bis 15. Mai 2022 angesetzt ist. Das Buch enthält alle in der Wochenschrift zwischen 1973 und 2021 erschienenen Texte über Beuys und gibt somit einen Einblick in die anthroposophische Beuys-Rezeption. Als ehemaliger Redakteur von die Drei, die wie ›Das Goetheanum‹ im Geburtsjahr von Beuys gegründet wurde, werde ich auch auf die Beuys-Rezeption in dieser Zeitschrift eingehen.
Zu Hans-Peter Riegel: ›Beuys – Verborgenes Reden‹
Nachdem der Autor des hier zu besprechenden Buches bereits mit einer Monografie zum Maler Jörg Immendorf hervorgetreten war, publizierte er 2013 eine dreibändige Beuys-Biografie, die vor allem durch zwei Aspekte auffiel und für zum Teil heftige Kontroversen sorgte. Der erste bestand in einer auf den Recherchen von Jörg Herold fußenden Prüfung der bereits zum autobiografisch-künstlerischen Gründungsmythos avancierten Erzählung, Joseph Beuys sei im Zweiten Weltkrieg nach dem Absturz seines Flugzeugs auf der Krim von Tartaren geborgen und von diesen unter Einsatz von Fett und Filz wiederhergestellt worden – mit dem nicht eben ganz neuen Ergebnis, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Der zweite Aspekt betraf Beuys’ angebliche Nähe zu rechtsgerichteten Persönlichkeiten, nicht zuletzt aus dem Umfeld des sogenannten Achberger Kreises, der in den 70er Jahren durch seinen Einsatz für die soziale Dreigliederung bekannt geworden ist.
Ein Exemplar von ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ und seine Geschichte
Im Sommer 2020 kam eine neue Schenkung ins Archiv: ein Exemplar von Rudolf Steiners Schrift ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ in der vierten Auflage von 1910. Von dieser frühen Auflage der zuerst als Aufsatzfolge in der Zeitschrift ›Lucifer – Gnosis‹ erschienenen Abhandlung besitzt das Rudolf Steiner Archiv zwar bereits zwei weit besser erhaltene Exemplare, aber das nun eingegangene, heftig zerlesene und annotierte Buch hat eine besondere Geschichte.
Dante Alighieri (*1265 in Florenz; †1321 in Ravenna) zum 700. Todestag
Haben Sie Dantes ›Göttliche Kom die‹ gelesen? Nein? Oder haben Sie guten Willens angefangen und dann aufgegeben? Immerhin, so geht es den meisten. Die Lektüre ist nicht einfach. Aber der Lohn ist groß. Es ist ein Tor, zwar erst mal zur Hölle, aber dann zur Läuterung und schließlich zum Paradies. Ganz nebenbei bekommt man einen Schlüssel zur europäischen Literatur und damit zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas in die Hand.
Zur Tagung ›Wirtschaft und Christentum‹ vom 8. bis 10. Oktober 2021 in Hannover
Unter dem Motto ›Wirtschaft und Christentum: voneinander lernen – miteinander leben – füreinander arbeiten‹ fand vom 8. bis 10. Oktober 2021 eine Tagung der Christengemeinschaft für Nord- und Nordwestdeutschland in Hannover statt. Diese Regionaltagung verstand sich als Vorbereitung für die internationale Tagung zu 100 Jahren Christengemeinschaft, die im Oktober 2022 in Dortmund stattfinden wird.
Betrachtungen zu Heinrich Bölls Kurzgeschichte ›Skelett einer menschlichen Siedlung‹
Heinrich Böll war Irland in besonderem Maße verbunden. Er besuchte die Insel ab 1954 mehrfach. In seinem ›Irischen Tagebuch‹ findet diese Beziehung ihren bleibenden Ausdruck. Die Kurzgeschichten erschienen zunächst einzeln in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, um 1957 als Buch verlegt zu werden. Die folgende Betrachtung bezieht sich auf die darin enthaltene fünfte Erzählung ›Skelett einer menschlichen Siedlung‹.
Zu Emanuele Coccia: ›Metamorphosen – Das Leben hat viele Formen‹
Der heute 45-jährige Philosoph Emanuele Coccia kann schon auf eine Reihe bemerkenswerter, zum Teil mit Auszeichnung versehener Bücher zurückblicken. Sie sind nicht nur Zeugnis einer interkulturellen Vernetzung zwischen italienischen, französischen, spanischen und deutschen Orten des Studiums und der Lehre, die durch Auseinandersetzungen in Japan, Brasilien oder den Vereinigten Staaten angereichert wurden. Auch das Maß der historischen und sachlichen Spanne seiner Themen ist ungewöhnlich. In Paris hat er einen Lehrstuhl für Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Er schrieb je ein Buch über Werbung, das Leben der Pflanzen und die Rolle der Bilder in der heutigen Alltagskultur sowie in der Philosophie des Averroes. Er kuratierte zuletzt eine Kunst-Ausstellung zu Aspekten der Ökologie der Bäume. Vor zwölf Jahren gab er zusammen mit Giorgo Agamben den ersten Sammelband zur Bedeutung der Engel in der christlichen, islamischen und jüdischen Tradition heraus. – Das sich so dokumentierende, weit gespannte und zugleich dichte Netz seines Denkens rückt nun in ein neues Areal vor, den Bereich der Metamorphose, in dem Coccia mit Hilfe der Insekten über die Pflanzenwelt hinaus denkt und einige ganz universelle und überraschende Thesen über uns, unsere Zeit und die Erde ausbreitet.
Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521
Im Jahr 2021 begehen wir das 500. Jubiläum des Reichstags zu Worms, auf dem Martin Luther seine in Thesen und Büchern geäußerten Gedanken vor dem jungen, neugewählten Kaiser Karl V. verteidigen sollte. Eigentlich legte der Kaiser keinen Wert darauf und würde ihn auch ungehört mit der Reichsacht belegt haben. Da er aber Luthers Landesvater, Kurfürst Friedrich den Weisen, sehr schätzte, konnte dieser ihn überzeugen, dass Luther vor einer Verurteilung wenigstens angehört werden müsse. In Worms nahe dem Dom befindet sich eine Lutherstatue im Gedenken an dieses historische Datum. An und für sich war meine Reise 1993 dorthin eine Spurensuche zum Nibelungenlied: Worms als Stadt der Nibelungen und Burgunder! 401 n. Chr. hatten letztere, von Osten kommend, den Rhein überschritten. Die Römer erlaubten ihnen, zeitweise hier zu siedeln, aber im Jahre 436 mussten sie weiterziehen, bis in die Gegend des heutigen Frankreich.1 Mehr als 1.000 Jahre später kam nun der mächtigste Kaiser des Abendlandes nach Worms: Karl V. – ein Burgunder! Und gleichzeitig trat Luther auf, um die Freiheit des Gewissens anzumahnen.
Anmerkungen zu Heiner Müller (1929–1995)
Ich habe ihn in der Tat erst in den vorrevolutionären Wochen von 1989 für mich entdeckt; natürlich nicht den ganzen Heiner Müller. Vorerst waren es, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, die Teile I bis III der ›Wolokolamsker Chaussee‹, packend inszeniert vom Ensemble des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, das damals noch im bald für marode erklärten Haus in der Zimmerstraße auftrat. So dicht, so auf uns zugeschnitten – das gilt auch für die zur selben Zeit gezeigten Stücke der Perestroika-Autoren Tschingis Aitmatow und Wladimir Tendrjakow – habe ich Theater nie wieder erlebt, meilenweit entfernt von der nachrevolutionären Beliebigkeitskost, die mich erstmals veranlasste, eine Vorstellung vorzeitig zu verlassen.
Es ist viele Jahre her, seit ich einem seiner Vorträge lauschen konnte. Er sprach so lebendig wie er schrieb, packend war seine immense Bildung, und er war großzügig mit Buchgeschenken – so kam ein dicker Band ›Geleit durch meine Pansophie‹ (1992) in meine dankbaren Hände. Und was hat er alles in seinem langen Leben geschrieben, der Schriftsteller, Lyriker, Herausgeber und Journalist! Jaeckle kam am 12. August 1909 in Zürich auf die Welt und verließ sie, nach einem reichen Lebenswerk gesundheitlich angeschlagen, am 2. Oktober 1997, ebenfalls in Zürich. Die Schweizer darf man als Deutscher um vieles beneiden, hier ausnahmsweise um einen Politiker. Denn Jaeckle, in seiner Sorge um das Land, trat 1937 der neu gegründeten Partei ›Die Unabhängigen‹ bei. Diese vertrat er von 1942 bis 1950 im Gemeinderat von Zürich, im Schicksalsjahr 1945 war er dessen Präsident. Von 1947 bis 1962 hatte er einen Sitz im Schweizer Nationalrat inne. Doch seine Teilnahme am politischen Leben schien eher eine Marginalie seines langen, schöpferischen Lebens zu sein, sein Beitrag als Kulturschaffender zur Schweizer Demokratie.
Zum Tode von Heinz Georg Häussler (1939–2021)
Am 5. Juli 2021 verstarb in Weimar mein geschätzter Freund und Lehrer, der Bildhauer Heinz Georg Häussler. 1939 in Göppingen geboren, stammte er aus einfachen Verhältnissen und studierte an der Kunstakademie in Stuttgart Bildhauerei. In seinem universal angelegten Denken spielte die Anthroposophie von jeher eine große Rolle. Zunächst verdingte er sich als Kunst- und Werklehrer. 1973 begründete er, zusammen mit anderen Künstlern, die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Die Vision der Pioniere: die Errichtung einer Hochschule, in der die Kunst für die höchste Vollendung des Menschseins steht, und die das Gespräch der Künste dergestalt befruchtet, dass in diesem der ganze Mensch im Mittelpunkt steht.
Zu Lambert Wiesing: ›Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins‹
Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat jüngst eine Monografie vorgelegt, die sich in fünf Kapiteln der Phänomenologie des Selbstbewusstseins widmet. Wiesing geht – wie er im Vorwort schreibt – davon aus, dass sich die »Wirklichkeit des Selbstbewusstseins […] weder erklären noch verstehen [lässt]. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen.« (S. 10) Entsprechend lautet sein Ziel, »das Urphänomen Selbstbewusstsein […], die selbst erlebte Wirklichkeit meines eigenen Selbstbewusstseins auf ihre Charakteristika hin anzuschauen. […] Ich beschreibe kein Ich, sondern ein Mich. In diesem Buch denke ich mich, mein Dasein, als erlebte Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins.« (S. 10f.)
Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Borchert (1921–1947)
Dass ein politischer Witz – unvorsichtig genug, wer ihn in den humorlosen Zeiten der Diktatur wagt – zum Verhängnis werden kann, ist eine Erfahrung, die ich mit Wolfgang Borchert teile. Allerdings (und das sei unterstrichen) waren die Konsequenzen, die ihn trafen, unvergleichlich härter, unvergleichlich. Der Krieg hat tief und verheerend in die Biografie des bei Ausbruch der Katastrophe Neunzehnjährigen eingegriffen. Sein Jugendfreund Isot Kilian beschreibt ihn als »voller Ideale, rebellisch und zukunftsgläubig« Er wollte Schauspieler werden und trat 1940 sein erstes Engagement an, bei der Landesbühne Osthannover. Nach wenigen Monaten schon reißt ihn die Einberufung in die 3. Panzer-Nachrichtenersatz- Abteilung und im November an den baldigen Fronteinsatz nach Russland.
Zum 100. Geburtstag von Erika Beltle (19. Februar 1921 – 21. Juni 2013)
Im Februar 2021 feiert die Zeitschrift die Drei ihr hundertjähriges Bestehen, und auch Erika Beltle geb. Wagner, mit der Drei durch etliche Beiträge eng verbunden, wäre am 19. Februar 2021 hundert Jahre alt geworden. Das Mädchen wuchs in den ersten Jahren bei Verwandten auf dem Lande auf, in Kesselfeld/ Hohenlohe. Den Vater lernte sie erst später kennen. Die Mutter arbeitete als Damenschneiderin in Stuttgart, hatte dort die Anthroposophie kennengelernt und sogar Vorträge Rudolf Steiners gehört. Mit sieben Jahren kam Erika in die 1919 von Emil Molt gegründete Waldorfschule in Stuttgart, die sie von 1928 bis 1935 besuchte. Als 14-jährige begann sie die anthroposophische Literatur ihrer Mutter zu lesen. Später besuchte sie die Handelsschule und wurde Stenotypistin bei einer Versicherungsgesellschaft.
Zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Louise Glück
Seit 28 Jahren schreibe ich nun für diese Zeitschrift – aber noch niemals fiel mir ein Beitrag so schwer wie der folgende. Es lässt sich nicht beschreiben, was ich zu sagen versuche. Man müsste es singen, malen, aufführen … Über ein Bild kann man sprechen mit Worten, auch über Musik. Doch wie spricht man von einem Gedicht – oder gar mehreren – so, dass es ihm gerecht wird? Kann man es nicht eigentlich nur dichterisch besprechen?
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Zu Wilfried Sommer: ›Resonanzfiguren des verkörperten Selbst‹
Der Physikdidaktiker und Waldorflehrer Wilfried Sommer hat ein schmales Bändchen mit Untersuchungen zu anthropologischen Perspektiven der Waldorfpädagogik vorgelegt, die in ihrem besonderen Ansatz und im Duktus der Gedankenführung neue Wege einschlagen. Neu ist die Radikalität, mit der er darauf verzichtet, seine Überlegungen aus den mannigfachen Darstellungen Rudolf Steiners abzuleiten, zu erläutern und daraus wiederum zu erklären. Er vermeidet diesen Zirkel und setzt vielmehr anderswo an. Da ist vor allem der Bereich schulpädagogischer Diskussionen zu dem von Hartmut Rosa eingeführten Paradigma der Resonanz. Da ist im engeren Sinn die Anthropologie der Verkörperung, wie sie in den letzten Jahren der Arzt und Philosoph Thomas Fuchs ausgearbeitet hat. Sommer verankert seine Studien in jenem akademischen Feld aktueller Diskurse, das in der Methode nicht reduktionistisch ansetzt, sondern im Blick auf den Menschen sorgsam differenziert die Reichhaltigkeit gegebener Gesichtspunkte im Blick behält.
Zu Hans-Heino Ewers: ›Michael Ende neu entdecken‹
Michael Endes Werk gilt als bessere Literatur des Genres Fantasy, dem bekanntlich auch viele weniger angesehene Werke angehören, wie die populärsten Filme und Computerspiele der Massenkultur. Der Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers interpretiert Endes Werk im Kontext der Psychologie C.G. Jungs und zeigt auf: Fantasy kann für das Wohlergehen der modernen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein – im Guten wie im Bösen.
Zu Sergij Bulgakov: ›Aus meinem Leben‹
In der sechsten Generation orthodoxer Priester, zuvor jedoch, im jüngeren Lebensalter (und mit Schwerpunkt in den 1890er Jahren) einer der führenden Köpfe unter den Marxisten im vorrevolutionären Russland: Diese Spanne markiert nur einen der starken Gegensätze, die das Leben und Wirken Sergij Bulgakovs (1871–1944) bestimmen sollten. Während ein Vladimir Solov’ev im deutschsprachigen Raum weithin bekannt ist und hierzulande auch die Werke des 1937 in stalinistischer Lagerhaft ermordeten Priesters Pavel Florenskij einige Beachtung finden, ist der Name des dritten bedeutenden Lehrers der russischen Sophiologie bislang nur einigen wenigen Interessierten ein Begriff. Dabei könnte man, etwa, was die Ausbildung einer lehrmäßigen Systematik angeht, gerade bei Bulgakov von einer Kulmination der russischen Sophia-Verkündigung sprechen. Grund für seine relative Unbekanntheit ist vor allem, dass bisher kaum Übersetzungen seiner zahlreichen Schriften ins Deutsche vorliegen. Hier Abhilfe zu schaffen, haben sich die Herausgeberinnen auch des vorliegenden zweiten Bandes einer deutschen (in Teilen zweisprachigen) Werkausgabe vorgenommen: Regula M. Zwahlen und Barbara Hallensleben, die das Editionsvorhaben in der Reihe ›Epiphania‹ von der ›Université de Fribourg‹ aus betreiben.
Tausend Jahre Merseburger Dom (1021–2021)
Merseburg zu DDR-Zeiten – was war das schon? ›Buna‹, ›Leuna‹, chemische Industrie, zerstörte Landschaft. Jeder konnte froh sein, dort nicht zu wohnen und auch nicht hinzumüssen. Merkwürdig nur, dass eine Studienfreundin, die aus Merseburg stammte, so ganz anders sprach. Wir andern glaubten es nicht recht. Das Einzige, was ebenfalls dagegen sprach, waren die Merseburger Zaubersprüche, von denen wir in der Schule gehört hatten, und die uns so seltsam berührten, fremd und doch anziehend, vielleicht gerade weil wir sie kaum verstanden. Aber das war uralt, in einer für uns unvorstellbar lange zurückliegenden, heidnischen Zeit, noch vor der Christianisierung. Von letzterer, die man allerdings zur Kenntnis nehmen musste, hielt man ja in der DDR nicht viel.
Zu Agnes Hirschi & Charlotte Schallié (Hrsg.): ›Unter Schweizer Schutz‹
Dramatische Umstände bringen es bisweilen mit sich, dass durch ein bestimmtes Ereignis oder an einem bestimmten Ort Schicksalsfäden wie durch einen Knoten verbunden werden. Solch ein Ort war 1944 in Budapest das sogenannte »Glashaus«, in dem damals die Auswanderungsabteilung der Schweizer Gesandtschaft residierte und wo seit 1942 Carl Lutz (1895– 1975) als Vizekonsul tätig war. Zu dieser Zeit wurden die Juden in Ungarn durch eine Vielzahl von Gesetzen drangsaliert, die durchaus ähnlich den Nürnberger Rassegesetzen waren. Innerhalb von zwei Jahren organisierte Lutz die legale Ausreise von ca. 10.000 jüdischen Kindern nach Palästina. Mit der Besetzung durch die Deutschen im März 1944 wurde die Lage der ungarischen Juden vollends prekär: Adolf Eichmann reiste persönlich an, und binnen Wochen wurden Hunderttausende deportiert. Schon Ende Juli existierte lediglich in Budapest noch eine jüdische Gemeinde.
Man mag kaum noch den Mund öffnen, ob mit oder ohne Maske, um sich an der Sprachdebatte zu beteiligen. Es scheint unmöglich, dem Sprachgeist Gehör zu verschaffen. Ja, er lebt zwischen den Menschen, in ihnen, aber er ist Geist und das heißt, er hat keinen Körper, keine Sexualität und keine Seele wie wir. Dann wäre da noch das Gewissen – es hat eine Stimme, ist also sprachmächtig, aber ebenfalls körperlos und ungeschlechtlich.