Israel von innen gesehen
Kaum ein anderes Land ist so heftig umstritten und ruft bei vielen Menschen derart reflexhafte Reaktionen hervor wie Israel. Und kaum ein Konflikt scheint so heillos verworren und von einer friedlichen Lösung so weit entfernt zu sein wie der zwischen Israelis und Palästinensern. Doch erst ein Verständnis der vielschichten Wirklichkeit Israels und der spirituellen Hintergründe dieses Konflikts kann dessen Lösung ermöglichen. Der folgende Beitrag versucht, Israel im doppelten Sinne des Wortes von »innen« heraus begreiflich zu machen: aus der Sicht eines Israelis und der eines Anthroposophen.
Das Moskauer Darwin-Museum, Goethe und die Anthroposophie
Manchmal kann man darüber verzweifeln, wie wenig sich Naturforscher für Goethes und Rudolf Steiners Ideen zur Erneuerung der organischen Wissenschaft interessieren. Das kann wohl gegenwärtig noch nicht anders sein. Umso größer ist die Freude, wenn man einmal auf solches Interesse stößt – selbst dann, wenn es nur historisch ist. In dem hier zu beschreibenden Fall handelt es sich um eine frühe Verbindung zwischen Darwinismus, Goetheanismus und Anthroposophie.
Oswald Spengler und Rudolf Steiner
Vor einem Jahrhundert erschienen die beiden Bände eines monumentalen Werkes, das zu den meistgelesenen Büchern der Weimarer Republik gehörte und bis heute eines der umstrittensten Werke der Geschichtsphilosophie ist: Oswald Spenglers ›Der Untergang des Abendlandes. Umrisse eine Morphologie der Weltgeschichte‹, dessen erster Band ›Gestalt und Wirklichkeit‹ 1918 und dessen zweiter Band ›Welthistorische Perspektiven‹ 1922 veröffentlicht wurde. Der Titel ist zu einem politischen, wenn auch oft ironisch gebrauchten Schlagwort geworden, das mit jeder neuen Krise die Geister mobilisiert. Lange Jahre in Vergessenheit geraten, erlebten Autor und Werk im Spengler-Jahr 2018 eine bescheidene Renaissance sowohl in Presse und Rundfunk als auch im universitär-akademischen Kontext. So veranstaltete die neu gegründete ›Oswald Spengler Society‹ ihre erste Konferenz und verlieh dem französischen Schriftsteller Michel Houellebecq – jüngst weithin diskutiert wegen seines Romans ›Die Unterwerfung‹ (2015) – im Oktober vergangenen Jahres in Brüssel den ersten ›Oswald-Spengler-Preis‹.
Sinn und Auftrag der Waldorfpädagogik
Man sagt, die Waldorfpädagogik sei eine Erziehung zur Freiheit. Sie strebe danach, die Anlagen, die jedes Kind in sich trage, in umfassender Weise zu entwickeln. Ja, das ist eines ihrer Ziele – aber eben nur eines. Im August 1919, kurz vor der Begründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart, erläuterte Rudolf Steiner den Dornacher Anthroposophen, was mit der Waldorfschule eigentlich erreicht werden soll. Es geht um eine dreifache Befähigung des späteren, erwachsenen Menschen: zu Freiheit im sozialen Miteinander, zum Verständnis von Gleichheit im rechtlichen Bereich, und – als höchstes Ideal – zu Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben. Steiners Analyse war eindeutig: »Eine der allerwichtigsten sozialen Fragen für die Zukunft ist die Erziehungsfrage.« Was in der Kindheit und Jugend entwickelt wird (oder nicht), bestimmt das Denken, Fühlen und Wollen des späteren Lebens und damit das soziale Miteinander in umfassender Weise. Man muss bis zu einem gewissen Grad selbst seelisch gesund sein, wenn man sich gesund verhalten können soll.
Als Rudolf Steiner am 10. Januar 1925 die Vorrede zur Neuauflage seiner ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ schrieb, war ihm das Anlass für einen Rückblick auf seine innere Situation fünfzehn Jahre zuvor beim Verfassen dieses Buches. Insbesondere war er damals darum bemüht, ja besorgt gewesen, den Gehalt seiner esoterischen Aussagen für seine Zeitgenossen so verständlich wie möglich zu formulieren. So kreisen seine knappen Ausführungen in dieser Vorrede denn auch um das Thema der »Verständlichkeit«. Und sie erhalten im Hinblick auf seinen nahe bevorstehenden Tod einen vermächtnishaften, vorausblickenden, zukünftigen Charakter. Denn Rudolf Steiner würde nun selber seinem Buch nicht mehr mit neuen Erläuterungen, Verbesserungen oder der Anpassung an veränderte Lesegewohnheiten beistehen können. Ein letztes Mal noch brachte er alle Sorgfalt auf, die Bedingungen für ein angemessenes Verstehen seiner Aussagen klar mitzuteilen.
»Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, selbst wenn wir keine Augen haben.« Jacques Lusseyran beschließt mit diesem Satz sein Werk ›Das wiedergefundene Licht‹ – die Autobiografie eines Menschen, den seine Blindheit sehen lehrte. Sein Todestag jährt sich bald zum 45. Mal – er starb am 27. Juli 1971 bei einem Autounfall. Es war ihm vergönnt, trotz (oder gerade wegen) seiner vollständigen Erblindung ein inneres Licht zu erleben, und hierin eine Quelle von Kraft, Orientierung und Initiative zu finden. In der vorliegenden Skizze sei – auch in Erinnerung an Jacques Lusseyran – auf Fährten hingewiesen, das Licht in einem größeren Zusammenhang als dem der bloßen Beleuchtung zu sehen.
Vom ewigen Namen des Menschen
In den Märztagen des Jahres 1925 verfasste Rudolf Steiner für die Zeitschrift ›Das Goetheanum‹ seine letzten Beiträge zu zwei Artikelserien, die später in Buchform erschienen: seine Autobiografie ›Mein Lebensgang‹ und die als Anregung für die geisteswissenschaftliche Arbeit im Rahmen der 1923 zu Weihnachten neugegründeten Anthroposophischen Gesellschaft gedachten ›Anthroposophischen Leitsätze‹. Beide Werke – das erste von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Ursprungs der Anthroposophie, das zweite für ihre geisteswissenschaftliche Vertiefung – blieben Fragment. Ist die Autobiografie besonders der Vergangenheit verpflichtet, so gipfeln die Leitsätze in einer Zukunftsperspektive, die inzwischen längst Gegenwart geworden ist.
Der Nahe Osten zwischen den Weltkriegen – Teil II
Die Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg war durch das Sykes-Picot-Abkommen sowie die Konferenz von San Remo nur insofern vorgenommen worden, als Frankreich und Großbritannien ihre Einflusszonen voneinander abgrenzten. Was innerhalb dieser Zonen geschah, musste erst noch geklärt werden. Der folgende Artikel betrachtet die Entwicklung in Syrien und dem Libanon.
Der Philosoph Aldous Huxley und die Gegenwart
Ursprünglich war es ein Zitat aus einem Drama William Shakespeares, bevor es zum Titel eines Romans und darauf folgend zu einem geflügelten Wort wurde: Aldous Huxley schrieb mit seinem 1932 erschienenen Roman [›Schöne neue Welt‹] (engl. ›Brave New World‹) nicht nur einen Weltklassiker, sondern er gab tiefgehenden Befürchtungen einer dystopischtechnokratischen Zukunftsgesellschaft einen Namen, die nun im Kontext der seit einigen Jahren von gewissen Kreisen angestrebten »Vierten industriellen Revolution« neue Brisanz gewinnen. Angeregt zu seinem Roman hatte Huxley insbesondere die Autobiografie des Automobilmagnaten und Mitbegründers der Fließbandfertigung Henry Ford (1863-1947), in der Ford eine zentral geführte und hoch technisierte Massenproduktion propagierte. Huxley ahnte sofort die ungeheure Wirkmächtigkeit dieser Fortschrittsutopie und die damit einhergehenden Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben. So lässt er seine »Schöne neue Welt« im Jahre »632 A.F.«, d.h. »Anno Fordii« beginnen, also 632 Jahre nach 1908 (2540), als das erste Ford T-Modell vom Band lief. Huxleys Dystopie ist eine Gesellschaft, in der die einseitig technologischen Prinzipien bereits restlos die soziale Wirklichkeit beherrschen: Durch künstliche Fortpflanzung werden die Menschen genetisch manipuliert und planwirtschaftlich zur Erfüllung bestimmter, eingegrenzter Tätigkeiten herangezüchtet, um letztendlich - durch die Droge Soma, Propaganda, sowie vielfältige Indoktrinations- und Zwangsmittel zu Gliedern eines perfekt funktionierenden Gesellschaftsapparates konditioniert – ihr Leben als Industriesklaven zu fristen.
Die Schöpfung aus dem Nichts
Die Menschheit befindet sich an einer Bewusstseinsschwelle, die in Krisenzeiten besonders deutlich erlebbar ist. Alte Verhaltensmuster und neue, zukunftsorientierte Denkansätze ringen miteinander, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt zu überwinden. Die vielen »sinnvollen Zufälle«, die uns im Alltag passieren und zwischen Ich und Welt vermitteln, waren bereits im 20. Jahrhundert gemeinsames Forschungsthema von Wolfgang Pauli und Carl Gustav Jung. Der Nobelpreisträger für Physik und der Tiefenpsychologe zeigten in ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit, dass es sich bei solchen »Synchronizitäten« um individuelle Schöpfungsakte handelt, die Zukünftiges in der Gegenwart erscheinen lassen. Rudolf Steiner nannte dies die »Schöpfung aus dem Nichts«.
Zwei neue Bücher über Goethes Farbenlehre
als Urbild, Seelenweg, Heilkraft und als den Jahreslauf begleitende Meditationsweisen
An einigen Stellen in seinem Gesamtwerk erwähnt Rudolf Steiner die Kultivierung und Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte »Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen« und weist zugleich in seinem einzigen diesem Thema ganz gewidmeten Vortrag vom 14. Mai 1912 in Berlin mit besonderer Eindringlichkeit darauf hin. In diesem Vortrag beschreibt er Staunen, Mitgefühl und Gewissen als eine Dreiheit, ohne deren Existenz, Pflege und Bildung im menschlichen Herzensraum die Erde als Christusträger ihr Ziel im Sinne der Schöpfung nicht erreichen würde.
Gibt es eine Auferstehung aus dem Tod des mechanisierten Denkens?
Wir können denken, wir wissen auch von dieser Fähigkeit, wir wissen aber nicht, wie wir denken. Wir können sprechen, von dieser Fähigkeit wissen wir auch, aber hier wissen wir ebenfalls nicht, wie wir das machen. Der heutige Erwachsene kann auf sein Bewusstsein reflektieren, aber nur auf dessen Vergangenheit. Wenn ich etwas verstehe, wird mir der Gedanke bewusst, den Prozess des Verstehens selbst erlebe ich nicht.
Seit rund dreißig Jahren wird am Hardenberg Institut in Heidelberg entwickelt, was inzwischen als Dialogische Führung bzw. Dialogische Kultur bekannt geworden ist. Damit wird etwas ganz Spezifisches bezeichnet, nicht einfach nur (wie manche meinen), dass man »miteinander redet«. Miteinander zu reden, ist ja auch in anderen »Kulturen« nicht ganz ausgeschlossen! In der Dialogischen Kultur sucht man das Gespräch unter bestimmten Gesichtspunkten, die eingehend beschrieben wurden.
Elemente der Spracherneuerung bei Rudolf Steiner und Tendenzen im gegenwärtigen Sprachgebrauch
»Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, dichtete Rainer Maria Rilke im Jahr 1898 und drückte damit sein Erschrecken über scheinbar eindeutige Weltinterpretationen und sprachliche Vordergündigkeiten aus. Bei Hugo von Hoffmannsthal äußerte sich zu gleicher Zeit eine tiefe Skepsis gegenüber den eigenen Ausdrucksmitteln, wie er in seinem 1902 entstandenen ›Brief‹ des Lord Chandos an Francis Bacon offenbarte. Sprache, offensichtlich auch die poetische, schien dem menschlichen Ausdrucks- und Verständigungsbedürfnis nicht mehr zu genügen. Hofmannsthals Lord Chandos wünscht sich »eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen«, die »unmittelbarer, glühender ist als Worte«. Ein solcher Wunsch lässt alles Herkömmliche hinter sich und greift in den Bereich hinter den Wörtern, ins Übersinnliche hinein.
Klar, Licht ist unsichtbar! Das ist der unumstößliche Ausgangspunkt. Aber: Was sieht man denn in den Fällen, in denen man sagt, man sähe Licht? Licht erzählt von seiner unsichtbaren Anwesenheit, indem es ein Sinnenfälliges für das Auge sichtbar macht. Das unsichtbare Licht benötigt immer etwas, das in seiner Gegenwart zur sinnlichen Erscheinung kommt, um dem Sehenden von seiner – des Lichtes – Anwesenheit zu berichten.
Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität
Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.
Auferstehungsmomente der Naturwissenschaft
Die klassische Naturwissenschaft stieß gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Erkenntnisgrenzen, die zu überwinden einen neuen Blick auf das Verhältnis von Mensch und Welt erforderte. Mit der Quantenphysik vollzog sich ein Paradigmenwechsel, nach dem der Quaternität (Vierzahl) besondere Bedeutung zukommt. Für den Physiker Wolfgang Pauli ließen sich damit »sinnvolle Zufälle« verorten – Sinnkorrespondenzen zwischen äußeren Ereignissen und innerem Erleben, die er gemeinsam mit dem Psychiater Carl Gustav Jung fast drei Jahrzehnte lang erforschte. Um den Sinn in solchen Korrespondenzen zu begreifen, bedarf es allerdings eines lebendigen Zeitbegriffs und eines intimen Verständnissesdes viergliedrigen Menschen, der sich »seelisch umwenden« und darin zu einem wirklichkeitsgemäßen Erkennen gleichsam auferstehen kann. Das Ostergeschehen um Maria Magdalena bringt diesen Erkenntnisprozess ins Bild.
Annäherungen an Poetologie, Sprache und Aktualität Paul Celans im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags
Den äußeren Anlass für diesen Aufsatz bilden der 100. Geburtstag Paul Celans am 23. November und sein 50. Todestag am 20. April in diesem Jahr. Den inneren Anstoß gibt die unausweichliche Aktualität seines Werks. Ich werde dieser Aktualität vor allem unter dem Aspekt von Celans werkimmanenter Poetologie und Sprachauffassung nachgehen. Zweifelsohne gibt es auch Themen in Celans Lyrik, von denen aus sich im Jahr 2020 Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Aktualität herstellen lassen. Auch wenn die thematischen Aktualitäten besorgniserregend genug sind, möchte ich doch die poetologischen Implikationen vorziehen, weil mir scheint, dass deren spirituelle Dimension alle anderen Aktualitäten umfasst und sie in ihr gut aufgehoben sind. Mit dieser Akzentuierung berühre ich erkenntnistheoretische und rezeptionelle Fragestellungen grundlegender Art, die mit der Frage nach den möglichen Zugängen zu Celans Gedichten unmittelbar verbunden sind.
Zu Friedrich Schillers Geburtstag am 10. November und zur Gründung der Waldorfschule 1919
Die Schiller-Rezeption in Deutschland war im 19. Jahrhundert zunächst ein bürgerliches Unternehmen. Friedrich Schiller wurde zum Nationaldichter, zum Vorkämpfer für ein nationales Selbstbewusstsein und für die nationale Einheit. Dass er eine solche Vereinnahmung vehement zurückgewiesen hätte, wurde einfach ignoriert. Schiller hatte dazu, geradezu vorausschauend, an seinen Freund Christian Gottfried Körner geschrieben: »Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehn.«
Ein Hinweis auf den anthroposophischen Kabbala-Forscher Ernst Müller
Dass Rudolf Steiner ein außerordentlich positives Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern hatte, ist durch das Beispiel der beiden Stuttgarter Anthroposophen Carl Unger und Adolf Arenson weitläufig bekannt. Beide waren säkularisierte Juden, die wegen ihrer intellektuellen und philosophischen Begabungen schon in den frühen Jahren der anthroposophischen Arbeit Steiners Anerkennung und im Falle von Unger eine anhaltende, intensive Förderung erfahren haben. Beide waren überdies als Redner für die Verbreitung der Anthroposophie umfassend tätig. Während Unger nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den wissenschaftlichen Kongressen der anthroposophischen Bewegung sprach, bemühte sich Arenson vor allem um die Erschließung des Vortragswerkes Rudolf Steiners. Unger publizierte überdies im Laufe seines Lebens zahlreiche philosophische Werke, die eine eigenständige Erschließung der Anthroposophie zum Ziel hatten und von Rudolf Steiner geschätzt wurden. Weniger bekannt ist hingegen, dass Rudolf Steiner auch religiöse Juden zu seinen Schüler zählte, die er ebenso förderte, und zwar im Hinblick auf die Erforschung des esoterischen Judentums, insbesondere der Kabbala. Um die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit einem solchen Schüler, dem aus Wien stammenden Ernst Müller, soll es im Folgenden gehen.
Warum Wirtschaftssanktionen kein sinnvolles Instrument der Politik sein können
Der für viele Beobachter völlig überraschende Einmarsch Russlands in die Ukraine hat eine Welle von Wirtschaftssanktionen ausgelöst. Insbesondere glaubt man, Russland dadurch hart treffen zu können, dass die meisten russischen Bankhäuser aus der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommuni-cation‹ (SWIFT) ausgeschlossen werden sollen. Diese Einrichtung leitet Finanztransaktionen zwischen ca. 11.000 Banken, Brokerhäusern, Börsen usw. in etwa 200 Ländern über SWIFT-Nachrichten weiter und wickelt damit den Nachrichten- und Zahlungsverkehr der angeschlossenen Firmen und Institutionen ab. Da ein juristisch abgesicherter Zahlungsverkehr über Ländergrenzen hinweg heute praktisch nur noch mit SWIFT möglich ist, glaubt man, mit dieser Maßnahme Russland ökonomischen Schaden zufügen zu können. Schließlich hatte man mit ähnlichen Maßnahmen schon den Iran empfindlich getroffen. Eine weiterer finanzieller »Nuklearschlag« gegen Russland soll das Einfrieren der russischen Devisenreserven im internationalen Zentralbanksystem sein. Nach zuletzt verfügbaren Statistiken lagen 630 Mrd. Dollar Devisenreserven entweder bei anderen Notenbanken, der [›Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich‹ (BIZ) sowie dem Internationalen Währungsfonds. Russland hatte diese Reserven in den letzten Jahren systematisch erhöht, d.h. es hat Jahr für Jahr weniger Leistungen vom Ausland in Anspruch genommen, als es diesem - vor allem durch seine umfangreichen Rohstoffverkäufe - geleistet hat. Theoretisch könnte Russland ein Jahr lang seine Importe damit bezahlen, ohne irgendetwas exportieren zu müssen. Da aber sowohl die USA als auch die EU Geschäfte mit der russischen Zentralbank verboten haben, kann es einen großen Teil dieser Reserven nicht mehr nutzen. »Der Rubel ist im freien Fall. Die Kriegskasse von Wladimir Putin ist empfindlich getroffen«, verkündete Deutschlands Finanzminister Christian Lindner am 8. März nach Gesprächen mit seinen G7-Kollegen. Doch Russland rechnet komplett anders als die westliche Welt. Und es könnte sein, dass die russische Rechnung am Ende aufgeht.
Die »Russische Welt« und das geistige Russland
Unter dem Titel ›Darf es eine freie Ukraine geben?‹ versuchte der Verfasser im März/April-Heft dieser Zeitschrift – noch ganz unter dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine stehend – dem Grund des Handelns von Präsident Wladimir Putin nachzuspüren. Ausgangspunkt war die Analyse seiner Kriegserklärung, der langen »historiosophischen« Ansprache vom 21. Februar 2022. Umrisshaft trat als Ergebnis das Bild eines – bei aller mörderischen Aktualität – atavistischen, autokratischen, russisch-ostslawischen Staates in Erscheinung, der sich die Rettung, Verteidigung und Ausbreitung der »russkij mir«, der »Russischen Welt« – auf die Fahnen geschrieben hatte.Wenn wir von »Putins Krieg« oder »Russlands Krieg« sprechen, dann sind das Abstraktionen, hinter denen als Konkretum der Begriff (oder das »Wesen«) dieser »Russischen Welt« steht. Was aber ist die »russkij mir«? (Wobei »mir« ja im Russischen doppeldeutig ist und sowohl »Welt« als auch »Frieden« bedeuten kann.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Eine Korrektur
Rudolf Steiner gibt im II. Teil seiner ›Philosophie der Freiheit‹ – auf der Grundlage der vor allem erkenntnistheoretischen Überlegungen des I. Teils, die zur Einsicht in den universellen Charakter des reinen Denkens1 und zum zentralen Begriff der Intuition führen – eine Beschreibung dessen, was ihm als menschen- und zeitgemäße Ethik vorschwebt. Er nennt sie den »Ethischen Individualismus«. Steiner hielt seine ›Philosophie der Freiheit‹ für so grundlegend und bedeutsam, nicht zuletzt als Fundament der Anthroposophie, dass er sein Leben lang an ihr festhielt. Deshalb ließ er 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen auch eine zweite Auflage folgen und bereits 1921 noch eine dritte. Und deshalb hat Steiner in seinem Gesamtwerk auch mehr als 200-mal auf die ›Philosophie der Freiheit‹ verwiesen, was die Bedeutung, die er ihr beimaß, eindrücklich unterstreicht.
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Der Ausdruck »Akasha-Chronik« (engl. akashic records) erscheint bei Rudolf Steiner als terminologischer Import aus der anglo-indischen Theosophie des 19. Jahrhunderts im Sinne eines überpersönlichen Weltgedächtnisses, als »das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens«. Die geläufige Bezeichnung für den Zugang zu diesem Gedächtnis lautet »Lesen in der Akasha-Chronik«. Der Ausdruck selbst und das entsprechende »Lesen« werden von Steiner nicht systematisch begrifflich entwickelt, und oft ist dies »Lesen« mit anderen Weisen der spirituellen Erkenntnis austauschbar und wird auch schon einmal »Lesen im Chaos« genannt. In seinen Vorträgen erzählte Steiner vielfach darüber, im schriftlichen Werk taucht der Ausdruck zentral nur in der frühen Aufsatzreihe ›Aus der Akasha-Chronik‹ (1904 bis 1908) auf, in der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ (1910) wird er lediglich noch beiläufig – und dies nur in Anführungsstrichen – erwähnt. Da diese Aufsatzreihe von der Darstellungsweise her die erzählerischste Schrift Steiners ist, liegt es nahe, sie unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch eigens zu betrachten. Als Rezipienten seiner Schriften sind wir überdies nicht eigentlich Zeugen seines Zugangs zur Akasha-Chronik. Vielmehr sind es seine Mitteilungen, ist es sein Erzählen, sind es die »Ausdrucksformen«, wovon wir Kenntnis nehmen, weshalb es naheliegt, weniger von einem Lesen, als vielmehr von einem »Erzählen aus (oder von) der Akasha-Chronik« zu sprechen.
Im Vorhof der Esoterik: Goethes Rätselmärchen
Befassen wir uns mit dem Erzähler Rudolf Steiner, dann sollten wir uns auch in das Thema der »Esoterik der Erzählung« vertiefen. Genau dafür treffen wir im Werk Steiners auf einen Schlüsseltext. Es ist ›Das Märchen‹ aus Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, einer Sammlung von sechs Novellen und dem Märchen im Zusammenhang einer Rahmenhandlung. Was lässt sich daraus über die Esoterik der Erzählung lernen? Inwiefern konstituiert diese Schrift Goethes in ihrem Kontext eine Erzählung über die Art, wie wir »höhere Erkenntnisse« erlangen könnten? Wie hat Steiner sie aufgegriffen? Und warum hat sie für ihn einen so hohen Stellenwert?
Perspektiven einer allgemeinen Erzähltheorie
Traditionell verstehen wir unter Erzählungen Geschichten, die in Form von Mythen, Märchen oder Romanen kulturell überliefert sind oder von Schriftstellern verfasst werden. Sie gelten als Produkte der Phantasie. Auch wenn sie für unsere Lebensorientierung Bedeutung haben und das Fiktive sowie das Imaginäre so etwas wie eine anthropologische Disposition darstellen, sind Erzählungen als eine Art Feierabendprodukte doch von der nüchternen Tagesarbeit und dem klaren Tatsachenwissen geschieden. Ein Roman ist eben, nach traditionellem Verständnis, keine Biografie und eine historische Erzählung kein Roman. Doch die selbstverständliche Unterscheidung zwischen dem Faktischen, die für den wissenschaftlichen, und dem Fiktiven, die für den künstlerischen Text gilt, ist fragwürdig geworden. Erzählen können wir nämlich immer schon beides: erfundene Geschichten und tatsächlich erlebte. Die Erzählung als produktive Schöpfung kann sich so eng wie möglich an die erlebten Tatsachen halten oder vor Erfindungslust übersprudeln, immer ist sie Erzählung, erzählende Tätigkeit.