Die Impulse zur Gründung der Christengemeinschaft
Der Beginn der Impulse, die zur Gründung der Christengemeinschaft führten, bestand in einer Frage. Eine richtig gestellte Frage trägt die Kraft ihrer Beantwortung in sich. Auf das Stellen solcher Fragen kommt es an, wenn sich etwas ändern soll in der Welt. In der Zeit vor rund 100 Jahren, als Rudolf Steiner jene Kurse und Vorträge über verschiedene Lebensgebiete hielt, die durch die Anthroposophie eine Erneuerung und Befruchtung erfuhren, wurden zahlreiche solcher Fragen gestellt.
Anthroposophische Bewegung und Bewegung für religiöse Erneuerung als die Pole des freien Geisteslebens
Die Gründung der Christengemeinschaft bezeichnete Rudolf Steiner als »wichtigstes Ereignis der anthroposophischen Geschichte«. Allerdings wusste er, dass dadurch die Gegner der anthroposophischen Bewegung noch weiter herausgefordert werden würden. Der vorliegende Artikel untersucht, wie die beiden großen Gegenimpulse der Verstandes- oder Gemütsseelenepoche mit den unterschiedlichen Aufgaben der Bewegung für religiöse Erneuerung und der anthroposophischen Bewegung in der Gegenwart zusammenhängen. Der Goetheanumbrand erscheint wie ein Bild dafür, dass diese Aufgabe noch nicht gelöst werden konnte.
Aus dem Umkreis der Christengemeinschafts-Gründung
Die dicht gedrängte Folge von Hundertjahrfeiern einiger bedeutender Gründungen, welche durch die Anthroposophie Rudolf Steiners ermöglicht worden sind, schärft den Blick für allfällige Gefahren, denen man als Beteiligter ausgesetzt ist.
Zur Erinnerung an Paul Klein (1871–1957)
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Christengemeinschaft sollte auch an Paul Klein erinnert werden, der als einflussreicher evangelischer Stadtpfarrer in Mannheim und persönlicher Schüler Rudolf Steiners der jungen Gemeinschaft die Wege ebnete. Zugleich sei einiges aus seinem Wirken für die anthroposophische Gesamtbewegung mitgeteilt, wobei hier nur einzelne Aspekte und Ereignisse aus seinem Leben berührt werden können.
Hölderlin sagt in seinem ›Hyperion‹ Ungeheueres, das weit über jeden sch.ngeistigen oder bildungsbürgerlichen Romaninhalt hinausgeht. Es handelt sich, in der Tiefenschicht, auch um keine autobiografische Schilderung seines Seelentums. Denn das Werk beinhaltet die Darstellung universeller Gesetzlichkeiten.
Notker III. von St. Gallen (um 950 – 29. Juni 1022)
Ein Mann, der vor tausend Jahren gestorben ist – inwieweit kann der uns heute interessieren? Die Nachwelt gab ihm immerhin den Beinamen Teutonicus, also der Deutsche. Ist ein solcher Beiname und gar die Würdigung seiner Arbeit als »Dienst an deutscher Sprache und deutschem Denken« heute in Deutschland nicht obsolet? (Ein Schweizer Mediaevist hat damit offenbar keine Probleme.) Geht man der Bedeutung dieses Beinamens aber etwas nach, dann stößt man auf die Lebensleistung dieses Mannes und vielleicht auch auf die Berechtigung, nach tausend Jahren seiner zu gedenken. Es ist der Benediktinermönch Notker III. von St. Gallen, um 950 geboren und am 29. Juni 1022 gestorben.
Zu Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre 1884-1890‹*
In Fortsetzung ihrer 2018 erschienenen dokumentarischen Biografie über Rudolf Steiners Kindheit und Jugend hat Martina Maria Sam – Eurythmistin, promovierte Geisteswissenschaftlerin, Vortragende und Publizistin sowie Herausgeberin im Rudolf Steiner Archiv – nun einen Band über Steiners Wiener Jahre vorgelegt. Ihm stellt sie einen Ausschnitt aus den Erinnerungen des Jugendfreundes Fritz Lemmermayer voran, der die Dramatik »jene[r] denkwürdige[n] Zeit, als Rudolf Steiner seine Schwingen zu entfalten begann«, treffend charakterisiert: als eine Zeit »erfüllt von geistigen Kämpfen, geistigen und sozialen Umstürzen, fest aneinander stoßenden Kontrasten. Altes brach zusammen, Neues rang leidenschaftlich nach Gestaltung. Ein krasser Materialismus wurde Mode in Wissenschaft und Leben. […] Die Naturwissenschaft […] griff, von ihren Erfolgen berauscht, über in das Gebiet von Philosophie und Religion. […] Ein Maschinenzeitalter von umwälzender Kraft hatte weit die Pforten geöffnet. In Verbindung damit war der sogenannte ›wirtschaftliche Aufschwung‹ in die Erscheinung getreten. […] Dem gegenüber eine idealistische Hochflut und ein immer hoffnungslos einsetzender Pessimismus. […] Materialismus, Pessimismus, Atheismus – so hießen die drei grauen Gestalten und Gewalten, welche Ketten für die Menschen schmiedeten. Es wirkte, was ›Aufklärung‹ genannt wurde – eine Aufklärung der Verdunkelung« (S. 11).
Zu Laszlo Böszörmenyi: ›Georg Kühlewind‹*
Es wird eine Kühlewind-Biografie geben! Die Nachricht rief Freude bei mir hervor, begleitet von der leisen Frage: Was würde er selbst dazu sagen? Er, der sich selbst nicht wichtig nahm und sich mit detaillierteren Informationen über sein Leben deutlich zurückhielt. Würde nun vielleicht wider seinen Willen zu viel öffentlich gemacht werden? Aber natürlich ist es dem Autor, Laszlo Böszörmenyi, der Georg Kühlewind immerhin 28 Jahre gekannt hat, sein Schüler war und sein Freund, nicht entgangen, dass dieser .selten und ungern über sich selbst sprach. (S. 33). Und er hat sich, wie er eingangs bemerkt, während des Schreibens zur Orientierung immer wieder Kühlewinds intensiven, forschenden und vor allem im Alter gütigen Blick vergegenwärtigt.
Zu Rüdiger Sünner: ›Der Geschmack der Unendlichkeit‹*
Der Dokumentarfilmer, Musiker und Autor Rüdiger Sünner ist uns durch seine Filme und Bücher zu Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts bekannt, die er jeweils zu einem besonderen Aspekt ihrer Spiritualität befragt. Dazu gehören Künstler wie Paul Klee und seine Nilfahrt, Rainer Maria Rilke und die Engel, Paul Celan und die jüdische Mystik. Auch Forscher wie der Psychologe C.G. Jung, der Anthroposoph Rudolf Steiner oder die Theologin Dorothee Sölle proträtiert Sünner. Sein jüngstes Projekt widmet sich unter dem Titel ›Heilige Spiele‹ dem Werk von Johann Sebastian Bach. Bekannt wurde Sünner Ende der 1990er Jahre durch seine unbeirrte Recherche nach den esoterischen Hintergründen des Nationalsozialismus in Film und Buch ›Schwarze Sonne‹. In ›Das kreative Universum‹ befragte er namhafte Physiker nach den spirituellen Grenzfragen ihres kosmologischen Denkens. Zuletzt forschte er unter dem Losungswort ›Wildes Denken‹ tiefschürfend nach dem Beitrag indigener Kulturen – auch unserer eigenen europäischen – zu den Chancen eines der Natur und uns selber gegenüber wahrhaftigeren Denkens, ähnlich wie er sich zuvor in ›Geheimes Europa‹ mit eher romantischen Weltdeutungen auseinandersetzte.
Zu Dieter Henrich: ›Ins Denken ziehen‹*
Versucht man einmal, die Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert zu überschauen, so fällt einem auf, dass die gleichsam monolithischen und wirkmächtigen Denkerpersönlichkeiten im Laufe der Zeit nicht nur zahlenmäßig abgenommen, sondern sich auch zunehmend spezifiziert haben. Die pr.gende Orientierung der Philosophie am Phänomen der Sprache hat sich, ausgehend von ihren großen Protagonisten, dem Sprachmystiker Martin Heidegger und dem Sprachtechniker Ludwig Wittgenstein, zum einen in mehr literarisch orientierte, zum anderen in analytisch orientierte Richtungen verzweigt, ergänzt durch eine zunehmend soziologisch und politisch orientierte Richtung, wie sie die Frankfurter Schule repräsentiert.
Zu Wolfgang Andreas Schultz: ›Europas zweite Renaissance‹
Wolfgang-Andreas Schultz ist ein Grenzgänger: Als Komponist erkundet er die Durchlässigkeit der eigenen abendländischen Tradition gegenüber dem Anderen, dem Fremden – aber auch gegenüber dem Verdrängten und Vergessenen innerhalb unserer eigenen Kultur. In seinem nun erschienenen Essay über das immer noch im alten Kontinent schlummernde geistig-kulturelle Potenzial offenbart sich dieselbe Haltung, dieselbe Handschrift.
Zum 115. Todestag von Edvard Grieg (15. Juni 1843 – 4. September 1907)
Wer von Schweden aus die Grenze nach Norwegen übertritt, wird sogleich von zwei großen Trollen aus Stroh empfangen. Sie sehen nur bedingt vertrauenswürdig aus und bevölkern in kleineren, durchweg hässlichen Ausgaben ganz Norwegen, in allen Souvenirläden zumindest. Und sonst? – Von Strömstad in Schweden nach Sandefjord in Norwegen, im Bogen vor dem Oslofjord, ging die Fähre. Weiter fuhren wir mit dem Auto nach Skien, wo der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828–1906) geboren und aufgewachsen ist. ›Thoras hyttan‹ (Thoras Hütte), von Einheimischen vermittelt und mehr als einfach, erschien als einzige Übernachtungsmöglichkeit. Die alten Götter scheinen hier noch lebendig zu sein. Ibsens Geburtshaus Stockmanngården steht nicht mehr, es lag in einer armselig wirkenden, stark abschüssigen Straße. Im Zentrum der Stadt steht sein Denkmal. Etwas außerhalb ist in dem Bauernhaus Venstøp, in dem er seine Kindheit verlebte, jetzt ein Museum eingerichtet.
Ich schaue in den Himmel. Wolkenlos. Ein Flugzeug glitzert in der Sonne, schwebend zieht der Rotmilan seine Kreise. – Ich war eine Weile krank, aus dem Körper ausgeflogen, und bin noch nicht ganz wieder zurück, angekommen im leiblichen Selbstverständnis. Ist man gesund, dann stehen die Sinne offen, wie Türen, durch die man ein- und ausgeht. Jetzt muss ich sie selber öffnen. Die Plastizität des Sehens verlangt Krafteinsatz, der aus Erfahrung stammt. Im ersten Augenblick sah ich Milan und Flugzeug auf derselben Ebene, nebeneinander. In Wirklichkeit trennten den Vogel und das Fluggerät natürlich Tausende Höhenmeter – was ich dann einsah.
Erfahrungen mit einer Ballade von Johannes R. Becher
Im Folgenden möchte ich die Umstände beschreiben, die dazu führten, dass Johannes R. Bechers Ballade ›Kinderschuhe aus Lublin‹ sich in ganz besonderer Weise meiner Erinnerung eingeschrieben hat.
Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat das Wort stets ein Unbehagen in mir ausgelöst. Als Kind habe ich nicht weiter über die Gründe nachgedacht. Aber später wollte ich wissen, was es mit der Abneigung auf sich hat.
Bescheiden und freilassend
Zu Stephan Eisenhut: ›Zwei Kämpfer für eine soziale Zukunft‹, in die Drei 3/2022
Am 18. November 2022 fand ein konzertierter Angriff gegen die Anthroposophie in den deutschen Medien statt. Deren Kernstück war eine ›ZDF-Zoom‹-Reportage mit dem manichäisch anmutenden Titel: ›Anthroposophie – gut oder gefährlich?‹, die vor knapp einem Jahr gedreht worden war und deutliche Spuren der damaligen Stimmung trug, in der die Diskriminierung, ja Dämonisierung Andersdenkender in deutschen Redaktionsstuben zum guten Ton gehörte. Der Journalist Jochen Breyer zieht darin das Resümee: »Anthroposophie ist eben auch Karma, kosmische Kräfte und immer wieder die Überzeugung, dass Wissenschaft nicht alles ist, dass Wissenschaft begrenzt ist, und genau das ist gefährlich. In der Pandemie haben wir bemerkt, was es bedeutet, wenn das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt.« Verwundert nimmt man zur Kenntnis, dass Wissenschaft neuerdings »alles« zu sein hat, dass offensichtlich Religion und Kunst nicht mehr neben ihr als gleichberechtigte Ausdrucksformen des menschlichen Geistes stehen dürfen. Stattdessen scheint Wissenschaft für viele Menschen zu einer Art Staatsreligion geworden zu sein, an der Zweifel zu hegen und von deren Grenzen zu sprechen als gemeingefährlich gilt.
Manipulative Medienpädagogik auf dem Vormarsch
Am 5. Juli 2022 stimmte das EU-Parlament dem ›Digital Services Act‹ zu. Die dramatischen Folgen für die Möglichkeiten freier Meinungsbildung und -äußerung habe ich hier bereits aufgezeigt. Die meisten der damit beschlossenen Maßnahmen treffen jegliche Art von »Falschbehauptung« – unabhängig davon, ob sie absichtlich oder unabsichtlich getätigt wurde, und ob sie legal oder illegal ist. Von solchen »Falschbehauptungen« im Allgemeinen unterscheidet die EU-Kommission jedoch gezielte »Desinformationen«. Diese seien Elemente der »hybriden Kriegsführung« seitens Russlands. Mit dieser Argumentation werden NATO, Bundeswehr und Geheimdienste bereits seit 2015 am »Kampf« gegen »Fake-News« beteiligt. Welche Volksmeinungen die Wahrheitskrieger aktuell als das Werk Wladimir Putins verstanden wissen wollen, kann der Datenbank der ›East Strat-Com Task Force‹ entnommen werden.
Israel hat (schon wieder) gewählt
»Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Lass uns in den Garten gehen. / Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Was man von dort sieht – ist von hier aus nicht zu sehen.« – So lautet die erste Strophe eines in Israel dauerpopulären Songs aus dem Jahr 1979. Die vierte Zeile wurde, zuweilen in ihrer Umkehrung, zum Sprichwort: »Was du von hier aus siehst, ist von dort aus nicht zu sehen.. Mit diesem Satz wird jede Kritik, die vom Ausland an Israel gerichtet wird, abgewiesen. Als Israeli mit europäischem Blickwinkel pendle ich zwischen der ursprünglichen und der umgekehrten Variante. »Hier« und »Dort« spiegeln einander, sind Abbild und Realität zugleich. Die sozio-politischen Entwicklungen in Europa, wie der aufkommende Rechtspopulismus, werden in Israel meist nur unter der Lupe des Antisemitismus wahrgenommen. Man sieht sie dort allzu oft überhaupt nicht, und schon gar nicht so, wie sie von hier gesehen werden. Die Intensität und Lautstärke der Ereignisse dort beeinträchtigen die Ressourcen und Kapazitäten, andere Perspektiven einzunehmen. Man hat genug, nein, viel zu viel mit den eigenen Herausforderungen und ungelösten Problemen zu tun.
Modernes Nachdenken über die Weltseele
Das Werden der Anthroposophie hängt aufs Engste mit dem Ringen Rudolf Steiners um den Begriff des »kosmischen Christus« zusammen. Eine interessante Frage ist es, ob seine diesbezüglichen Visionen und Spekulationen auch Einfluss über die Anthroposophie und die von ihm inspirierte Christengemeinschaft hinaus hatten. Das dürfte namentlich bei dem französischen Naturwissenschaftler und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) der Fall gewesen sein, der zugleich als Theologe und Priester ausgebildet war. Ihm ging es zeitlebens um die Fragen einer ganzheitlichen Erfassung kosmischer Entwicklungsprozesse. Den Begriff des »kosmischen Christus«, den er ab 1916 verwendete, könnte er von Steiner, aber auch von einigen Theologen übernommen haben, die ihn seit 1906 ins Spiel gebracht hatten. So versteht der US-Amerikaner John Buckham den kosmischen Christus als das »Alpha and Omega«, wie das sp.ter bei Teilhard immer wieder betont zum Ausdruck kam. Ob wiederum Teilhard Buckham gelesen hat, bleibt unsicher. Jedenfalls hatte der Franzose nach seiner naturwissenschaftlichen und philosophischen Ausbildung von 1908 bis 1911 – also noch über seine Priesterweihe hinaus – in England theologische Studien getrieben, wo er auf Buckhams Publikation gestoßen sein könnte.
Die umfassenden Aufgabenstellungen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, offenbaren sich auf diesem Erkenntnisweg stufenweise. Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit der Geisteswissenschaft beschäftige, bemerke ich immer wieder, dass auf einmal eine neue, zuvor verborgene Stufe erreicht wird. Aber auch die Entwicklung der anthroposophischen Bewegung verlief am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Stufen, die Rudolf Steiner im Rückblick selbst beschreibt.
In der ersten Stufe ging es ihm darum, die Grundlagen einer neuen Wissenschaft vom Geist darzustellen. Zu deren zentralen Gebieten gehören insbesondere der Mensch mit seinen sieben Wesensgliedern, die Frage von Reinkarnation und Karma, die Entwicklung der Erde und ihrer Naturreiche sowie die Christologie. Um diese Inhalte in angemessener Form aufnehmen und verarbeiten zu können, ist eine Verlebendigung und Spiritualisierung des Denkens notwendig. Hierzu findet sich im Frühwerk Rudolf Steiners mannigfaltiges Übungsmaterial. Die Aufgabenstellungen, die mit diesem ersten Entfaltungsschritt der Anthroposophie zusammenhängen, sind auch heute noch ungeheuer groß. Denn auf dem Hintergrund der weitgehend materialistischen Denkweise ist eine Spiritualisierung der Wissenschaften ein unglaublich großes Unterfangen. Allein dies würde für Jahrzehnte, ja Jahrhunderte intensivsten Arbeitens unzähliger Wissenschaftler und Forscher ausreichen.
Rudolf Steiners Erkenntnisbiografie und der Beginn des neuen Michael-Zeitalters
Rudolf Steiner hat das Jahr 1879 als den Beginn eines neuen Zeitalters beschrieben, dessen Name mit dem Erzengel Michael verbunden ist. In der Anthroposophie denkt man dabei an ein geistiges Wesen und eine geistige Kraft, die den Menschen in seinem Einsatz für Wahrheit und Güte anspornt und ihm hilft, Einflüsse in seiner Seele zu überwinden, die gegen die volle Entfaltung seines Menschentums wirken. Ins Bild gebracht wird diese Auseinandersetzung als Michaels Kampf mit dem Drachen, wie er z.B. von Albrecht Dürer in seinen Holzschnitten zur Apokalypse so dramatisch dargestellt wurde. Das jährlich wiederkehrende Michaels-Fest, von Papst Gelasius I. im 5. Jahrhundert auf den 29. September gelegt, ist in anthroposophischem Verständnis daher vor allem ein Fest des Willens. Doch handelt es sich bei Michael nicht nur um ein Wesen, das den moralischen Willen anspricht, sondern zugleich um eine geistige Kraft, die mit einer besonderen Art von Erkenntnis verbunden ist, nämlich einer willensgetragenen. Sie besteht in einer inneren Doppelbewegung: dem aktiven Produzieren von Gedankenformen und dem Empfangen der Gedankeninhalte in innerer Hingabe an die Sache, welches man zusammen als »aktive Empfänglichkeit« bezeichnen kann. Wie Rudolf Steiner diese Erkenntnisart in seiner WerkBiografie auf verschiedenen Stufen verwirklichte, soll hier skizzenhaft dargestellt werden.
Teil I: Alte und neue dogmensetzende Gewalten
Ostern 2020 war jeder gemeinsame Gottesdienst in ganz West- und Mitteleuropa verboten. Die spirituellen Schutz, auch Trost suchende Gemeinschaft der Gläubigen wurde in dieser Zeit großer Befürchtungen – die »Bilder von Bergamo« liefen in den TV-Stationen in Dauerschleife – in den virtuellen Raum der neuen Medien verwiesen. Ausnahmslos. Ostern 2020 wird möglicherweise auch als der geschichtliche Moment zu beschreiben sein, an dem eine Stabübergabe von der alten zu einer neuen dogmensetzenden Gewalt erfolgte. Es gibt dieses emblematische Bild des einsamen Papstes vor dem leeren Petersplatz: gemeinsames Beten ist zu gefährlich und kontraproduktiv. Dafür konnte Bill Gates am Sonntag der Auferstehung zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen die neue, als heilbringend zu verstehende, jetzt irdisch-frohe Botschaft verkünden: »Wir werden den zu entwickelnden Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen verabreichen.« Das »wir« wurde nicht näher gekennzeichnet. Klar war aber, dass die Ausführung in die Hände der Ärzte gelegt wurde.
Krisenbewältigung und aktuelles Sprachgeschehen
Wie auch in anderen Ländern der westlichen Welt herrscht in Deutschland eine seltsame neue Atmosphäre. Obwohl sich an der traditionellen Meinungsfreiheit hierzulande nichts geändert hat, macht sich das Gefühl breit, man könne bestimmte Dinge nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen. Sonst werde einem unversehens Extremismus, Rassismus, Homophobie, Realitätsverweigerung, Fortschrittsfeindlichkeit oder dergleichen unterstellt. Die Liste der verbalen Waffen, mit denen Menschen und Meinungen täglich angegriffen werden, ist lang. So lesen wir z.B. von »Wissenschaftsleugnern«, »Frauenverächtern«, »Klimasündern«, »Sicherheitsgefährdern« oder »Feinden der Demokratie«. Da ist es verständlich, dass friedliebende Zeitgenossen vorsichtig geworden sind, sich auf das Schlachtfeld des »freien« Meinungsaustauschs zu begeben, wo man gefährlichen Verletzungen und Verleumdungen ausgesetzt ist.
Die Rede ist von einem Phänomen, das als Radikalisierung und Polarisierung der Kommunikation bezeichnet wird. Sogar in neutralen Berichten ist ständig von »Kampf« die Rede, als wären die Menschen grundsätzlich gegeneinander eingestellt, als müsse man sich ständig gegen irgendwelche Gegner und Feinde durchsetzen. Das gipfelt in Pauschalurteilen wie: Die Politik »versagt«, die Wirtschaft »betrügt« oder die Presse »lügt«.
Oder: Wie eine »Klare Kante« zum Bumerang werden kann
Seit der Corona-Krise sehen sich anthroposophische Institutionen einem ungeheuren Druck von mehreren Seiten ausgesetzt. Die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren das eine, das andere waren die Reaktionen des eigenen sozialen Umfeldes. Insbesondere in Einrichtungen, bei denen das konkrete Verhältnis zum anderen Menschen im Zentrum steht, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime usw., sorgten die Verordnungen für heftige Auseinandersetzungen und brachten auch viele ältere Konflikte mit neuer Wucht zur Erscheinung.