Das kulturpessimistische Evolutionsverständnis des Yuval Noah Harari – Teil II
Im ersten Teil dieses Beitrages hatten wir damit begonnen, die beiden Bücher ›Eine kurze Geschichte der Menschheit‹ und ›Homo deus‹ des israelischen Universalhistorikers Yuval Noah Harari – der heute zu den meistgelesenen Gelehrten der westlichen Welt gehört – gegen den Strich der bisherigen, überwiegend positiven Kritiken zu lesen. Dabei hatten wir festgestellt, dass der inzwischen auch zu einem der meistgefragten Talkshow- Gäste und Redner für internationale FührungskraÅNfte avancierte Hyperintellektuelle, wenn man es theologisch ausdrücken würde, mit dem für ihn nicht lösbaren Problem des Sündenfalls kämpft. Er sieht in der Evolution der Menschheit nicht nur eine invisible hand, sondern letztlich den Teufel am Werk
Ein Begriff sucht Ausnüchterung
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat einmal geschrieben, dass ein Begriff so daherkommen kann wie ein Besoffener – nämlich dann, wenn der Begriff zu viele Bedeutungen bekommen hat. Nicht nur Menschen, so Kierkegaard, sondern auch Begriffe können betrunken werden, und »hat man einmal einen Begriff so weit gebracht, dann mag sich dieser zur Ruhe begeben, um, falls möglich, seinen Rausch auszuschlafen, um wieder nüchtern zu werden«. Kierkegaard hat damit den Begriff das Selbstische gemeint. Er hätte aber wohl heute das Gleiche über den Begriff das Bewusstsein sagen können, weil es kaum einen modernen Begriff mit mehr Bedeutungen gibt. Ursprünglich als breiter philosophischer Terminus in die deutsche Sprache eingeführt, wurde er anfangs in der Alltagssprache nicht im philosophischen Sinne verwendet. In den letzten Jahrzehnten aber hat er sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache einen Bedeutungszuwachs erfahren, welcher der ursprünglichen philosophischen Bedeutung nahekommt. Dies ist nicht unproblematisch und verdient, genauer untersucht zu werden.
Von der Wirklichkeit der Freiheit im therapeutischen Tun
»Psychotherapie der Freiheit« – diese Formulierung lässt den Titel eines Grundwerkes Rudolf Steiners, ›Die Philosophie der Freiheit‹, anklingen. Es ist die Beschreibung eines gedanklichen Weges, wie der Mensch sich in seiner Fähigkeit zur Freiheit erkennen und diese Fähigkeit handelnd verwirklichen kann. Im Folgenden beschreibe ich, welche konkrete Bedeutung in meinem Beruf als Psychotherapeut die Suche nach einem Handeln aus frei geschöpften Intuitionen hat. Ich beziehe mich zum einen auf meine spezifischen Erfahrungen in der therapeutischen Tätigkeit. Zum anderen befrage ich diese auf dem Hintergrund einzelner essenzieller Erkenntnisse der ›Philosophie der Freiheit‹. Manche meiner Gedanken lassen sich wahrscheinlich gut auf andere medizinisch-therapeutische sowie auf heil- und sozialpädagogische Berufsfelder übertragen.
Der Einfluss anthroposophischer Ideen auf das Triptychon von Wassilij Watagin: ›Die Evolution der Weltanschauungen‹
Wassilij Alexejewitsch Watagin (1884–1969) ist in erster Linie als Begründer der zeitgenössischen russischen Tiermalerei bekannt. Das künstlerische Erbe des Meisters ist sehr vielfältig: Er war als Bildhauer, Grafiker und Maler tätig, schuf Illustrationen zu Büchern und monumentale Skulpturen. Zu Recht gilt er als einer der Mitbegründer des Staatlichen Darwin-Museums (Gosudarstwennyj Darwinowskij musej = GDM), wo er 45 Jahre lang arbeitete – von 1908 bis 1953. Mit dem ersten Direktor des Museums, Alexander Fjodorowitsch Kohts (1880–1964), war er seit der Schulzeit im Gymnasium bekannt. Aus dieser Bekanntschaft der Kinderzeit erwuchsen eine langjährige Freundschaft und Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit, dank derer eine einzigartige Kollektion von Kunstwerken geschaffen wurde. Aktuell bewahrt der Fond des GDM 158 Skulpturen, 372 Gemälde und 136 Grafiken von Watagin. Das Darwin-Museum verfügt also über eine stattliche Sammlung der Werke des Meisters. Neben den Tierdarstellungen Watagins befindet sich in der Kollektion ein Triptychon mit dem Titel ›Die Evolution der Weltanschauungen‹, das aus der naturwissenschaftlichen Ausrichtung des übrigen Werks herausfällt.
Das Wesen des leibfreien Bewusstseins und einige Kriterien zu seiner Erkenntnis
In letzter Zeit gab es mehrfach Anlass, sich mit dem Thema des leibfreien, übersinnlichen Erkennens auseinanderzusetzen. Eine der Fragen, die dabei entstehen, ist: Führt das, was in diversen anthroposophischen Seminaren als Meditationsübungen praktiziert wird, zu übersinnlichen Erkenntnissen eines leibfreien Bewusstseins, oder handelt es sich lediglich um verfeinerte Sinneserfahrungen? Sind beispielsweise die inneren Bewegungseindrücke und Erlebnisse, die man an der Beobachtung von sprießenden oder welkenden Pflanzen bekommen kann, übersinnlich, oder sind es in das Bewusstsein hinaufgeholte und ästhetisch verfeinerte Eindrücke der »unteren« Sinne, des Tast-, Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinnes?
Vom Vatergöttlichen zum Ich
Man kann das Vaterunser unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie sich die Menschheit darin findet – die alte Menschheit und die neue. Beim Beten des Vaterunsers kann man einen Weg erleben, der mit einem großen kosmischen Teil beginnt, sich dann verinnerlicht, zur eigenen Mitte führt und im letzten Teil, der Doxologie, einen Aufschwung herbeiführen kann. Die Autorin hat sich immer wieder gefragt, was es mit den drei Teilen des Gebets auf sich hat. Im Folgenden entwickelt sie dazu einige Gesichtspunkte.
Zur Begrifflichkeit des Kosmischen und des Irdischen im Landwirtschaftlichen Kurs
Rudolf Steiners Kurs für die Landwirte ist klar strukturiert: In den ersten drei Vorträgen werden die Grundbegriffe entwickelt und in den folgenden fünf die daraus hervorgehenden praktischen Anweisungen. So stellt Steiner zuerst den Grundbegriff der »Landwirtschaftlichen Individualität« vor und führt seine Zuhörer zum Erkennen der Einheitlichkeit, die den Erscheinungen der Natur zugrundeliegt. Daraus werden dann die Begriffe des »Kosmischen« und des »Irdischen« als »ABC« für das Verständnis des Pflanzenwachstums und der Organisation der Tiere entwickelt, wobei als Ausgangspunkt dieser Betrachtung gilt, dass »der Mensch zur Grundlage gemacht« wird. Der Landwirt soll derart im Buch der Natur lesen lernen, so dass ihm sein Betrieb als eine Ganzheit erfassbar wird, die er verständnis- und hingebungsvoll gestalten kann.
Das kulturpessimistische Evolutionsverständnis des Yuval Noah Harari – Teil I
Yuval Noah Harari, 1976 in Israel geboren, hat 2002 in Oxford promoviert und lehrt an der ›Hebrew University of Jerusalem‹ Geschichte. Gleichzeitig war er Schüler des indischen Vipassana- Lehrers Satya Narayan Goenka (1924–2013), einem der einflussreichsten Lehrer dieser buddhistischen Meditationsform im Westen. Auf diesen Hintergrund Hararis – den er vor allem in ›Homo deus‹ sehr deutlich betont, indem er Goenka nicht nur sein Buch widmet, sondern ihm auch für den Unterricht in der Vipassana-Meditation als hauptsächliche Inspirationsquelle seiner Bücher dankt– und auf die hierin aufscheinende Problematik des Einklangs buddhistischer Meditation mit einem reduktionistisch-materialistischen Evolutionsverständnis sowie einen Kulturpessimismus, für die Harari nicht das einzige Beispiel ist, wird noch genauer einzugehen sein.
Iwan Iwanowytsch Korobkin war Angestellter eines der Moskauer Museen und verwaltete seit beinahe vierzig Jahren die Abteilung der Bibliothek. Im Sommer, im Winter, im Herbst und im Frühling erschien in der Diele des Museums sein gebeugter, alter Körper; im Sommer in weißer, durchlässiger Segeljacke, mit einem überdimensionalen Regenschirm und – in Überschuhen; im Winter in einem Pelzmantel aus rostbraun verfärbtem Waschbärenfell; in einem abgetragenen Mantel im feuchten Herbst; und im Frühling in einem Havelockmantel.
Die Ohnmacht des gewöhnlichen Erkennens als Ausgangspunkt der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners
Vor hundert Jahren hielt Rudolf Steiner eine Reihe von öffentlichen Vorträgen, in denen er sich über ein Erlebnis äußerte, das damals etwa 35 Jahre zurücklag: seine Begegnung mit Friedrich Theodor Vischer, in deren Folge er die ersten Bausteine der Anthroposophie legen konnte. lm Folgenden wird der Charakter dieses Ereignisses entfaltet und der Frage nachgegangen, wie mit dessen Hilfe – in einer sehr grundsätzlichen Art und Weise – die Brücke zwischen Alltagsbewusstsein und dem in Rudolf Steiner verkörperten höheren Bewusstsein gebildet werden kann.
Dionysius Areopagita und die Anthroposophie II
Die Abhandlung über ›Die Himmlische Hierarchie‹ des Dionysius Areopagita enthält die erste systematische Beschreibung der Engel als eine dreigegliederte, in sich jeweils dreifache Ordnung. Für diese Ordnung prägte er ein neues griechisches Wort: Hierarchie – aus hieros (= heilig) und arché (= Ursprung, Prinzip, Leitungsprinzip, Leitung). Diese »Chöre der Engel« sollten später zahllose Ikonen, Kirchentüren, Kirchenfenster und Bibeln schmücken. Die griechischen Namen, die Dionysius für die Engelhierarchien gewählt hat, sind aber auch in mehr als 150 Bänden der Rudolf Steiner Gesamtausgabe zu finden. Und wenn wir bedenken, dass Steiner diese Namen außerdem in bildhafte deutsche Begriffe übersetzt hat und dass er wahlweise einfach nur von »Göttern« spricht, dann können wir sagen, dass die Engelhierarchien des Dionysius in fast jedem Band der Gesamtausgabe vorkommen.
In ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹, seinem Grundlagenwerk für die geistige Schulung, spricht Rudolf Steiner im Kapitel über die »Ausbildung des Ätherleibes« von vier Eigenschaften, Tugenden oder Fähigkeiten, die »der Seele so einverleibt werden [müssen], daß sie innere Gewohnheiten begründen«: »Es ist die erste davon die Fähigkeit, in den Gedanken das Wahre von der Erscheinung zu scheiden, die Wahrheit von der bloßen Meinung. Die zweite Eigenschaft ist die richtige Schätzung des Wahren und Wirklichen gegenüber der Erscheinung. Die dritte Fähigkeit besteht in der […] Ausübung der sechs Eigenschaften: Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen, Beharrlichkeit, Duldsamkeit, Glaube und Gleichmut. Die vierte ist die Liebe zur inneren Freiheit.« Im Zusammenspiel mit den Meditations- und Konzentrationsübungen bilden diese Gewohnheiten den Ätherleib so aus, dass ein Mittelpunkt für seine Strömungen geschaffen wird, der sich allmählich – gemäß der Ausbildung der vier Eigenschaften oder Tugenden – vom Kopf über den Kehlkopf in die Herzgegend verlagert.
Ein Blick auf Rudolf Steiners Wirken in den Jahren 1917/18
2019 werden viele anthroposophische Einrichtungen die 100-Jahr-Feier des Impulses der Dreigliederung des sozialen Organismus begehen. Dessen spirituelle Grundlagen werden vermutlich kaum beachtet. Dabei beruht dieser Impuls darauf, dass eine genügend große Anzahl von Menschen ein Denken entwickelt, durch das eine konkrete, individuelle Beziehung zum Geist hergestellt wird. Von 1917 an hat Rudolf Steiner seinen Schülern mit großem Ernst verdeutlicht, was eintreten muss, wenn zu wenige Menschen ein solches geist-offenes Denken entwickeln können. Darauf lenkt der folgende Artikel den Blick.
Westöstliche Meditationen zum Ich
In seinen Ausführungen über den Willen und über die Freiheit des absoluten Einen, die in Enneade VI 8 enthalten sind, schenkt Plotin unserer Gegenwart eine Charakterisierung der Freiheit, die sehr fruchtbare Anregungen zu einer meditativen Vertiefung von Wesen und Wirken des Ich vermitteln könnte. In Enneade VI 8.16.31ff. charakterisiert Plotin das absolute Eine als Wachsamkeit (egrégorsis), die alle Formen des bestimmten Bewusstseins, d.h. des bestimmten Denkens überragt. Dies bedeutet, dass das Eine, wie Plotin in Enneade V 3.13 ausführt, auch allen Zustand der Selbstwahrnehmung (synáisthêsis), des bestimmten Bewusstseins seiner selbst überragt. Selbstverständlich darf diese Tatsache nicht mit einem Mangel an Bewusstsein verwechselt werden, was Dämmern und Schlafen implizieren würde; das absolute Eine ist nämlich Möglichkeit und Kraft aller Bewusstseinsformen, die sich in keiner – wäre es auch in der vorstellbar höchsten – Form des Bewusstseins erschöpfen lassen könnte. Das absolute Eine ist, in anderen Worten, jegliche mögliche Bestimmung überragende Bewusstsamkeit: unvordenkbare Wachsamkeit, die als Urgrund, Ursprung und Urbild alles Bewusstseins und aller Bewusstheit betrachtet werden soll.
im Spiegel ihres Briefwechsels
Betrachtet man das Zusammenwirken von Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, so kann man nur darüber staunen, wie vollständig sich diese beiden Geister ergänzten. Es war die denkbar größte Wertschätzung, die sie einander entgegenbrachten, das höchste Freiheitsempfinden für den anderen, dem man hier staunend begegnen kann. Gerade in den späteren Jahren dieser Freundschaft drängt sich zuweilen der Eindruck auf, als stünden einander nicht zwei getrennte Persönlichkeiten gegenüber, sondern als hätte man es mit einer einheitlichen Wesenheit zu tun – so vollständig war die gegenseitige Durchdringung, so tief das Verständnis füreinander. Um sich zu solchen Höhen erheben zu können, musste diese Freundschaftsbeziehung allerdings mehrere Stufen durchlaufen.
Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ im Spiegel der ›Vorrede zur Neuauflage 1918‹
In der ›Vorrede zur Neuauflage 1918‹ kennzeichnet Rudolf Steiner nach 25 Jahren erneut die »Zielgedanken« seiner Schrift. Er will sich mit seinem Leser darüber verständigen, was von dem Buche zu erwarten ist und was nicht. Hier soll versucht werden, diese Zielgedanken kurz nachzuzeichnen und einige Schlaglichter zu werfen auf das Umfeld des seelischen Erlebens, in das sie sich hineinstellen in unserer Zeit. Sie erweisen sich dabei für den Gegenwartsmenschen als eine Art Instrument zur inneren Standortbestimmung.
Rudolf Steiners Beitrag zur Geldwertstabilität
Der Wert des Geldes wird maßgeblich durch die Lenkung des Kapitals bestimmt. Das moderne Banksystem gestaltet die Kreditvergabe vollkommen unabhängig von der Mittelherkunft über Geldschöpfungsprozesse. Zudem wird gegenwärtig kein Unterschied gemacht, in welchem Sektor der Wirtschaft ein Gewinn erzielt wird. Investoren erzielen ihre Gewinne in der Landwirtschaft, der Automobilindustrie oder in der Rüstungsindustrie. Ihr Geld ist überall gleich viel wert. Das führt zur Chaotisierung des Wirtschaftslebens mit gravierenden Folgen für Mensch und Umwelt. Rudolf Steiner zeigt im 12. Vortrag des ›Nationalökonomischen Kurses‹ einen Weg, wie auf eine Stabilisierung des Wirtschaftslebens hingearbeitet werden kann, wenn dem Geld eine Lebensdauer gegeben wird.
Mitte September 2017 öffnete das ›Haus der Zukunft‹, auch ›Futurium‹ genannt, ein in futuristischem Stil erbautes Gebäude in Berlin neben dem Hauptbahnhof, zum ersten Mal – für einen Tag – seine Türen. Dem auffallend großen Zustrom von interessierten Menschen bot man in schlichten Räumen und Sälen ein vielseitiges Programm mit wissenschaftlichen Vorträgen, Kunstdarbietungen, Ausstellungen, Diskussionsmöglichkeiten, Spielecken etc. an. Ökologische Untersuchungen, psychologische Befragungsergebnisse und zeitgeschichtlich-philosophische Betrachtungen betonten die Verantwortung der Menschheit für die Zukunft. Sie wiesen hin auf Entscheidungsnotwendigkeiten in vielen Bereichen und verdeutlichten die Einsicht, dass im heutigen, »anthropozänen« Zeitalter der Mensch derjenige ist, der die Zukunft der Erde bestimmt. Zugleich wurde an verschiedenen Stellen eingeräumt, dass wir alle nicht wissen können, wie diese Zukunft aussehen wird – trotz aller grenzenlosen digital-technischen Innovationsphantasien; für welche die Roboterband, die am Abend auftrat, als Beispiel stehen kann.
Versuch einer Rekonstruktion und zugleich ein Beitrag zum »Lesen« Rudolf Steiners – Teil II
Im ersten Teil dieses Beitrags wurde skizzert, wie Rudolf Steiners rätselhafte, zum Teil auch widersprüchliche Schilderungen der Hybernischen Mysterien zu lesen sein könnten. Versucht man, wie dort angedeutet, Steiner so zu lesen, dass nicht das geschilderte Bild selbst die Wirklichkeit ist, sondern die dahinterstehenden Erlebnisse dasjenige sind, um das es in den Einweihungen ging, so kann man mit diesem imaginativen Blick Zeugnisse dieser Kultur in Hybernia, d.h. im fernen Westen und Nordwesten Europas finden. Einer dieser Orte sind die Orkney-Inseln im Norden Großbritanniens.
oder: die Würde des Menschen
Dieses Jahr jährt sich zum 1600sten Mal ein Ereignis, das die Geschichte des westlichen Christentums noch tiefer geprägt hat als der 2017 gefeierte Reformimpuls Martin Luthers. Dessen Spiritualität und Theologie, die stark von Augustinus (*354; †430) beeinflusst waren – Luther war anfänglich ein Augustinermönch –, hätten nämlich ohne jenes Ereignis eine ganz andere Gestalt gehabt. Vor 1.600 Jahren tagte, am 1. Mai 418, das Regionalkonzil von Karthago, das – einen langen Streit bezüglich des Wesens der Gnade sowie des menschlichen Willens beendend – die definitive Verurteilung und die Exkommunikation des keltischen, aus Irland oder Britannien stammenden Asketen Pelagius (*um 350; †420) aussprach. Damit siegte die Position des Augustinus, die fortan das westliche Christentum prägte und noch bis heute prägt.
Einige grundsätzliche Überlegungen
Jedes einzelne (endliche, begrenzte und in diesem Sinne kontingente) Seiende tritt aus dem Seinsganzen hervor (emanatio), währt seine Zeit und sinkt in das Seinsganze zurück (regressus) Das Seinsganze ist der Seinsgrund des Seienden. Das Seinsganze »existiert« nur in dem Sinne, dass seine Teile existieren (exsistere = sich abheben, hervortreten, zum Vorschein kommen) und somit als einzelne Seiende durch Abgrenzung vom Grunde (differentia) definiert sind. Das Seinsganze selbst existiert in diesem Sinne nicht, da es, wie der Begriff »Seinsganzes« sagt, außerhalb seiner selbst, neben oder über ihm, kein weiteres Sein gibt, an das es angrenzen, von dem es sich unterscheiden oder aus dem es hervortreten könnte. (Mehr als alles gibt es nicht.) Es ist nicht definierbar, ist räumlich und zeitlich ohne Anfang und Ende, also unbegrenzt und somit unendlich. Es kann zu keinem genus proximum gehören (da es selbst der oberste Gattungsbegriff ist, der sich denken lässt) und verfügt über keine spezifische Eigenschaft, durch die es sich von anderem unterscheiden könnte (da es anderes als es selbst nicht gibt).
Laut Novalis hängt die poetische Kraft von dem Erkenntnisbewusstsein ab, von dem sie getragen wird: »Je größer der Dichter, desto weniger Freyheit erlaubt er sich, desto philosophischer ist er.« Die poetische Konstruktion soll zwar nicht Erkenntnisse begrifflich darstellen, eine abstrakte Gedankenbewegung nach sich ziehen, jedoch in dem poetischen Werk ein Instrument erzeugen, das wie die Werke echter Wissenschaft das seelische Leben stärkt, konkretisiert. Dem Poeten (für Novalis ist der Poet der sprachlich Schöpferische, der Dichter schlechthin) wird dies insofern gelingen, als er Erfahrungen des seelischen Lebens angesammelt hat und in der Erkenntnis seiner selbst vorgedrungen ist. Das Erkennen bildet den untergründig das poetische Schaffen belebenden Gegenstrom. Es ist geistiges Einatmen der Zusammenhänge, die – verwandelt durch individuelles Erleben – im Kunstschaffen ausgeatmet werden. Der Poet wählt und entwickelt seinen Stoff, die sprachlich gebundene Vorstellung, so, dass dieser sein Erkennen aufzunehmen vermag.
Brief aus Brüssel
Aus belgischer Perspektive ist beim Thema Katalonien vorab zu denken an den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Niederlande gegen Spanien im 16. Jahrhundert, an Herzog Alba vor allem und die Hinrichtungen der Grafen Egmond und Hoorn. All diese Schrecken sind tief eingegraben ins kollektive Bewusstsein, nicht nur in Belgien. Ebenso wichtig ist es, an die Ausrufung der Spanischen Republik im Jahre 1931 durch Lluís Companys, den Ministerpräsidenten der katalanischen Landesregierung (Generalitat de Catalunya), seine Flucht nach Frankreich im Jahre 1939, die spätere Auslieferung durch die Nazis an Spanien sowie seine Hinrichtung durch das Franco-Regime zu erinnern. All die Grauen des Spanischen Bürgerkrieges, dieses Kreises der Hölle, werden wieder wach.
Im Vorhof der Esoterik: Goethes Rätselmärchen
Befassen wir uns mit dem Erzähler Rudolf Steiner, dann sollten wir uns auch in das Thema der »Esoterik der Erzählung« vertiefen. Genau dafür treffen wir im Werk Steiners auf einen Schlüsseltext. Es ist ›Das Märchen‹ aus Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, einer Sammlung von sechs Novellen und dem Märchen im Zusammenhang einer Rahmenhandlung. Was lässt sich daraus über die Esoterik der Erzählung lernen? Inwiefern konstituiert diese Schrift Goethes in ihrem Kontext eine Erzählung über die Art, wie wir »höhere Erkenntnisse« erlangen könnten? Wie hat Steiner sie aufgegriffen? Und warum hat sie für ihn einen so hohen Stellenwert?
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Der Ausdruck »Akasha-Chronik« (engl. akashic records) erscheint bei Rudolf Steiner als terminologischer Import aus der anglo-indischen Theosophie des 19. Jahrhunderts im Sinne eines überpersönlichen Weltgedächtnisses, als »das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens«. Die geläufige Bezeichnung für den Zugang zu diesem Gedächtnis lautet »Lesen in der Akasha-Chronik«. Der Ausdruck selbst und das entsprechende »Lesen« werden von Steiner nicht systematisch begrifflich entwickelt, und oft ist dies »Lesen« mit anderen Weisen der spirituellen Erkenntnis austauschbar und wird auch schon einmal »Lesen im Chaos« genannt. In seinen Vorträgen erzählte Steiner vielfach darüber, im schriftlichen Werk taucht der Ausdruck zentral nur in der frühen Aufsatzreihe ›Aus der Akasha-Chronik‹ (1904 bis 1908) auf, in der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ (1910) wird er lediglich noch beiläufig – und dies nur in Anführungsstrichen – erwähnt. Da diese Aufsatzreihe von der Darstellungsweise her die erzählerischste Schrift Steiners ist, liegt es nahe, sie unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch eigens zu betrachten. Als Rezipienten seiner Schriften sind wir überdies nicht eigentlich Zeugen seines Zugangs zur Akasha-Chronik. Vielmehr sind es seine Mitteilungen, ist es sein Erzählen, sind es die »Ausdrucksformen«, wovon wir Kenntnis nehmen, weshalb es naheliegt, weniger von einem Lesen, als vielmehr von einem »Erzählen aus (oder von) der Akasha-Chronik« zu sprechen.
Der Nahe Osten zwischen den Weltkriegen – Teil II
Die Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg war durch das Sykes-Picot-Abkommen sowie die Konferenz von San Remo nur insofern vorgenommen worden, als Frankreich und Großbritannien ihre Einflusszonen voneinander abgrenzten. Was innerhalb dieser Zonen geschah, musste erst noch geklärt werden. Der folgende Artikel betrachtet die Entwicklung in Syrien und dem Libanon.
Sinn und Auftrag der Waldorfpädagogik
Man sagt, die Waldorfpädagogik sei eine Erziehung zur Freiheit. Sie strebe danach, die Anlagen, die jedes Kind in sich trage, in umfassender Weise zu entwickeln. Ja, das ist eines ihrer Ziele – aber eben nur eines. Im August 1919, kurz vor der Begründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart, erläuterte Rudolf Steiner den Dornacher Anthroposophen, was mit der Waldorfschule eigentlich erreicht werden soll. Es geht um eine dreifache Befähigung des späteren, erwachsenen Menschen: zu Freiheit im sozialen Miteinander, zum Verständnis von Gleichheit im rechtlichen Bereich, und – als höchstes Ideal – zu Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben. Steiners Analyse war eindeutig: »Eine der allerwichtigsten sozialen Fragen für die Zukunft ist die Erziehungsfrage.« Was in der Kindheit und Jugend entwickelt wird (oder nicht), bestimmt das Denken, Fühlen und Wollen des späteren Lebens und damit das soziale Miteinander in umfassender Weise. Man muss bis zu einem gewissen Grad selbst seelisch gesund sein, wenn man sich gesund verhalten können soll.
Das Moskauer Darwin-Museum, Goethe und die Anthroposophie
Manchmal kann man darüber verzweifeln, wie wenig sich Naturforscher für Goethes und Rudolf Steiners Ideen zur Erneuerung der organischen Wissenschaft interessieren. Das kann wohl gegenwärtig noch nicht anders sein. Umso größer ist die Freude, wenn man einmal auf solches Interesse stößt – selbst dann, wenn es nur historisch ist. In dem hier zu beschreibenden Fall handelt es sich um eine frühe Verbindung zwischen Darwinismus, Goetheanismus und Anthroposophie.
Annäherungen an eine Philosophie des Vielleicht
Vielleicht. Das Wort hat kaum Gewicht. Es lässt sich sprechen mit fast geschlossenem Mund, und auch die übrigen Sprechwerkzeuge beansprucht es kaum. Es ist nicht viel mehr als ein Hauch, der leicht über die Lippen geht. Und die Dinge, mit denen es zu tun hat, scheint dieses Wort mehr zu streifen, als dass es sie richtig erfasst. Vielleicht. So sehr sind die beiden Worte, denen der Ausdruck sich verdankt, miteinander verschmolzen, dass wir sie kaum mehr hören: viel und leicht. Nichts Beschwerliches also, nicht Kompliziertes.
Ein Beitrag zur Morphologie der Frage-Antwort-Korrelation
An einem sonnig-kalten Samstagmorgen fand ich auf Facebook folgendes Zitat von Susan Sontagin der Timeline: »Die einzigen interessanten Antworten sind solche, welche die Frage zerstören.« Ich bewertete das Posting als einen interessanten Gedanken, fügte meinem Kommentar jedoch hinzu, dass zu überlegen wäre, auf welche Weise Antworten die dazugehörige Frage zerstören können. Denn gesetzt den Fall, aufrichtig gesuchte und errungene Antworten dienen der Wahrheitsfindung – weshalb sollten diese Antworten zerstörerisch wirken? Von einer Facebook-Teilnehmerin erhielt ich zur Antwort, dass diese Zerstörung »mit Hirnschmalz« zu erfolgen habe. Eine Aussage, gegen welche grundsätzlich nichts einzuwenden ist, denn der Einsatz von Hirnschmalz ist sicherlich wertvoll. Aber, so fragte ich mich weiter, was geschieht bei einer entsprechend generierten Antwort mit der zugrundeliegenden Frage-Intention strukturell? Beinhaltet nicht jede Frage notwendig auch einen Sinn-Vorentwurf? Was geschieht in diesem? Und weshalb sollte diese Klasse von Antworten die einzig interessante sein?