Anmerkungen zu einer notwendigen Qualität
Wer kennt nicht die schnappschussartige Erinnerung an eine einzelne Szene oder an einen einzelnen ausgesprochenen oder geschriebenen Satz, vielleicht weit zurückliegend, aber noch lebendig, wie wenn es eben gewesen wäre? Die meisten damals erwachsenen Menschen erinnern sich beispielsweise genau an die konkrete Situation, in der sie sich befanden, als sie am 11. September 2001 die Nachricht von den brennenden und einstürzenden Wolkenkratzern in New York erreichte. Oft ist im Moment allerdings nicht einmal so klar, weshalb sich gerade diese Erinnerung so tief eingegraben hat. Viel später erst, im Rahmen eines selber oder von anderen thematisierten Zusammenhangs, taucht diese plötzlich wieder auf und fügt sich in ein aktuelles Thema ein. Von zwei solchen Erinnerungen ist hier die Rede – und anschließend von ihrer Einordnung in das Thema ›gesellschaftliche Resilienz‹.
Lebensbedingungen eines Virus
Im Schweizer ›Tagesanzeiger‹ vom 17. April schreibt Kia Vahland, dass es hinsichtlich der kulturellen Bedeutung der Maske – ›Stoff der Zukunft‹ ist der Artikel überschrieben – eines ideologischen Abrüstens bedürfe. Das Tragen von Masken sei ein Zeichen der Hoffnung, die Maske eine »Vorbotin eines möglichen Sieges über die Seuche«. Doch wer Dankbarkeit für ein offenes menschliches Gesicht zu empfinden vermag, wer Ehrfurcht hat vor dem Antlitz des Individuums, wer Freude und Freiheit erlebt unter einander freundlich anlächelnden Mitmenschen – der kann eigentlich nichts Zukünftiges in der gegenwärtigen Entwicklung erkennen, auch wenn die Verordnung oder Empfehlung, eine Maske zu tragen, vom Kopf her als solidarische und der allgemeinen Sicherheit dienende Tat verstanden wird. Das unmittelbare Erlebnis von maskierten Bürgern, von Gleichschaltung und Anonymität, spielt der guten Absicht indes fortwährend einen Streich. Wer muss sich nicht einen Ruck geben, um sich in solch einer Umgebung, in solch einer Art Alltag mit seinen Nächsten wirklich frei und wohlzufühlen? Es strahlt unwillkürlich etwas Unangenehmes und Negatives aus, das zuallererst Kinder spüren und intuitiv als Verstörung und als angstmachend erleben. Was mag es in ihrem Innerem anrichten, wenn sie die Welt als maskiert erfahren, die Maske als das kühl Normale und nicht das spielerisch Verzaubernde? Vor allem, wenn sie auch selbst eine solche Maske aufsetzen müssen.
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Überlegungen zu Wert und Würde des Menschen
Wenn man seit dem Frühjahr 2020 zur Corona-Regierungspolitik eine relativ klare Haltung hat, trotzdem im Sozialen beweglich zu sein versucht und als Waldorflehrer pragmatisch, loyal und achtsam – ist das ein Widerspruch? Die Unveränderlichkeit der eigenen skeptischen Position gründet ja weder darin, einer Theorie anzuhängen, noch neue Gesichtspunkte auszuschließen. Es ließe sich allenfalls sagen, dass einen die Entwicklung seit April bestätigt. Auch dazu steht nicht im Widerspruch, im Alltag stets Ausgleich, Begegnung und seelischen Kontakt schaffen zu wollen. Das Gewahrwerden des Anderen, das (An-)Erkennen seines Ich erfahre ich jedenfalls immer wieder als das Entscheidende, da durch solche gemeinsame Gesinnung ein Drittes entsteht. Das individuell Schöpferische wirkt integrativ, weniger der allgemeine Vorsatz, dies um jeden Preis sein zu müssen. Die Würde eines Gesprächs besteht in diesem Offensein, und das Phänomen der Anziehung, dass ich jemanden mögen und mich mit ihm verstehen kann, obwohl wir konträre Meinungen haben, ist geheimnisvoll – ist auch etwas Kindliches.
Zu Samirah Kenawis Tetralogie: ›Die Quadratur des Geldes‹
Das internationale Geldsystem erzeugt verheerende Krisen. Samirah Kenawi hat in einem vierbändigen Werk die Ursachen ergründet und über Reformmöglichkeiten nachgedacht. An zentralen Stellen kommt sie zu Beobachtungen, die dem sehr ähnlich sind, was Rudolf Steiner vor 100 Jahren zu Geld und Kapital beschrieben hat. Der vorliegende Text vergleicht daher die beiden Ansätze und zeigt, wo sie sich ergänzen oder unterscheiden.
Zur Bedeutung des Exportüberschusses der deutschen Wirtschaft (16a)
Kein Land in der Welt hat in 2016 mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland exportiert als Deutschland. Das wäre unproblematisch, wären in gleicher Höhe auch Waren und Dienstleistungen importiert worden. Deutschland ist aber nicht nur seit Jahren Export-Weltmeister, sondern auch Exportüberschuss-Weltmeister. Solche Überschüsse sind nur möglich, wenn das Ausland sich entsprechend verschuldet bzw. Inländer immer mehr Kapital im Ausland anlegen. Ein Blick in die Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank zeigt, dass die Nettoauslandsvermögen zwischen 2004 und 2016 sich etwa versiebzehnfacht haben. Die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde hat sich in den letzten 25 Jahren kontinuierlich erhöht. Die Reallöhne hingegen sind, wie die beigefügte Grafik zeigt, bis 2010 gefallen. Seit 2014 steigen sie wieder stärker. Dennoch zeigt dieses deutlich, dass die Erwerbstätigen in Deutschland nicht an der gestiegenen Produktivität partizipieren konnten.
Ich will gerade die Straße überqueren, da trifft mich ein blauer Lichtstrahl. Unwillkürlich schaue ich mich um, nach einer Radarfalle – aber, Gott im Himmel, ich bin doch zu Fuß unterwegs. Dann suche ich tatsächlich den Himmel ab, ob vielleicht eine Drohne ...? Nach dem Blitz kommt der Donner, prasselnd geht der Hagel nieder, es ist ein Gewitter. Ein erschreckender Jahresbeginn, Anfang 2018. Obwohl ich elektronisch abstinent lebe und dies keineswegs als Verzicht, sondern als Wohltat empfinde, nehme ich offensichtlich teil am Wahnsinn der Zeit. Wie könnte es sonst sein, dass ich eine überraschende Lichterscheinungn automatisch als technisch verorte? Das blaue Licht spottet meiner Geistesgegenwart.
Der Sozialimpuls in Goethes ›Märchen von der Grünen Schlange und der Schönen Lilie‹
In seinem 1993 erschienenen letzten Buch ›Die Rettung der Seele‹ benennt Bernard Lievegoed die Jahre zwischen 2020 und 2040 als Tiefpunkt eines Kampfes, der Abgründe von Dämonie öffnen wird. Wenn man auf die fortschreitende Eskalation der letzten Zeit seit März 2020 schaut, braucht es nicht viel Phantasie, um das darin liegende gesellschaftliche Zerstörungspotenzial in seiner ungeheuren Dimension zu erfassen. Und diese Entwicklung zeigt sich in allen Schichten der Gesellschaft im Umgang mit dem Auftreten von Covid-19.
Im folgenden Artikelwird beschrieben, wie Geld und Buchhaltung in der Gegenwart immer mehr zusammenfallen und dadurch zu einem Wahrnehmungsorgan für das Wirtschaftsleben werden können. Dazu ist aber ein qualitatives Verständnis der zentralen Elemente der doppelten Buchhaltung notwendig. Wird erkannt, wie sich darin das Verhältnis von Ich und Welt spiegelt, so kann dies zu einer ganz neuen Form der Gewinnverwendung führen.
Nützliche Irrtümer – und »schädliche« Wahrheiten
In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Anlass, Fragen der Wahrhaftigkeit und der Glaubwürdigkeit zu erwägen; längst ist die Methode des »Fakten-Checks« in aller Munde. In einigen Fällen sind die Widersprüche augenfällig, in anderen Fällen kommt man erst durch Nachsinnen darauf, wo sich hinter zunächst harmlos anmutenden Formulierungen schwerwiegende Fehlleistungen verbergen.
Zu Edwin Hübner: ›ChatGPT – Symptom einer technischen Zukunft‹
Der Verfasser des hier zu besprechenden Buches hat den Wunsch, dass seine Leser verstehen, wieso eine Maschine in der Lage ist, auf schwierige Fragen komplexe und sinnvolle Antworten zu geben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird u.a. erklärt, was künstliche neuronale Netze sind, wie sie gebaut werden und wie sie funktionieren. Im Folgenden einige Sätze aus dem Kapitel ›Zur Grundidee von ChatGPT‹: »Das Prinzip ist schnell formuliert. Die Maschine hat die Aufgabe, zu einem eingegebenen Text nur das nächste sinnvoll passende Wort zu finden. Wird also bei ChatGPT eine Frage, ein sogenanntes Prompt, eingegeben, dann hat der daraufhin erfolgende Rechenaufwand nur eine einzige Aufgabe: das Wort zu finden, das die größte Wahrscheinlichkeit besitzt, den sinnvollen Anfang eines Antwortsatzes zu bilden. […] Man kann es auch so formulieren: Das Sprachmodell GPT versucht in bestmöglicher Nähe die bedingte Wahrscheinlichkeit des Wortes Wn zu bestimmen, wenn die anderen Wörter W1, W2, W3 … Wn-1 bereits vorliegen.« (S. 21)
Auch ein Beitrag zur anthroposophischen Diskussion über Verschwörungstheorien
Die Leserbriefe von Jens Heisterkamp und Johannes Denger zu Ralf Sonnenbergs Artikel ›Die offene Gesellschaft und ihre Anthroposophen‹ lassen vermuten, dass wir mit dem Thema »Verschwörungstheorien« – auch aus anthroposophischer Perspektive – noch nicht an ein Ende gekommen sind. Daher sollte man überlegen, wie weitere Diskussionen konstruktiv zu führen wären. Ihre Grundlage sollten Sachkenntnis sein sowie Einsicht in Haltungen, Arbeitsmethoden und Argumente der Befürworter von Verschwörungstheorien (im Folgenden »Skeptiker« genannt) und ihrer Kritiker.
Über den Kulturverlust in Zeiten der Pandemie
Im Jahre 1962 erschien in den Vereinigten Staaten Rachel Carsons Buch ›Der stumme Frühling‹. Es löste damals eine Art von Aufschrei aus und befeuerte die Anfänge der ökologischen Bewegung. Worum ging es? Auch zu jener Zeit war die zivilisierte Welt keineswegs still oder stumm – im Gegenteil! Aber die Menschen spürten auf einmal: Ein wesentliches Element zum Erleben des Frühlings fehlte: die Vogelstimmen. Sie waren verstummt, denn die Zivilisation hatte den Vögeln die Lebensgrundlage genommen. Das betraf damals (und auch heute noch!) die Natur, das Naturerleben. Wenn ich jetzt 2020/21 in Analogie dazu von einem »stummen Winter« spreche, geht es um die Kultur – also das, was in der modernen Zivilisation das öffentliche In-Erscheinung-Treten und Sich-Ausleben von »Kultur« ist: Musik und Konzerte, Bildende Kunst und Ausstellungen, Theater, Schauspiel und vieles mehr, soweit es sich öffentlich im aktuellen Sich-Begegnen und Agieren der Menschen untereinander abspielt. Öffentliches Sich-Begegnen der Menschen sei aber – so heißt es – in den Zeiten der Corona- Pandemie gefährlich! Überdies sei das »öffentliche Ausleben« von Kultur nichts so Lebenswichtiges wie Essen und Trinken, Gesundheit und Hygiene, wie Produktion und Handel der für’s Leben »unverzichtbaren« Güter. Kultur sei Unterhaltung, etwas für die Freizeit! »Kultur« ist also im Sinne der um uns besorgten Politiker und ihrer Ratgeber aus Kreisen der »Wissenschaft« bloß Unterhaltung; sie wird also dem nicht-essenziellen Bereich des Lebens zugeschlagen!
Zu Alexej Nawalny: ›Patriot‹
Ich habe mich ein wenig gefürchtet vor diesem Buch. Dass wieder geschehen könnte, was Veröffentlichung in medialen Zeiten allzu oft bedeutet: Ausschlachtung! Dass ein Menschenleben auf dem Marktplatz ausgebeutet wird, wo Konsum und Sensationsgier die Lebenden wie die Toten schänden. Aber so ist es nicht – Gott sei Dank! ›Patriot. Meine Geschichte‹, die Autobiografie von Alexej Nawalny, erschienen im S. Fischer Verlag, ist ein Buch der Wunder.
Zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg (5. März 1871–15. Januar 1919)
Mut und Freiheit waren durchgehende Signaturen in Rosa Luxemburgs Leben – aber auch der Widerspruch. Als Róża Luksenburg in eine Familie des polnisch-jüdischen Bildungsbürgertums hineingeboren, hatte sie von Kindheit an mit Gegensätzen und Widerständen zu tun. Die lebhafte Rosa musste als Fünfjährige wegen eines Hüftleidens ein Jahr liegen. In dieser Zeit brachte sie sich Lesen und Schreiben bei. Weil die Krankheit falsch behandelt wurde, hinkte sie zeitlebens, glich das aber mit einer unglaublichen Energie in Gedanken und Worten aus. Schon früh empörte sie sich über Ungerechtigkeiten und schloss sich in der Schulzeit einer Widerstandsgruppe gegen die russische Okkupation Polens an. 18-jährig floh sie, im Stroh eines Bauernwagens versteckt, aus Polen, um einer Inhaftierung zu entgehen.
Eindrücke von einer Reise nach Kiew im April 2018
Der Kiewer Taxifahrer »Do you speak English?« - »I speak Google!« Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt unterhalten wir uns mit Hilfe des Internets: Er spricht laut und deutlich in sein Handy, oben auf dem Bildschirm erscheinen die Worte in kyrillischer Schrift, unten auf Deutsch. Dann bin ich dran. Nach einigem Hin und Her über Wetter und Verkehr frage ich, wie sich die Ukraine in den letzten 20 Jahren verändert habe. Er: »Es ist schlechter geworden.« – »Was war früher besser?« – Er, nach einer Pause: »Die Menschen. – Ich war früher besser.« Pause, Lächeln: »Ich war jünger …« Über Politik möchte er nicht gern reden: »Ich brauche keine Politik, ich brauche gute Polizei.« Er stammt aus Russland, hat ein Häuschen in Odessa und war als sowjetischer Soldat in Wladiwostok und Moskau, zu DDR-Zeiten auch mal in Ostberlin. Für ihn war es früher wohl besser.
Zum Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz
Am 17. Oktober 2024 hat der Bundestag dem neuen Krankenhaus-Reformgesetz von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zugestimmt, am 22. November auch der Bundesrat. Diese zweite Entscheidung kam überraschend schnell. Mehrere Bundesländer hatten Eingriffe in ihre Planungshoheit befürchtet und wollten den Vermittlungsausschuss anrufen. Angesichts bevorstehender Neuwahlen nach dem Bruch der Ampelkoalition waren sich die Länderchefs einig, dass eine Verbesserung des Gesetzes nicht mehr zu erzielen sei, aber Schaden entstünde, wenn es nicht käme. Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) wird nun umgesetzt werden müssen. Kritiker monierten, die Reform sei einseitig auf die Krankenhäuser zugeschnitten, und eine Verbesserung des Verhältnisses von niedergelassenen Ärzten und anderen therapeutischen Berufen, der Vernetzung von ambulanter und stationärer Versorgung habe keine Berücksichtigung gefunden. Damit sind die Ziele einer folgenden Gesetzesänderung bereits benannt.
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika II
Auf einem Hügel im Norden Namibias stehend, bin ich umgeben von der großen Arena eines Tales. »Tal« ist allerdings ein völlig falsch geprägter Begriff für das, was ich hier als ein solches empfinde. Denn »Tal« hat für mich immer etwas Längliches, und das passt hier nicht. Besser wäre »Schale«, »Schüssel« oder »Senke«. Aber zum Begdlf des Tales gehört, dass es Berge sind, die es begrenzen, und dass sich unten Wasser sammelt, vielleicht ein Bach oder ein Fluss fließt oder es dort zumindest grüne Matten gibt. All das gehört hier auch dazu, nur ist das Tal viel weiter, größer, ruhiger und runder. Ich erlebte mich bisher in Afrika immer von die Sicht einfassenden Bergen umgeben. Berge bilden jeweils eine Grenze für das Auge. Sie wirken wie eine letzte Haut, die mich in der Ferne umgibt, als gehörten sie noch zu mir selbst oder zu meiner unmittelbaren Umgebung und ich könnte sie mit den Fingerspitzen berühren. Sie haben ein menschliches Maß, mein Erleben erreicht sie, weshalb sie nicht fremd oder gar fenseitig wirken, sondern vertraut, mich wie von Weitem umarmend.
Eine Verzweiflung mit Ausblick
Dass wir uns Frieden wünschen, ein gedeihliches Miteinander für alle Menschen und natürlich ganz besonders für das Lebensumfeld, in dem wir uns befinden: Wer würde dem nicht zustimmen? Vor nicht allzu langer Zeit war dies für den mitteleuropäischen Durchschnittsmenschen kein Wunsch, sondern eine glückliche, alltägliche Realität – jedenfalls in Bezug auf unmittelbare kriegerische Auseinandersetzungen. Denn die waren doch eher weiter weg, wenn auch die Bilder in den Medien sie uns oft erschreckend nahebrachten. Krieg – eine der vielen Menschheitsplagen, die als Hungersnöte, Naturkatastrophen und Gewalttaten aller Arten die Welt überfluten und mit Flüchtlingsstr.men, seuchenartigen Krankheiten und dem Klimawandel zuletzt auch bei uns, im seit Jahrzehnten saturierten Westen, so richtig angekommen waren. Es klingt wie eine Beschreibung aus dem Mittelalter, ist aber Lebensrealität im 21. Jahrhundert. Und jetzt auch noch Krieg. In der Ukraine. In Europa. Hier.
Politik-Inszenierung im Wahlkampf 2021 am Beispiel der Klimarettung
Eine unter den vielen Eigentümlichkeiten der alle vier Jahre stattfindenden Bundestagswahlen ist, dass die Wahlberechtigten von den um ihre Gunst buhlenden Parteien bei ihren privaten Unzufriedenheiten »abgeholt« werden. Die Politiker versprechen den Wählern, diese Probleme im Falle ihres Wahlsieges zu beheben – insofern und insoweit die mit dem künftigen Koalitionspartner einzugehenden Kompromisse das zulassen. In den Wahlprogrammen werden diese Probleme nach Themengebieten aufgelistet und Lösungskonzepte vorgestellt. Diese Vorstellungen über Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Sicherheits- bis hin zur Außenpolitik sollen den Wahlberechtigten als Orientierung dienen. Die Politiker hoffen, auf diese Weise die Bevölkerung so beeinflussen zu können, dass ihre Partei durch die Stimmabgabe von den Wählern zum Vollzug ihrer Programme ermächtigt werden. Diese Form der Ermächtigung im Sinne eines Delegierens von politischer Handlungsvollmacht an die gewählten Volksvertreter macht den Kern der repräsentativen Demokratie aus. Die allseits gelobte und als beste aller Welten erachtete Staatsform besteht somit darin, dass Privatinteressen der Staatsbürger als gesellschaftliches Problem gewürdigt und in ein ideelles Gesamtinteresse überführt werden. Unter verschiedenen Slogans wie: »Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes«, »Vereinbarkeit von Klimaschutz und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit«, »globale Verantwortung für Demokratie und Menschenwürde« usw. firmieren dann solche als »Gesamtinteresse« ausgegebenen Bündel von Partikularinteressen. Der verantwortungsvolle Staatsbürger soll sich so mit einer »größeren Sache«, dem »nationalen Interesse« oder der »westlichen Wertegemeinschaft« identifizieren können. Die Wahlen garantieren in der repräsentativen Demokratie letztlich das Einvernehmen der Wahlberechtigten über die nach den Wahlen über sie verhängte Politik.
Zu Philip Kovce & Birger P. Priddat (Hrsg.): › Selbstverwandlung‹*
Seit einem Vierteljahrhundert wird von Kennern der technischen Entwicklung immer wieder die Sorge geäußert, dass die von uns erschaffenen Technologien uns Menschen abschaffen. Im Frühjahr des Jahres 2000 veröffentlichte Bill Joy, der Mitgründer von Sun-Microsystems, im US-Magazin ›Wired‹ seinen berühmten Aufsatz ›Why The Future Doesn’t Need Us‹, der weltweites Aufsehen erregte. Darin beschrieb er die Entwicklung der verschiedenen neuen Technologien, vor allem der intelligenten Maschinen, und stellte am Ende die Frage, wie groß das Risiko sei, dass wir uns selbst durch diese Technologien ausrotten – es ist sehr hoch.
Zu Theodor W. Adorno: ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹
Gleichsam als Vorgeschmack auf die Gesamtausgabe der Nachkriegsvortr.ge Theodor W. Adornos hat der Suhrkamp-Verlag den Vortrag ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹ herausgebracht, den der große Philosoph am 6. April 1967 vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in Wien hielt. Adorno verfolgte damit, wie er einleitend kundgab, nicht die Absicht, »eine Theorie des Rechtsradikalismus zu geben, sondern in losen Bemerkungen einige Dinge hervorzuheben, die vielleicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig sind.« (S. 9). Dass sich die Lektüre dennoch lohnt, liegt daran, dass dem heutigen Leser die meisten dieser Dinge erst recht nicht gegenwärtig sind.
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika I
Als mein Zelt steht und ich die lange Fahrt abgeduscht habe, verstaue ich vertrauensvoll meine Siebensachen im Zelt und laufe wieder in die Stadt Livingstone zum Markt, wo die Sammeltaxis abfahren. Ich werde freundlich zum richtigen Minibus geleitet und muss nur kurz warten, bis der alte Toyota bis unters Dach mit Menschen gefüllt ist, sodass wir – mit federlosen Achsen und fast auf dem Asphalt aufliegend – losfahren. Eine junge Dame mit fantastisch geflochtener Haarpracht pflegt Smalltalk und unterhält mich mit Neuigkeiten. Ihr Englisch ist weit besser als meines. Der Fluss führe für diese Jahreszeit noch ungewöhnlich viel Wasser, sagt sie. Der Winter, der jetzt bald komme, wenn die Trockenzeit eingesetzt habe, wenn Niedrigwasser sei, dann sei eigentlich die beste Zeit für einen Besuch der Wasserfälle.
Die erweiterte Demokratie – Teil II
ImInternet tobt ein Meinungskampf zwischen Klimaaktivisten und »Klimaleugnern«. Während die einen »mit Augen zu sehen« glauben, wie CO2 die Erde erwärmt, sprechen die anderen von Panikmache im Dienste finanziellerInteressen. Beide Lager vermuten hinter der Meinung des jeweils anderen Manipulationen oder gar Verschwörungen. Nicht wenige »Klimaleugner « behaupten, ›Fridays for Future‹ werde von Finanzinvestoren wie George Soros »gemacht«, während Klimaaktivisten derartige Skepsis wiederum für das Werk von »PRAgentender Reichen und Mächtigen« halten. Interessanterweise sehen also beide Lager irgendwie »den Neoliberalismus« am Werk. Uneinigkeit herrscht nur darüber, was diesem nun eher in die Hände spielt: die von Schülern geforderte CO2-Bepreisung oder die Leugnung der CO2-Problematik. Hier soll keine Partei für die eine oder andere Seite ergriffen, sondern die Aufmerksamkeit auf das gelenkt werden, was beide Seiten verbindet: die Unsicherheit in der Einschätzung der ökonomischen Kräfte. Und außerdem die Tatsache, dass beide dieDemokratie für die einzig mögliche Form der Volksherrschaft halten und deshalb den Staat auch in der Verantwortung für die Wirtschaft sehen. Beide Lager bewegen sich somit im Koordinatensystem derselben Weltanschauung. Der Dualismus zwischen Markt und Staat als selbstverständliche Voraussetzung jeglicher Meinungsbildung ist nämlich seinerseits das Werk des Neoliberalismus. In seiner Überwindung, und nicht etwa in der Beseitigung einzelner Symptome der Welt-Misswirtschaft, liegt die Lösung der Klimafrage.
Paradoxien der Digitalisierung am Beispiel des autonomen Fahrens
Auf keinem anderem Felde wird für die totale Digitalisierung des menschlichen Lebens auf der Erde so verbissen, mit so viel Innovationswut und zugleich mit den allergrößten Illusionen gekämpft und gestritten wie auf dem Gebiet der Digitalisierung des Autofahrens, dem sogenannten »automatisierten« oder »autonomen« Fahren. Dabei steht nichts mehr und nichts weniger auf dem Spiel als des Menschen und insbesondere der Deutschen liebstes Spielzeug: das Automobil! Und über alledem schwebt wie ein unaufhaltbarer Wahn die postulierte Notwendigkeit der 5G-Mobilfunktechnologie als das absolute sine qua non dieser technologischen Transformation der Mobilität.
Zur gegenwärtigen Aufarbeitung der Corona-Politik – Teil II
Im ersten Teil dieses Artikels habe ich mich mit einem im Januar 2024 von dem deutschen Soziologen Klaus Kraemer an der Universität in Graz veranstalteten Podiumsgespräch beschäftigt, an dem auch der in Kassel lehrende Soziologe Heinz Bude teilnahm. Bude hat bei diesem Versuch einer Aufarbeitung der Corona-Politik ein Narrativ vertreten, das – wie ich schrieb – »eine nationale Gemeinschaft umfassende staatliche Ordnung als den Souverän« ansieht, »der im Falle einer Pandemie qua Exekutive das individuelle Handeln einschränken und zugunsten der allgemeinen Gesundheit vor allem durch Überwachungsmaßnahmen, aber auch durch Ausgangssperren bis hin zu sogenannten ›Lockdowns‹ regulieren kann.« Das zweite Narrativ, »das bis heute nur von einer Minderheit der Bevölkerung getragen wurde, sieht hingegen die freie Entfaltung der Persönlichkeit auch dann an erster Stelle, wenn die allgemeine Gesundheit einer Menschengemeinschaft durch eine Virusepidemie bedroht wird. Dieses Narrativ sieht den Souverän mithin in jedem einzelnen Individuum, in dessen individuelle Verantwortlichkeit auch das Verhalten in einer Pandemie gestellt ist.« Im Folgenden soll es nun um einen weiteren Versuch zur Aufarbeitung der Corona-Politik gehen, nämlich um die Rezeption der im März 2024 veröffentlichten »RKI-Protokolle«.
oder: Das Christliche in der Politik
Im Europawahlkampf wurde einmal mehr beklagt, wie inhaltsleer die Parolen der Volksparteien sind. Dagegen wird eher pflichtschuldig ins Bewusstsein gehoben, wie anachronistisch das C im Parteinamen der christlich-demokratischen (bzw. sozialen) Union ist. In diesem C verschränken sich Kalkül und Sentimentalität. Es geht ja nicht in erster Linie um den Glauben, der immer noch als Privatsache gilt, sondern um eine kulturelle Prägung, um die Wertetradition des Abendlandes – ›Die Christenheit oder Europa‹, um den Titel des 1799 entstandenen Aufsatzes von Novalis heranzuziehen.
Neues über das Fernsehen als »moralische Anstalt«
Es ist naheliegend, dass im Zuge der Corona-Krise neben Sachbüchern oder Corona-Tagebüchern auch Romane, Filme und Theaterstücke veröffentlicht werden, die das uns alle aufwühlende Thema aufgreifen. Dabei mag es meistens um persönliche Verarbeitung, aber auch um Anregung zu Perspektivwechseln gehen. Bemerkenswert ist, dass offenbar schon unmittelbar vor der Pandemie entsprechende Filme oder Serien produziert wurden. Dem subjektiven Empfinden will es scheinen, als erhöhte sich hier die Schlagzahl, und wenn man das Thema ein wenig systematischer verfolgt, bestätigt sich diese Beobachtung. Dabei fällt auf, dass der Großteil dieser Fernsehproduktionen – hier ist die Rede von den öffentlich-rechtlichen, nicht von ›Netflix‹ oder anderen Anbietern – eine bestimmte Lesart, ein Narrativ, eine immer wiederkehrende Tendenz unterstützt.
Die erweiterte Demokratie – Teil IV
Der moderne Mensch stellt sich der Welt als ein Ich gegenüber. Innerhalb seines Ich erlebt er die Ideenwelt. Was sich demgegenüber vor seinen Sinnen ausbreitet, zählt er zu einer unabhängig von seinem Ich existierenden Außenwelt. Sein Nachdenken über die Sinneswahrnehmungen führt ihn allerdings dazu, in diesen Modifikationen seines Gehirns durch eine Außenwelt zu sehen, die ihrerseits nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Die Wirklichkeit hinter der Farbe Rot etwa stellt er sich als Prozess auf molekularer, photochemischer und elektrischer Ebene vor. Ein solcher Zusammenhang ist nicht den Sinnen als Wahrnehmung, sondern dem Denken als Idee gegeben. Statt dem Inhalt seiner Sinneswahrnehmungen spricht er somit seiner Idee eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz zu. Sie ist für ihn ein unveränderliches »Naturgesetz«. Ganz anders dagegen die Kulturideen, von den religiösen Inhalten bis zu den Menschenrechten: Diese erlebt der Gegenwartsmensch als willkürliche Produkte seines Geistes.
Ein Pfingstgeschehen
Am 4. Juni 2020 zogen die medizinischen Fachzeitschriften ›The Lancet‹ und ›The New England Journal of Medicine‹ (NEJM) zwei Artikel zurück. Beide gehören zu den angesehensten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt, insbesondere ›The Lancet‹ hat Generationen von Ärzten geprägt und übt starken Einfluss auf das Gesundheitswesen aus. Nur äußerst selten werden Artikel von diesen Zeitschriften zurückgezogen. Deswegen ist diese doppelte Rücknahme ein Donnerschlag, der eine weitreichende Wende des wissenschaftlichen Diskurses ankündigen könnte. Bedeutungsvoll ist allerdings weniger das Ergebnis an sich, sondern vor allem der Prozess, der dazu geführt hat.