Aufgabe und Anspruch der transdisziplinären Gender Studies (Geschlechterforschung) ist es, Geschlechterverhältnisse wissenschaftlich zu erfassen und ein differenziertes Geschlechterwissen als Beitrag für Vielfalt und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben zu gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Geschlechtlichkeit ist vielleicht gerade für Institutionen schwierig, die sich vor allem auf das Seelisch-Geistige des Menschen konzentrieren wollen. Aber diesen zentral irdischen Bereich von Sex und Gender zu ignorieren oder zu verdrängen, rächt sich letztlich, wie sich etwa an den Missbrauchsskandalen in der Katholischen Kirche gezeigt hat. Für das menschliche Leben und Erleben hat die Geschlechtlichkeit nach wie vor eine existenzielle Bedeutung, zumal damit bei näherem Hinsehen sowohl die Soziale Frage als auch die Forderung des »Erkenne dich selbst« innig verknüpft sind – Fragen, die nach einer tieferen Welt- und Selbsterkenntnis verlangen, und die sich nicht von selbst lösen werden. Deshalb könnten die diversen Hinweise und Erklärungen, die uns Rudolf Steiner zum Thema der Geschlechtlichkeit hinterlassen hat und die bisher nur wenig bearbeitet wurden, durchaus die Basis bilden für einen eigenen Ansatz, für eine anthroposophischgeisteswissenschaftliche Geschlechterforschung.
Die Individualisierung der Lebensformen, Sexualitäten und Identitäten
In den westlich-freiheitlich geprägten Industrieländern haben die letzten 50 Jahre für drei Gruppen von Menschen einen enormen Fortschritt gebracht: für solche, a) die andere Menschen des gleichen Geschlechts lieben, b) deren geschlechtliche Identität nicht eindeutig ist oder c) dem Geschlecht ihres Körpers widerspricht. Angefangen hat es mit der Homosexualität: 1969 wurde in der Bundesrepublik § 175 des Strafgesetzbuches zum ersten Mal reformiert, 1973 ein zweites Mal und 1994 wurde er ganz abgeschafft. 122 Jahre lang hatte er im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik, in der Nazidiktatur und in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass homosexuelle Handlungen von Männern mit Gefängnis bestraft wurden, nach einer Verschärfung unter den Nazis in »schweren Fällen« sogar mit Zuchthaus. In diesem halben Jahrhundert wandelte sich das, was noch in den 1950er Jahren vom Bundesverfassungsgericht als »gesundes Volksempfinden« zum moralischen Maßstab erhoben worden war, grundlegend. Allerdings nicht überall: Etwa 20 Prozent der Staaten der Welt bestrafen homosexuelle Handlungen weiterhin, teils sogar mit dem Tode. Reden wir also erst mal nur über die anderen 80 Prozent der Welt, speziell über Deutschland. Hier hatten wir in den letzten Jahren mehrere schwule Ministerpräsidenten (besonders bekannt wurden sie in Berlin und Hamburg) und nicht wenige schwule oder lesbische Bundesminister*innen, darunter sogar einen Außenminister.
Leiblichkeit und Ich-Erfahrung
Wer bin ich? Diese Frage wird oft mit dem Wort »Identität« verbunden. Allerdings ist dieser Begriff immer schwammiger geworden. Eigentlich fragt »Identität« nach dem Selbst, der unverwechselbaren Wesenheit. Im Kern gleicht mir keiner! Doch inzwischen ist dieser Ausdruck – nicht nur bei der »identitären Bewegung« – geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden: meine Identität als Deutscher, als Mann, als ... Immer geht es um Gruppen! Und doch leiden manche unter der Empfindung: »Ich bin nicht ganz Ich selbst«, und diese Erfahrung hat zunächst mit Nähe oder Fremdheit im Menschenumkreis zu tun. Viele Kinder spielen um ihr zehntes Lebensjahr mit der Vorstellung, sie könnten nur versehentlich in ihre Familie geraten sein, vertauscht in der Geburtsklinik oder adoptiert. Wenn sich das bis in die Jugend hinein fortsetzt, kann es sich zu der starken Vorstellung steigern: »Ich bin in der falschen Familie gelandet.« Viel tiefgreifender wird es für den, der bis ins Erwachsenenalter hinein zu wissen meint, dass er den unpassenden Körper hat, also z.B. sichtlich als Mädchen geboren wurde und sich entgegen allen Rollenerwartungen als Mann fühlt – oder umgekehrt sich als Frau in einem männlichen Körper versteckt meint. Diese Vorstellung gab es vereinzelt wohl schon in vorigen Jahrhunderten, aber sie scheint zuzunehmen. Denkbar wäre auch, dass Menschen sich in Zeiten abnehmender Rollenzwänge häufiger trauen, ihre »Identität« öffentlich zu bekennen. Man sollte nicht vorschnell und schneidig Urteile darüber fällen.
Der eigene Sprachgebrauch als Zeichen im menschlichen Miteinander
Aussagen wie »Das ist nun einmal so« oder gar »Das war schon immer so« hatten noch nie eine überzeugende Auswirkung auf mein Verständnis der Dinge – und wenn das doch in früher Kindheit einmal anders gewesen sein sollte, so haben die ca. 17 Jahre institutioneller Waldorfprägung in meiner Kindheit und Jugend hiermit ein für alle Mal Schluss gemacht. Dinge zu hinterfragen, vorhandene Systeme und Institutionen kritisch zu betrachten, dominanten Diskursen skeptisch zu begegnen – wenn es etwas gibt, das ich aus meinem anthroposophischen Elternhaus und der Zeit als Waldorfschülerin mitgenommen habe, dann das! Mit dieser dem scheinbar »Normalen« gegenüber grundlegend kritischen Haltung geht aber auch ganz klar eine ebenso entscheidende affirmative Überzeugung einher: Eine Bejahung gegenüber dem Anderen, ein Bemühen um Inklusion mir auf den ersten Blick vielleicht fremder Lebensrealitäten, ein gewisses Vergnügen am Umgang mit allen, die sich in ihrer Haltung, ihren Überzeugungen und, ja, auch in den vielen Facetten der menschlichen Identität als Abweichende, als Freaks, eben als anders und unangepasst verorten (lassen). Vor allem aber durfte ich in dieser waldorfgeprägten Kindheit Respekt und ein fortwährendes Bemühen um Verständnis für mein Umfeld und die gelebte Diversität (in der Umwelt ebenso wie in der menschlichen Gesellschaft) entwickeln. Und das gilt auch, wenn diese Haltung doch manchmal an ihre Grenzen gerät, nämlich immer dann, wenn ich Menschen begegne, die sich bewusst dafür entscheiden, es an diesem in meinen Augen unabkömmlichen Respekt gegenüber anderen Menschen fehlen zu lassen.
oder: Freiheit, Gleichheit – Brüderlichkeit!
Die Gender-Debatte wird mit zunehmender Erbitterung geführt. Wie ein Stellungskrieg, in dem sich zwei feindliche Parteien mit Argumenten beschießen. Das hat keinen Sinn! Was geschlechtergerechtes Handeln bedeutet, eine der wichtigsten Zeitfragen, spielt selbstverständlich im Milieu der Sprache eine Rolle: als Problem der Verständigung. Wie wir sprechen, so denken wir – miteinander. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Damit ist das Problem ausgesprochen, und beinahe automatisch tritt damit auch eine Positionierung ein. In Bezug auf letzteres scheint es nur zwei Optionen zu geben: entweder den Begriff der Brüderlichkeit in seiner wörtlichen Erscheinung zu verteidigen, oder das Wort als anachronistisch-patriarchale Erscheinung aufzufassen, die außerstande ist, den entsprechenden Begriff zu aktualisieren. Natürlich geht es hinter den Kulissen des Sprachlichen um den Auftritt der Begriffe oder Ideen. Auf dieser Ebene handelt es sich um die Frage, wie wir Sprache selbst verstehen, welche Idee von ihr dem Denken zugrunde liegt. Wieder zwei Positionen. Ist sie ein beliebiges Konstrukt, ein Transportmittel, Fahrzeug – wie ein Schiff, dem wir eine Ladung von Bedeutung mitgeben, oder ist sie selbst wesentlich das, was wir sind, durch sie: schöpferisches Medium unserer Menschenwürde?
Zu Karl Ballmer: ›Elf Briefe über Wiederverkörperung‹
Mitte Mai 1953 erhält der für seine akademische Versiertheit bekannte Anthroposoph und Autor Hans Erhard Lauer eine Folge von Briefen, die sich auf dessen neueste Veröffentlichung zum Thema Wiederverkörperung beziehen. Bereits der erste Brief ist ein Affront. Er kommentiert nämlich Lauers gebildete Darstellung mit dem Satz: »Wie sich Tante Lieschen die Wiederverkörperung vorstellt – – ...« (S. 9). Lauer kennt den Absender, den hochgradig engagierten Anthroposophen und Maler Karl Ballmer, schon länger. Er hat ihn noch vor dem Krieg mehrmals in dessen Hamburger Atelier besucht, und bestimmt wurden damals intensive Gespräche über Wissenschaft und Anthroposophie geführt. Wohl deshalb antwortet er in seinem eigenen ersten Brief konziliant und bittet den Provokateur, nicht bloß mit seinen Äußerungen zu orakeln und zu kritisieren, sondern selbst einen »positiven und systematischen« (S. 65) Beitrag zum Thema Wiederverkörperung zu leisten. Und in einem zweiten Brief, wenig später, macht Lauer sogar einen besonnenen Vermittlungsvorschlag – den Ballmer indessen auf sich beruhen lässt. Es scheint Ballmer vielmehr nötig, weiter aus seiner eigenen Perspektive zu sprechen und zu versuchen, trotz aller erlebten und vollzogenen Zurückweisung verständlich zu werden. Und d.h. bei ihm: durch seine Begriffsbewegungen und denkerischen Ansatzpunkte, durch seine Schreibpraktiken und Ungehörigkeiten sichtbar und nachvollziehbar zu machen, was sein Erkenntnisethos antreibt und welche Wege es sich bahnt. Es kommt also zu keinem Austausch, wie wir ihn uns als Vertreter einer rationalen Diskursgemeinschaft wünschen würden. Lauer wird sich nach seinem zweiten, von Ballmer nur beiseite geschobenen Brief nicht mehr äußern.
Anmerkungen zum ›Museu Oscar Niemeyer‹ in Curitiba/Brasilien
Mitten im Häusermeer der Millionenstadt Curitiba in Südbrasilien erhebt sich das Oscar Niemeyer Museum, das im Volksmund »Olho« (= »Auge«) genannt wird, weil es wie die Pupille des menschlichen Auges auf seinen seitlichen Glasflächen Himmel, Wolken und umgebende Gebäude spiegelt. Die aus zwei geometrischen Baukörpern, dem Auge und dem Sockelbau, zusammengefügte gelbe Skulptur wirkt monumental. Vom Ausgang im oberen Sockelbereich windet sich eine Rampe über ein Wasserbecken hinweg nach unten auf den Museumsvorplatz. Der von dem Stararchitekten Oscar Niemeyer entworfene und 2002 eröffnete Museumskomplex birgt heute eine Gemälde- und Skulpturensammlung, die zu großen Teilen Kunstwerke südamerikanischer Provenienz umfasst, die andernorts, vor allem in Europa, so nicht bekannt sind, sich aber mit Ausstellungsstücken weltbekannter Museen messen können. Überhaupt ist es zunehmend das Kennzeichen zeitgenössischer Kunst, dass viele Installationen, Videoarbeiten, Skulpturen und Bilder eine globale künstlerische Sprache sprechen. So könnte auch das »Olho« an irgendeinem anderen Ort der Welt stehen. Die Polarisierung der Ost- und Westkunst, wie sie noch im figurativen und abstrakten Expressionismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, wurde inzwischen von vielfältigen künstlerischen Positionen überlagert und aufgelöst. Schließlich bürgt die bereits 1979 von Jean-François Lyotard angekündigte Postmoderne für das »Ende der großen Erzählungen«, an deren Stelle ein durch technische Medien vermitteltes Wissen getreten sei.
Zur Ausstellung ›Monet. Orte‹ im Museum Barberini Potsdam
›Monet. Orte‹ – hinter diesem Titel verbirgt sich eine der größten Monet-Ausstellungen, die es bislang in Deutschland zu sehen gab. Rund 110 Gemälde auf drei Etagen des Potsdamer Museum Barberini zeigen Orte in Frankreich, England, Holland und Italien, die Claude Monet (1840–1926), einen der Hauptmeister des Impressionismus, inspirierten und künstlerisch voranbrachten. »Sie ist die erste Ausstellung, die Monets künstlerischen Werdegang im Hinblick auf seine Ortswahl und sein Ortsbewusstsein in den Blick nimmt«, vermerkt die Pressemitteilung des Museums: »Wir zeigen, wie wichtig bestimmte Landschaften an den Wendepunkten seiner Karriere waren, und untersuchen, wie und warum diese Orte die Entwicklung seiner Malerei beeinflusst haben.«
Zur Ausstellung ›Fantastische Frauen‹ in der Frankfurter Schirn
Wäre ich unmittelbar nach dem Besuch der Ausstellung nach meinen Empfindungen gefragt worden, hätte ich es schwer gehabt, die richtigen Worte zu finden. Offenbar haben mich die vielen Bilder, die bei den Künstlerinnen aus dem Unterbewussten emporgestiegen sind und die vielleicht ein Tor zur geistigen Welt aufgestoßen haben, sehr berührt und auch bei mir selbst Unbewusstes aufscheinen lassen. Ich war verwirrt – nein, das trifft es nicht ganz, es klingt zu negativ. »Gefesselt« wäre richtiger, aber auch das könnte negativ, als einengend verstanden werden. Doch ist das Gegenteil der Fall: Wer sich darauf einlässt, in Ruhe die ausgebreitete Fülle der Bilder zu betrachten, mit Interesse im Sinne des inneren Dabeiseins, wer sich der Fantasie der Künstlerinnen und der eigenen öffnet, dabei ab und zu eine Pause zum Durchatmen einlegt – die oder der wird zwar angestrengt sein, aber dennoch ein Gefühl der Freiheit empfinden. Die ganze Ausstellung wirkt wie vom Atem der Freiheit durchweht.
Freies Geistesleben in der DDR – Teil III
Es mag ihn geben, den einsamen Denker, dem sich zuhause, alleine am Schreibtisch, das Wesen der Dinge erschließt. Aber häufig geschieht auch das, was Heinrich von Kleist in seinem Essay ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ geschrieben hat: »Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben.« Oder, etwas weniger feierlich formuliert, Maxie Wander: »Das ist ja der Trick. Mit dir allein fällt dir meist gar nichts ein, und du versinkst in Trübsal. Guckt dir aber jemand offen ins Gesicht und zeigt auch noch Interesse, da klopft dein Puls auf einmal stärker und du entdeckst in dir Abgründe von nicht gelebtem Leben.«
Das Christentum als irdische Tatsache
Zeitgemäßer Zugang zum Christus-Wesen
Die Notwendigkeit innerer Bildtätigkeit
Der Schwerpunkt des vorliegendes Heftes, nämlich das 100-jährige Jubiläum der Anthroposophischen Medizin, war schon seit Langem geplant, hat aber durch die Corona-Krise unvermutete Dringlichkeit erhalten. Leider konnten wir von den vielen Beiträgen zu diesem bewegenden Thema, die uns in den letzten Wochen erreichten, nur eine Handvoll berücksichtigen. Was gerade die Anthroposophische Medizin in der Behandlung von Covid-19 leisten kann, erläutert einleitend Harald Matthes vom Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, das eine viel beachtete Corona-Ambulanz eingerichtet hat. Zuvor beleuchtet Alain Morau kritisch die Situation bei unseren französischen Nachbarn, vor allem die symptomatische Diskussion um den experimentellen Wirkstoff Chloroquin, und Johannes Roth fügt im Feuilleton anthropologische Gesichtspunkte hinzu.
Frankreich und der »Krieg« gegen Covid-19
»Wir sind im Krieg«, wiederholte Emmanuel Macron sechs Mal in seiner Ansprache zur Corona-Pandemie am 16. März 2020: »Ich rufe alle Akteure in Politik, Wirtschaft, Sozialwesen und Vereinen, das gesamte französische Volk, auf, sich dieser nationalen Union anzuschließen, die es unserem Land in der Vergangenheit ermöglicht hat, so viele Krisen zu überwinden.« Ähnliche Worte hatten die Franzosen schon 2015/16 gehört, als sein Vorgänger François Hollande anlässlich der Attentate in Paris einen »Krieg gegen den Terrorismus« erklärte, was den bis 2017 herrschenden Ausnahmezustand rechtfertigen sollte. Aus dieser und anderen Erfahrungen heraus sollte man besonders wachsam sein, wenn militärische Ausdrücke in Krisen angewendet werden. Sie zielen in der Regel darauf ab, einen »heiligen Bund« mit den Regierenden zu schließen, sodass ihre Politik ohne Widerstand durchgeführt wird.
Welchen Beitrag kann Anthroposophische Medizin in der Versorgung von Covid-19 leisten?
Anfang des Jahres wurde die WHO auf einen neuartigen Virustyp aufmerksam, als plötzlich 41 Personen um den Huanan-Seafood-Markt im chinesischen Wuhan eine schwere Lungenentzündung entwickelten. Der isolierte Erreger stellte sich als ein Coronavirus (SARS-CoV-2) heraus und gilt als neue Zoonose, d.h. ein Virus ist aus dem Tierreich auf den Menschen übergegangen. Solche Zoonosen können ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen, da das Immunsystem des Menschen bisher keine Immunität dagegen aufbauen konnte. Als Zoonosen gelten auch Infektionen wie Ebola, HIV, die Vogelgrippe (SARS-1), Nipah, das West-Nil-Virus, MERS oder das Zika-Virus. Die Letalitätsraten (= Sterberate bei Infektion) betrugen bei Ebola 50-90%, bei HIV ohne Therapie in den ersten Jahren 100%, bei zuletzt aufgetretenen Zoonosenwie dem Nipah-Fieber 40-70% und dem MERS-Coronavirus 20-40%. Somit bestand zu Beginn auch für Covid-19 die Frage nach der Gefährlichkeit für den Menschen.
Entstehung und Zukunftsperspektiven
Da das Jubiläumsjahr um den 100. Geburtstag der Anthroposophischen Medizin mit der Corona-Krise zusammenfällt, macht es Sinn, auf ein ähnlich einschneidendes Ereignis am Ende des Ersten Weltkrieges zurückzublicken. Damals traf das Virus der Spanischen Grippe auf eine durch das Trauma des Krieges, existenzielle Ängste und zum Teil erhebliche Mangelernährung immunologisch geschwächte Weltbevölkerung. Auch Menschen im besten Alter zwischen 20 und 40 Jahren waren betroffen. Die Pandemie hatte weltweit etwa 50 Mio. Tote zur Folge. Die medizinische Versorgung war dem Ausmaß der Pandemie nicht gewachsen, ganz abgesehen davon, dass es weder Impfstoffe noch wirksame Medikamente gab. Länderübergreifender Austausch und gegenseitige Hilfe waren kaum möglich. Heute ist dies anders, die Virusforschung und unser Wissen über das Immunsystem sind weit fortgeschritten. Dennoch trifft die Corona-Pandemie die Menschheit unvorbereitet und löst neben Angst vor Ansteckung und tiefer Verunsicherung auch eine tiefgreifende Wirtschafts- und Sozialkrise aus, deren strukturelle Folgen derzeit noch nicht absehbar sind.
100 Jahre ›Geisteswissenschaft und Medizin‹
Wenn in diesem Jahr in Deutschland und wohl auch an vielen anderen Orten auf der Welt das 100-jährige Jubiläum der Anthroposophischen Medizin feierlich begangen wird, so ist das nur bedingt richtig. Vor 100 Jahren hielt Rudolf Steiner vom 21. März bis zum 9. April 1920 seinen ersten Fachkurs für Ärzte und Medizinstudenten. Die 20 Vorträge dieses Kurses wurden später unter dem Titel ›Geisteswissenschaft und Medizin‹ in schriftlicher Form zusammengefasst. War das der Beginn der Anthroposophischen Medizin? Und ist dieser Begriff angemessen für die Impulse, die Steiner der damals gültigen, streng naturwissenschaftlich geprägten Medizin geben wollte?
Medizin, Psychologie und Psychiatrie
Menschliches Kranksein kann sich nach zwei Richtungen hin äußern: nach der Richtung des Leibes und nach der Richtung der Seele. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass körperliche Erkrankungen mit Änderungen des Empfindens und seelischen Erlebens einhergehen, und umgekehrt seelische Erkrankungen eine Grundlage in körperlichen Prozessen haben. Das ist immer weniger beachtet worden, seit sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an die Felder der körperlichen und der seelischen Krankheiten auseinanderentwickelten. Gegenwärtig stehen die somatischen Fachdisziplinen und die Psychiatrie weitgehend unvermittelt nebeneinander.
100 Jahre Anthroposophische Medizin
100 Jahre Anthroposophische Medizin. Wir begehen dieses Jubiläum in einer Zeit der Pandemie (von griech. pandēmia = das ganze Volk). Nicht nur das ganze Volk eines Landes, sondern die Weltgemeinschaft steht unter Schock durch ein Virus. Es betrifft uns – mehr oder weniger direkt – alle, weltweit. Millionen von Menschen gelten als gefährdet durch ein Virus, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Fledermäusen, womöglich über weitere Wirtsorganismen, hin zum Menschen gelangt ist und sich nun pandemisch ausbreitet. Mit der Corona-Krise wird ein Vorhang gelüftet. Dem Blick öffnet sich eine Art Fratze, ein Gesicht, das in seiner Versehrtheit bloßliegt. Wir blicken auf die Züge einer Gesellschaft, einer Medizin und eines Gesundheitswesens, wie wir das sonst nur punktuell tun, wenn überhaupt.
Die soziale Dreigliederung als Aufgabe der Waldorfpädagogik – Teil II
Der erste Teil dieser Serie ist der Frage nachgegangen, inwiefern die Erziehung im ersten Jahrsiebt die Entwicklung eines freien Geisteslebens im späteren Erwachsenenalter begünstigen oder behindern kann. Der zweite Teil verfolgt dieselbe Frage in Bezug auf das zweite Jahrsiebt und das Rechtsleben. Die Brücke zwischen dem Rechtsleben und der Erziehung im zweiten Jahrsiebt führt über ein Verständnis der Atmungs- und Kreislaufprozesse. Wenn es gelingt, der Entwicklung dieses mittleren Systems im Menschen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, kann sich auch auf gesellschaftlicher Ebene, zwischen Geistesleben und politischem Staat, ein mittlerer Bereich ausbilden.
Ein anthropologischer Gesichtspunkt zur gegenwärtigen Lage
Die nachhaltigen Einschnitte, von denen unser gesellschaftliches Leben seit Mitte März betroffen ist, werden derzeit noch mit sehr unterschiedlichen, teilweise betont drastischen Schlagworten belegt; wir wollen für diese kleine Auseinandersetzung das eher allgemeingültige und abstrakte Wort Krise gebrauchen, freilich nicht ohne den Verweis auf die weitsichtige Charakterisierung im Wörterbuch der Brüder Grimm: »die entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u.ä. mit einander streiten«.
Am 19. Mai 2020 wäre die anthroposophische Ärztin und Schriftstellerin Lore Deggeller 100 Jahre alt geworden. Sie verstarb im hohen Alter am 8. Mai 2016.
Vor 50 Jahren starben Nelly Sachs und Paul Celan
Sie haben sich Briefe geschrieben, von Stockholm nach Paris, von Paris nach Stockholm, eine bewegende Korrespondenz, ein »Meridian des Schmerzes und des Trostes«.
Zwei internationale Tagungen am Goetheanum
Vom 30. Januar bis 2. Februar und vom 5. bis 8. Februar 2020 fanden am Goetheanum in Dornach zwei große internationale Tagungen mit insgesamt über 1.000 Besuchern aus aller Welt statt, über die hier berichtet werden soll. Hatte bislang noch keine Sektion der Freien Hochschule die Klima-Krise zum Gegenstand einer öffentlichen Tagung gemacht, so ist es den Initiatoren der Jugend-Sektion, Johannes Kronenberg, Andrea de la Cruz, Rocio Ferrera, Ioana Viscrianu, und ihrer Leiterin Constanza Kaliks zu verdanken, dass dieses brennende Thema endlich auch von anthroposophischer Seite aus beleuchtet werden konnte.