Über den Maler und Anthroposophen Karl Ballmer
Der Künstler und Denker Karl Ballmer hat den paradox anmutenden Versuch unternommen, aus seiner persönlichen Begegnung mit Rudolf Steiner (1861-1925) heraus diese Beziehung mit Person und Werk so zu denken, dass sie der persönlichen Begegnung als einer unhintergehbaren individuellen Beziehung gerecht wird. Er prägte Formeln wie »Ereignis Rudolf Seiner« oder »Karma-Orientierung der Erkenntnistheorie«. Sie wirken schillernd und widersprüchlich, weil Steiners Werk Wissenschaftsanspruch erhebt und die Ausdrücke nach Personenkult riechen oder nach willkürlicher persönlicher Entscheidung oder privater Esoterik. Natürlich sind sie so nicht gemeint. – Im Folgenden unternehme ich den Versuch, Ballmers zu wenig bekanntes und nicht leicht zu erschließendes Werk bis zu jener Schwelle vorzustellen, wo seine Motive und Begriffe, meine ich, plausibel werden und eine im engeren Sinn philosophische Darstellung beginnen kann.
Imagination, Inspiration und Intuition als Quellorte fruchtbarer Sozialgestaltung
Zunächst werden drei Zugänge zum Erfahren und Gestalten der Prozesse in sozialen Räumen vorgestellt. Sie zeigen die Arbeitsweise spiritueller Sozialgestaltung, basierend auf durch Imagination, Inspiration und Intuition erweiterter Wahrnehmung. Der erste Zugang ist die Außenwahrnehmung des Physischen, Prozessualen, Seelischen und Geistig-Intentionalen in einer Organisation. Der zweite Zugang richtet sich auf das Erleben von Qualitäten der Kommunikationsprozesse in Gestaltungsgremien sozialer Organismen, wie z. B. einer Leitungskonferenz. Der dritte Zugang fokussiert auf die Wirkungsweise einer »Geistigen Raumbildung« innerhalb solcher Gestaltungsorgane. Hierin finden wir ein immer wichtiger werdendes Gebiet in spirituell orientierten Organisationsentwicklungsmethoden, das im letzten Teil aus anthroposophischem Hintergrund heraus genauer beleuchtet wird.
Ein phänomenologischer Beitrag zu einem erweiterten Erfahrungsbegriff
Goethe kann, wie seine naturwissenschaftlichen Schriften zeigen, als ein Vorläufer phänomenologischen Denkens betrachtet werden. Insbesondere am Beispiel des »Urphänomens«, ausdrücklich benannt im Bereich der Optik (Theorie der Farben), lässt sich seine anschauend-denkende und an den vielfältigen »Bedingungen des Erscheinens« orientierte phänomenologische Methode zeigen. Der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938) gilt als der Begründer der phänomenologischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Er arbeitete vor allem in seinen Hauptwerken eine Methode aus, die einen erweiterten Erfahrungsbegriff zugrunde legt. In ihr werden die »originär gebende Anschauung« (als Selbstgebung eines Gegenstandes), die Evidenz sowie das Aufweisen und Ausweisen – statt Konstruktion und Deduktion – zu zentralen Prinzipien des Erkennens mit dem Ziel einer Wesenserkenntnis erhoben. Der Artikel möchte zeigen, dass mit Husserls phänomenologischer Philosophie eine Sprache und Begrifflichkeit zur Verfügung steht, mit deren Hilfe Goethes – vor allem im Bereich der Naturwissenschaft tätiges, phänomenologisches Denken – sich explizit machen und als komplementär zu Husserls Phänomenologie erweisen lässt.
Übertragen aus dem Hebräischen von Elsbeth Weymann
Eine Betrachtung der Geschichte von Jakob und Esau
Die Zwillingsbrüder Jakob und Esau – Kinder des jüngeren Abraham-Sohnes Isaak – ringen um den dem Erstgeborenen zustehenden Segen ihres erblindeten Vaters. Sie werden darüber zu Todfeinden, und eine Versöhnung ist erst nach schmerzvollen Erfahrungen möglich. – Der folgenden Betrachtung liegt eine neue Übersetzung ihrer Geschichte (Genesis 25,20-28,21 und 32,2-33,12) aus dem Hebräischen durch die Autorin zugrunde, die im Anschluss auch abgedruckt ist. Diese versucht, die Vielschichtigkeit der hebräischen Sprache auszuloten, wodurch eine neue Deutung möglich wird. Die Geschichte von Jakob und Esau kann so den Hintergrund des Konfliktes zwischen Juden und Arabern, beides Abraham-Söhne, neu beleuchten und vielleicht auch Denkanstöße für zukünftige Entwicklungen bieten.
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Der Islam als Teil der abrahamischen Religionsfamilie
Der Islam als Religion der Einheit muss an seinen Idealen und höchsten Erscheinungsformen gemessen werden. Durch Offenbarung inauguriert, ist seine Entwicklung möglicherweise auch als Reaktion auf das dreieinheitliche Gottesbild des Christentums zu verstehen. Wie dieses ist er im geistigen Milieu der Spätantike aus dem Judentum hervorgegangen und somit Glied der abrahamischen Religionsfamilie. – Ausgehend von dem islamischen Glaubensbekenntnis sucht Günter Röschert in diesem geschichtlichen Zusammenhang die geistigen Wurzeln des Islam zu ergründen, auch unter Einbeziehung seiner individualisierten Vertiefung in der sufistischen Mystik. Im Anschluss an Thomas Bauer ist für den Autor der salafistische Fundamentalismus auch ein Ergebnis kultureller Kolonisation durch den Westen, die nun auf diesen zurückschlägt. Dabei zeigt die Geschichte, dass es auch zu fruchtbaren Begegnungen kommen kann. Eine sympathetische Betrachtung des Islam erscheint umso dringlicher, als sich derzeit Nachrichten über schreckliche Gewaltverbrechen häufen, die im Namen des Islam verübt werden.
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Zum Themenschwerpunkt dieses Heftes
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»Es haben aber wahrscheinlicher Weise die Ägypter die Natur des Weltalls zunächst unter dem Bild des schönsten Dreiecks sich gedacht ... Dieses Dreieck enthält den aufrechstehenden Teil von drei Seiten, eine Grundlinie von vier Seiten und eine Hypotenuse von fünf Seiten, welche ebenso viel enthält wie die umgebenden Seiten. Man kann nun die senkrecht stehende Linie mit dem Männlichen, die Grundlinie mit dem Weiblichen, die Hypotenuse mit dem aus beiden Geborenen vergleichen und sonach den Osiris als Ursprung, die Isis als Empfängnis und den Horus als die Geburt denken.«So charakterisiert Plutarch in seinem Werk Über Isis und Osiris das ägyptische Dreieck...
Gego und Christian Morgenstern
Das Rätsel Theater
Wie geht der komplexe Prozess des Schauspielens im Theater vor sich? Bezieht er sich lediglich auf den Schauspieler oder betrifft er auch den Zuschauer? Welche Voraussetzungen braucht es, damit ein Stück wirklich gelingt? Und wo stehen wir heute in Bezug auf Bühne und Schauspiel? Ute Hallaschka zeichnet eine Bestandsaufnahme. In einem zweiten, daran anschließenden Artikel im nächsten Jahr wird eine mögliche Zukunftsperspektive aufgespannt werden.
Das Drama des inneren Tempelbaus
Vorüberlegung 1:Der Mensch sucht nach Orientierung. Er sehnt sich nach Sinn. Er möchte seine Position in der Welt ausfindig machen, sie verstehen und bewerten. Gibt es hierfür einen zentralen Punkt, einen ausgezeichneten Mittel- oder Schwerepunkt, aus dem heraus sich der Mensch in der unüberschaubaren Größe und Weite der Welt selbst bestimmen kann? Kann in der Vielfalt der Erscheinungen ein klärendes Ordnungsprinzip gefunden werden? Gibt es einen festen Ankerpunkt in der schwindelerregenden Unendlichkeit des Alls? Wenn ja, müsste er diesen festen Punkt zum tragenden Fundament für den Grundstein seines innersten Heiligtums wählen …
Zur Aktualität der Nervenfrage
Gibt es motorische Nerven? Diese auf den ersten Blick akademische Frage erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine Thematik von großer anthropologischer und vor allem sozialer Tragweite. Wohl selten ist Rudolf Steiner so energisch gegen ein physiologisches Paradigma ins Feld gezogen und hat es zu einer bislang wenig bedachten Ursache einer kranken Arbeitswelt erklärt. Es gibt nur sensible Nerven, betonte er mit immer wieder neuem Nachdruck und hinterließ seinen Anhängern die nicht leichte Aufgabe, dieser Aussage im harten Gegenwind der etablierten Physiologie ein stabiles erkenntnistheoretisches Fundament zu geben. Das Faktum der efferenten Leitung stellt dabei ein Hauptproblem dar. Seitdem sind zahlreiche, z.T. kontroverse, z.T auch polemisch engagierte, aber durchweg gewichtige Beiträge geliefert worden, die einen Diskurs in Gang halten, dessen Bedeutung allgemein noch gar nicht ausreichend realisiert wird. – Anlässlich der Neuausgabe von Wolfgang Schads Die Doppelnatur des Ich – Der übersinnliche Mensch und seine Nervenorganisation soll hier ein Beitrag zum Thema gegeben und ein aktueller Überblick versucht werden.
Richard Strauss, Rudolf Steiner und die ›Gralshüter‹ am Goetheanum
Mit seinen Opern, sinfonischen Dichtungen und Liedern hat sich Richard Strauss (1864-1949), dessen 150. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, schon in jungen Jahren einen festen Platz in den internationalen Spielplänen erobert. Allerdings blieb sein Ruhm nicht unbestritten: Bis heute wird seiner Musik mangelnder Tiefgang, ihm selbst raffinierte Geschäftstüchtigkeit und politischer Opportunismus vorgeworfen. Die folgende Betrachtung, die musikalisch-ästhetische und politische Fragen weitgehend ausklammert, soll die freigeistige Welt- und Lebensanschauung des gebürtigen Münchners beleuchten, deren Fundament während seiner Weimarer Kapellmeisterjahre gelegt wurde. – Strauss befasst sich zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr nicht nur intensiv mit Goethe, sondern auch mit den radikal individualistischen Anschauungen Nietzsches und Max Stirners. Er befreundet sich mit John Henry Mackay, dem anarchistischen Schriftsteller und ersten Stirnerbiografen, von dem er einige Gedichte vertont. Spuren dieser radikalen Anschauungen finden sich im selbstverfassten Text seiner ersten Oper Guntram. Während diese Fakten in der Strauss-Literatur präsent sind, besteht hinsichtlich seiner Begegnung mit dem Goetheforscher und gefragten Nietzschekenner Rudolf Steiner, der damals in Weimar seine Philosophie der Freiheit vollendete, noch Forschungsbedarf.
Die Arbeitsbücher von Volker Braun
Das Tagebuch ist das Unmittelbare. Es hält den Augenblick fest, den noch unreflektierten Eindruck, die erste Idee. Insbesondere in bewegten Zeiten vermag der rasch hingeworfene Eintrag die spontane, noch von keinem Wissen um den weiteren Verlauf der Ereignisse beeinflusste Reaktion wiederzugeben. Den Arbeitsbüchern des Dichters, Dramatikers und Erzählers Volker Braun kommt daher eine besondere Bedeutung zu, zeugen sie doch vom Verschwinden eines ganzen Staates. Soeben ist ihr zweiter Band erschienen. Er setzt ein mit dem Beginn des Jahres 1990. Die Mauer ist gefallen, aber die DDR existiert noch. Und die Hoffnungen sind groß.»die zeit ist da, auf die wir hingearbeitet haben. nun verlangt sie konsequenz«, gibt Braun die Aufbruchsstimmung, von der auch er erfasst ist, wieder. Der SPD beizutreten, wie der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, lehnt er für sich ab. »wozu ›einlassen in verbindungen, deren zeit auf dem kontinent vorüber‹«, notiert er in Anlehnung an Karl Marx. Und bereits wenige Wochen später führt er aus, was er sich vorstellt: »ich sehe keinen anlaß, im geistigen zu resignieren. diese revolution wird nur als konterrevolution gelingen, der fortschritt als restauration. vorrücktwärts, wie gesagt. aber wir müssen das gnadenlos sehen: da die probleme nicht innerhalb des systems zu lösen sind, muß man hinausgehn: aus dem osten hinaus. es wird sich zeigen, daß sie auch nicht im westen bewältigt werden – und man sich in die welt denken muß. das meint die verfemte formel ›dritter weg‹.« ...
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Geistige Hierarchien in der Selbsterfahrung und als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis
Engel und höhere Hierarchien gehörten für Jahrhunderte christlicher Entwicklung zum Wirklichkeitserleben vieler Menschen. In den Disziplinen Philosophie, Theologie, aber auch in der Physik waren diese Wesen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, bis in das Verständnis kosmischer Bewegungen hinein. Für die Neuzeit ist dieser Aspekt der Wirklichkeitsbeziehung verloren gegangen; die Rede von geistigen Wesen hat sich auf die ›subjektiven‹ Bereiche von Glaubensüberzeugung, Religion und spirituellem Bedürfnis zurückgezogen – mit der Tendenz, hinter entsprechenden Vorstellungen und Erlebnissen keine Realität, sondern eine Illusion zu vermuten. Entsprechend konnten geistige Wesen kein Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis mehr sein. In dem vorliegenden Aufsatz möchte ich der Frage nachgehen, ob es in der Wirklichkeitsbeziehung des 21. Jahrhunderts möglich sein könnte, eine erkenntnisgestützte Beziehung zu höheren Hierarchien neu zu gewinnen, bis in die Begründungszusammenhänge wissenschaftlicher Darstellung hinein. Meine Fragestellung lautet weiter, ob ein solcher geistiger Realitätsbezug ohne legitimierenden Rückgriff auf Aussagen religiöser Überlieferung, älterer Wissenschaft und auch der Anthroposophie möglich wäre. Selbstverständlich sind bei einer solchen Untersuchung Rekurse auf frühere Engelanschauungen sinnvoll. Aber ältere Überlieferungen zu den Hierarchien sollen nicht einfach inhaltlich übernommen, sondern allenfalls durch einen heute möglichen Erkenntnis- und Erlebniszugang durchsichtiger werden.
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Die Wissenschaftskonzeption von Andrej Belyjs »Geschichte des Werdens der Bewusstseinsseele«
Andrej Belyjs Bewusstseinsseelengeschichte, über die bereits in dieser Zeitschrift berichtet wurde (die Drei 6+7-2011), zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass in ihr Gegenstand und Methode verschränkt sind: Die Bewusstseinsseele, von Rudolf Steiner zuerst benannt und beschrieben, wird in ihrem Werden über 2000 Jahre hinweg verfolgt und zugleich wird ihre Art, zu erkennen, der Darstellung dieser Geschichte zugrunde gelegt. Hier soll diese Erkenntniskraft näher betrachtet werden, wobei Belyi sich ihr in immer neuen hermeneutischen Kreisen annähert. – Belyi begreift das Individuum als ein »Tempel vieler Persönlichkeiten«. Es ist in der Lage, die dynamische Natur des Ideellen zu ergreifen, aus Erkenntnis Komposition werden zu lassen und von der Pluralität der materiellen Welt über die Gegensätze im seelischen Leben zur Einheit des Geistes aufzusteigen. Auf diesem Wege individualisiert er die Anthroposophie.
Gelingende Worte, sich klärende Gesten – Teil II
Im ersten Teil seiner Studie hat Ulrich Kaiser das Konzept der Performativität, wie es im Anschluss an John Langshaw Austin seit den 50er Jahren entwickelt wurde, darstellt (die Drei 9/2014). Nun geht es um das Wirken Rudolf Steiners als Vortragender, Ritualist, Schriftsteller und spiritueller Lehrer. Steiners Werk, so Kaisers These, ist darauf hin angelegt, dass es von seinen Zuhörern und Lesern performativ hervorgebracht wird. Jede solche Hervorbringung trage in sich das Moment der Verwandlung. Nur wo dies auch geschehe, könne von Anhroposophie die Rede sein.
Seelenverständnis und Todesüberwindung
Obwohl Rudolf Steiner die Anthroposophie anfangs mit Bezug auf die Naturwissenschaften begründet hat, begegnen wir in ihr doch einer besonders großen Reihe von Inhalten, die in der Wissenschaftswelt nicht in den Bereichen der Natur-, sondern ausschließlich in denen der Geisteswissenschaften zu finden sind. Dort wiederum sind die thematischen Berührungen im Feld der Theologie besonders groß. In der Theologie bahnen sich deshalb Gespräche über die Grenzen der unterschiedlichen Sprachräume von anthroposophischer und universitärer Wissenschaft hinaus eher an als anderswo. Im Werk Steiners finden wir die Rede von der Seele in Abgrenzung und im Vergleich mit dem Leiblichen und dem Geistigen des Menschen. Der Leib vermittelt die Sinneswahrnehmung, durch die Seele treten wir in ein persönliches Verhältnis zur Welt, und mit unserem Geist erkennen wir die zeitlosen und überpersönlichen Gesetzmäßigkeiten der von unseren Bedürfnissen unabhängigen Wahrheit. Das ist Steiners Ansatz im Grundlagenwerk Theosophie von 1904. Ganz anders begegnet uns der Begriff der Seele im Raum der Geistesgeschichte. Hier geht es im Gespräch über die Seele primär um die Fragen des nachtodlichen Lebens. Von hier aus sind deshalb die Versuche zur »Abschaffung« des Seelenbegriffs in der Theologie des 20. Jahrhunderts zu betrachten und auch die beiden aktuellen theologischen Vorstöße zur Rehabilitierung des Seelenbegriffs, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe: Christof Gestrich: Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung (Frankfurt/Main 2009) und Helmut Feld: Das Ende des Seelenglaubens (Berlin, Münster 2013).
Franz Kafka trifft Rudolf Steiner
Georg Bendemann, Joseph K., Gregor Samsa und wie die Figuren Kafkas alle heißen – fast allen ist in groben Zügen eines gemeinsam: Sie haben ein existenziell problematisches Verhältnis zu der sie umgebenden Welt und damit zu sich selbst und scheitern zwangsläufig bei dem Versuch, dieses Problemverhältnis zu überwinden. Mehr noch: Die Überwindungsversuche enden fast ausschließlich letal. Weshalb? Und vor allem: Warum lässt uns Lesende diese unentrinnbare Dekonstruktion1 jeder Lebensfähigkeit so erschüttert dastehen? Und als vielleicht wichtigste Frage: Haben wir etwas davon, etwas Positives, einen Entwicklungsanstoß vielleicht? Warum lässt uns der »Dunkelmann« Kafka nicht los? Oder faszinieren uns nur die gezeigten seelischen Abgründe, die Lust am kultivierten Scheitern?
Teil I: Das Konzept der Performativität
Rudolf Steiner wollte mit seinem Schreiben und Reden stets wirken. Um diese ursprüngliche Dimension des Performativen in seinem Werk herausarbeiten zu können, stellt Ulrich Kaiser im folgenden ersten TeiI seiner Arbeit das Konzept der Performativität vor, wie es von John Langshaw Austin in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt und durch Philosophen und Philosophinnen wie Habermas, Derrida und Judith Butler ausdifferenziert und modifiziert wurde: Letztlich bringt jeder Sprechakt eine (neue) Situation hervor, ja bestimmt sogar das vermeintlich Naturgegebene. – Diesen ersten Teil abschließend, entwickelt Kaiser ein »hermeneutisches Dreieck«, worin deutlich wird, dass die Dimension des Performativen niemals nur für sich besteht, wir also unsere ganze Kultur nur auf Fragen des Gelingens oder des Hervorbringens aufruhen lassen können. In diesem Kontext stellen sich auch weiterhin und vereint damit die Fragen nach Wahrheit oder Kohärenz, die Fragen nach Schönheit und der Darstellungsweise.
Johannes Lepsius und der Völkermord an den Armeniern
Die Christen sind weltweit die am meisten verfolgte Religionsgruppe, obwohl sie mit ca. 2,26 Milliarden Anhängern (zum Islam gehören ca. 1,57 Milliarden Menschen) als meist verbreitete Religion führend sind. Etwa 100 Millionen von ihnen werden verfolgt. Verfolgung beginnt mit Worten, mit Hohn und Spott, und endet mit langjährigen Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe. Woran liegt das? Und in welchen Ländern werden die Christen am stärksten verfolgt? Den traurigen Rekord hält Nordkorea, gefolgt von Somalia und Syrien. Afghanistan, Pakistan und Iran sind unter den ersten zehn. Was könnten die Auslöser für diese Verfolgung sein? – Maja Rehbein spürt diesen Fragen am Beispiel der ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs verfolgten und ausgerotteten Armenier nach – und des Einsatzes des Philosophen und Theologen Johannes Lepsius für dieses uralte christliche Volk.
Mitteleuropa und die Balkanländer
Es ist in diesem Jahr schon viel zur Entstehung, zum Verlauf und den Folgen des Ersten Weltkriegs gesagt worden. Hier soll der Blick speziell auf den Schauplatz des Kriegsausbruchs 1914 gelenkt werden: auf Sarajevo, auf Bosnien, Serbien und die Balkanhalbinsel. Es soll von diesem Schicksalsort und diesem Schicksalsjahr 1914 aus zum einen in die Geschichte zurück, zum anderen aber in unsere Gegenwart vorausgeblickt werden, in eine Gegenwart, in der die Folgen von 1914 in tragischer Weise noch immer andauern und als unverheilte Wunden Mitteleuropa noch immer brennen und schmerzen. Es ist gut, das Bewusstsein darauf zu lenken, um damit etwas zur Selbsterkenntnis Mitteleuropas beizutragen. Diese unverheilte Wunde Europas, insbesondere Mitteleuropas ist die Grenze zwischen Ost und West, in der sich der Weltgegensatz zwischen östlicher und westlicher Geistesart in Mitteleuropa manifestiert – historisch und zugleich real als heutige Lebenswirklichkeit.
Den Anderen als Anderen wahrnehmen
Inklusion ist insofern ein völlig neuer Gedanke, als er nicht die Steigerungsform von Integration ist. Wir müssen uns frei machen von Konzepten und uns dem unkategorialen Miteinander nähern. Dies braucht Offenheit für Gestaltung. Ich bin der absoluten Überzeugung, dass insbesondere die Waldorfschulen wegen ihrer menschenwürdigen Grundlagen und ihrer künstlerischen Blickrichtung ein großes Potenzial besitzen, das individuelle Ich in seiner Entfaltung zu begleiten und dem Anderssein zu begegnen.
Von der Schwierigkeit, in Beziehungen zu leben
... Genau diese Beharrungstendenz, nichts Neues zu wagen, entfremdet uns von uns selbst – warum? Wenn wir ohne Risiko und Experiment nur unsere Automatismen und Gewohnheiten bedienen, erringen wir nie neue Sichtweisen, Erfahrungen und Handlungsoptionen. Sind wir dagegen mutig, so werden wir hoch belohnt mit mehr Selbstvertrauen, Selbsterkenntnis und Freiheit. So schaffen wir in uns selbst die Voraussetzungen, auch Unbekanntes in anderen Menschen und anderen Kulturen zu verstehen, zu achten, zu schätzen und diese nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu erfahren.
Aus Mitteleuropa ins Reich der Mitte
Der erste und auf Dauer auch bleibende Eindruck von China besteht in den Menschen. Unversehens findet man sich inmitten von für europäische Verhältnisse kaum vorstellbaren Menschenströmen, die bei manchen Besuchern alle möglichen Schreckvisionen aktivieren, für andere dagegen ein geradezu festliches, wenn auch unverstandenes Erleben bedeuten. Man betritt eine Welt, die »anders« ist, und man begreift: Alle gängigen Vorstellungen von China sind zu knapp, zu einfach, wenn nicht gar irreführend – vergiss, was du über China gehört hast und versuche selbst zu verstehen.
Aus Mitteleuropa ins Reich der Mitte
… Über die Auseinandersetzung mit unseren eigenen Bedingtheiten hinaus sind wir veranlagt, den Rufen für die Entwicklung des Ich als geistigem Führer Raum zu geben. Mit dem Wissen um unsere Welt, mit den Kenntnissen, dem globalisierenden Vorstellen wachsen Haltepunkte für die Person. Sie muss darauf achten, mit dem Potenzial ihres seelischen Gefüges zu einer Verbindung und menschlichen Erweiterung mit der Welt zu kommen. Die Gefahr, engstirnig und kleingeistig bei sich und begrenzten Gruppeninteressen zu verharren, sich in Ressentiments abzugrenzen, verzerrt die Ansätze eines Weltbewusstseins. Egoismen und faschistische Strukturen mit totalitärem, diktatorischem Charakter teilen ein in Eigenes und Fremdes und polarisieren zur Bestätigung einer vermeintlichen Stärke.
oder: Das Haus der Seele im Wandel der Zeiten
Wir sind heute längst dabei, das Haus der Seele wieder zu verlassen und die ganze Welt zu unserem Haus zu machen – auch wenn wir mit den Entwicklungen nicht immer ganz mitkommen und sie uns zu überrollen drohen.8 Noch nie hat es vergleichbare Möglichkeiten gegeben, Fremdes kennenzulernen oder so umfänglich zu kommunizieren wie heute. Wir erfahren nahezu in Echtzeit von den Katastrophen und Kriegen auch in den entferntesten Ländern und können die Erde in ihrer Verletzbarkeit und mit ihren Verletzungen jederzeit via Internet aus dem Weltraum betrachten. Nicht nur Tsunamis, sondern auch Wellen der Anteilnahme gehen um die Erde, z.B. wenn ein Mensch wie Nelson Mandela stirbt. Und noch nie gab es einen so intensiven und befruchtenden Austausch zwischen den Religionen der Welt und vernetzen sich immer mehr meditierende Menschen aus allen Kontinenten im Dienste eines gemeinsamen Bewusstseins für Erde und Mensch.
Wären wir anders in der Welt zugegen, wenn wir uns aktiv der faktischen Fremdheit aussetzen würden, statt sie bloß zu erleiden, wenn nicht gar zu verdrängen oder zu bekämpfen? Mir kommt der Satz: Wir müssen uns seelisch fremd werden, um uns geistig näher zu kommen.
Während frühere Generationen ihrem Schicksal kaum ausweichen konnten und ihr Spielraum oft nur darin bestand, das Beste aus dem ihnen Widerfahrenden zu machen, besteht in der Gegenwart die große Herausforderung, mich in den vielen Möglichkeiten der Lebensentwürfe nicht zu verlieren. Wie kann ich überhaupt wahrnehmen, ob ich mit einer Situation, einer Menschengemeinschaft, einem Ort, einer Aufgabe etc. zu tun habe?