Artikel von Ute Hallaschka
Vielleicht ist es so, dass das gemeinsame Leiden an unserer Verschiedenheit so stark geworden ist, dass wir letztere nicht länger als Quell der Humanität nutzen können, sondern ausbaden in tödlicher Zersetzung. Von der Virusentzweiungsdiskussion mit einem Freund bis hin zur großen Weltpolitik: Blöcke! Überall Blöcke. Fraktionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Wer das nicht will, steht ganz im Abseits, allein auf sich gestellt. Das ist auch kein menschenwürdiger Zustand. Ich suche Hilfe dort, wo ich sie immer suche, in der einigenden Ideenwelt. Diese Formulierung stammt aus der ›Philosophie der Freiheit‹.
Im Gespräch mit einer Rose
Vor mir steht eine Rose und schaut mich an. Das ist eine längere Geschichte, die Beziehung zwischen uns. Um sie abzukürzen: Die Rose stammt von einem Strauch, der mir früher zugänglich war. Die Menschen, denen der Grund und Boden gehört, auf dem sie wächst, hassen Rosen. Bevor ich diese Menschen kannte, wusste ich nicht, dass es so etwas überhaupt gibt in der Welt. Es war mir also erlaubt, die edlen, wundervollen Blüten ins Haus zu holen, ganze Sommer lang – gedecktes Rot, mit einer feinen Pfirsichnote der Duft – ihre Schönheit genießend. Damit ist es jetzt vorbei. Die Rosenhasser hassen nun auch mich. Das ist eine noch längere Geschichte.
Ich glaube nicht an die Macht der Bilder. Bilder, die keine Originale sind. Originale sind immer selbsterzeugt. Auch wenn sie an der Wand hängen – scheinbar. Man muss zwar hingehen, um sie zu sehen, aber verwirklicht werden sie im Auge des Betrachters. Nirgendwo sonst. Insofern sind Originale immer Eigenwerk, ob nun stofflich als Vorlage für das schöpferische Nachbild oder gänzlich imaginativ in der eigenen Einsichtskraft erschaffen. Die Kraft der Einsicht ins Offene – nur wenn sie angesprochen wird, auf Augenhöhe, bildet sich Werk.
Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.