Artikel von Ute Hallaschka
Betrachtungen einer Reservatsbewohnerin
Als die Welt noch jünger war – wie lange ist das her? Dieses Gefühl der Unbefangenheit dem Leben gegenüber, erst recht im Bewusstsein. Im Willen, der sich, kaum gefasst, nicht sogleich bedroht fühlte von Platzangst oder Erstickungsempfindung. Vielleicht ist das erst rund 25 Jahre her. Das klingt kurz – oder ein Vierteljahrhundert, das scheint etwas länger, obwohl es sich um denselben Zeitraum handelt, nur die Bezugsgröße ist eine andere. Auf kosmische Zeitverläufe bezogen ein Tropfen im Meer, und doch zugleich wieder im menschlichen Maßstab: Aktuell liegt rund ein Drittel der fünften nachatlantischen Entwicklungsperiode hinter uns. Wie dringend müssten wir uns verjüngen im zwischenmenschlichen Leben? Wie könnte sie aussehen, die Jugendlichkeit der Weisheit? Denn das ist ja die kulturelle Zukünftigkeit. Was hereinkommt ins Leben mit der Geburt und der Gebürtlichkeit, an übersinnlichen Impulsen und Energien, ist das eine – das andere ist die Verfasstheit unserer Zivilisation.
Ich will gerade die Straße überqueren, da trifft mich ein blauer Lichtstrahl. Unwillkürlich schaue ich mich um, nach einer Radarfalle – aber, Gott im Himmel, ich bin doch zu Fuß unterwegs. Dann suche ich tatsächlich den Himmel ab, ob vielleicht eine Drohne ...? Nach dem Blitz kommt der Donner, prasselnd geht der Hagel nieder, es ist ein Gewitter. Ein erschreckender Jahresbeginn, Anfang 2018. Obwohl ich elektronisch abstinent lebe und dies keineswegs als Verzicht, sondern als Wohltat empfinde, nehme ich offensichtlich teil am Wahnsinn der Zeit. Wie könnte es sonst sein, dass ich eine überraschende Lichterscheinungn automatisch als technisch verorte? Das blaue Licht spottet meiner Geistesgegenwart.
Beobachtungen auf der ›documenta 14‹ in Athen
»Hiermit trete ich aus der Kunst aus.« Joseph Beuys – Hiermit schließe ich mich dem vorangestellten Aktionssatz an. Es ist Zeit, Stellung zu beziehen. Was soll man anfangen mit einer Kunstveranstaltung, die als Parallelwelt fungiert – und keine Wärme, keine Zähmung, nichts an die wildfremde Wirklichkeit abgibt, dies aber zuvor ausdrücklich als ihr Anliegen formuliert: »In der Echtzeit, in der echten Welt zu agieren, in der wir leben wollen«? Die Rede ist von der ›documenta 14‹, deren erster Teil dieses Jahr in Athen stattfand. Ich war dort, ich kam, mich berühren zu lassen, denn: »Ich liebe Griechenland und Griechenland liebt mich«. Darum werde ich versuchen nicht mit einer Silbe abzuweichen in der Beschreibung dessen, was wirklich der Fall war.
Vielleicht ist es so, dass das gemeinsame Leiden an unserer Verschiedenheit so stark geworden ist, dass wir letztere nicht länger als Quell der Humanität nutzen können, sondern ausbaden in tödlicher Zersetzung. Von der Virusentzweiungsdiskussion mit einem Freund bis hin zur großen Weltpolitik: Blöcke! Überall Blöcke. Fraktionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Wer das nicht will, steht ganz im Abseits, allein auf sich gestellt. Das ist auch kein menschenwürdiger Zustand. Ich suche Hilfe dort, wo ich sie immer suche, in der einigenden Ideenwelt. Diese Formulierung stammt aus der ›Philosophie der Freiheit‹.
Das kürzlich vorgelegte Klimaschutzpaket lässt sich nicht anders als ironisch kommentieren. Was als Endziel der CO2-Bepreisung vorgestellt wird, ist eine politische Verhaltenstherapie zur Modifikation der Volksseele. Offenbar soll die Bevölkerung nun mit sanfter Gewalt wie Herdenvieh in die richtige Richtung gelenkt werden. Die zunächst vertagte, aber dann doch irgendwann – wenn’s die Leute vielleicht wieder vergessen haben – kommende Gebührenordnung ist so prozessual eingerichtet wie ein Naturgeschehen: eine allmählich ansteigende finanzielle Belastung, an die man sich gewöhnen wird wie an die zunehmende Hitze. Wirtschaft und Industrie werden ebenso gelenkt. Solange sich der Schaden noch rechnet, wird weiter mit Emissionen gehandelt. Die Kosten-Nutzen-Bilanz soll von selbst dafür sorgen, dass neue und erdfreundliche Technologien hervorgebracht werden. Das ist das Naturgesetz des Marktes, das sich ja schon in der Vergangenheit als so segensreich erwiesen hat.
Jeder sechste Bundesbürger lebt in Deutschland offiziell in Armut. Ein Fünftel der Erwerbstätigen ist im Niedriglohnsektor beschäftigt. Diese Elendsskala erfasst noch nicht die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Diese nackten Zahlen hätten einen anderen Wahlausgang erwarten lassen. Doch was gab es zu wählen für dieses Land, das eine neue Sozialpolitik braucht? Außer der Linken, die weiterhin unter sozialistischem Ideologieverdacht steht, gibt es keine Partei, die sich radikal zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bekennt. Die Linke trägt schwer an ihrem Erbe, ihre politische Theorie ist Vergangenheit, daher kommt sie mit ihren Zielen nicht in der Gegenwart an. Doch sie zeigt sich immerhin an der Realität orientiert. Alle anderen Parteien leiden mehr oder minder an Realitätsverlust. Ihre in der Vergangenheit konzipierten Identitäten sind weggebrochen.
Wenn das Wort nicht mehr unter uns wohnt
Jetzt sind wir angekommen. In der stummen Stille. In diesem zwischenmenschlichen Raum – denn ein anderer ist es ja nicht. Stumme Stille gibt es nur zwischen Menschen. Es war einmal anders, als der Kosmos noch sprach. Es wird auch definitiv wieder anders werden. Aktuell erfahren wir das kosmische Mitspracherecht. Lange hat die Erde geschwiegen. Jetzt äußert sie sich. Noch ist es Bild, sind es Zeichen, doch allmählich werden wir das, was wir wahrnehmen, als Kommunikation eines Wesens verstehen. Mit diesem Wesen auf Augenhöhe zu kommen, dazu brauchen wir ein entsprechendes Sprachvermögen, und zwar dringend, denn durch die Sprache bilden sich Begriffe – im Dialog mit der Erde.
Mein Biowarenhändler ist ein Zyniker. Das Attentat in Berlin kommentiert er mit den Worten: »Offenbar war einer von Merkels Gästen am Werk. Es wird geliefert wie bestellt.« Ich schweige. Was soll ich dazu sagen? In mir entsteht eine Frage: Wie mag es in der Seele eines Menschen aussehen, der töten will?
Im Gespräch mit einer Rose
Vor mir steht eine Rose und schaut mich an. Das ist eine längere Geschichte, die Beziehung zwischen uns. Um sie abzukürzen: Die Rose stammt von einem Strauch, der mir früher zugänglich war. Die Menschen, denen der Grund und Boden gehört, auf dem sie wächst, hassen Rosen. Bevor ich diese Menschen kannte, wusste ich nicht, dass es so etwas überhaupt gibt in der Welt. Es war mir also erlaubt, die edlen, wundervollen Blüten ins Haus zu holen, ganze Sommer lang – gedecktes Rot, mit einer feinen Pfirsichnote der Duft – ihre Schönheit genießend. Damit ist es jetzt vorbei. Die Rosenhasser hassen nun auch mich. Das ist eine noch längere Geschichte.
Ich glaube nicht an die Macht der Bilder. Bilder, die keine Originale sind. Originale sind immer selbsterzeugt. Auch wenn sie an der Wand hängen – scheinbar. Man muss zwar hingehen, um sie zu sehen, aber verwirklicht werden sie im Auge des Betrachters. Nirgendwo sonst. Insofern sind Originale immer Eigenwerk, ob nun stofflich als Vorlage für das schöpferische Nachbild oder gänzlich imaginativ in der eigenen Einsichtskraft erschaffen. Die Kraft der Einsicht ins Offene – nur wenn sie angesprochen wird, auf Augenhöhe, bildet sich Werk.
Kleine Auferstehung mit Krähen
Seit wie vielen Tagen – oder sind es schon Wochen – rüttelt jetzt der Sturm am Haus? Alles klappert, von den Ziegeln bis zu den Läden. Wie Atemstöße zieht es durch die undichten Stellen, weht eiskalt in meinen Nacken. Draußen ächzt es. Es stöhnt, brüllt, wimmert, seufzt. Tobende Luftmassen. Es ist die Stimme der Erde. Allmählich fühle ich mich wie in Albert Camus’ Roman ›Der Fremde‹. Was ich vorher nie verstanden habe, wie der Wind als Naturkraft einen Menschen so um seine Fassung bringen soll, dass er einen Mord begeht, wird mir jetzt nachvollziehbar. Es ist Groll in diesen Böen und Bosheit in der Luft.
Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.