Artikel von Ute Hallaschka
Zur Ausstellung ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ im Frankfurter Städel Museum
Das Thema Renaissance scheint in der Luft zu liegen. Nach der großen Florentiner Schau in der Münchner Pinakothek widmet sich nun das Frankfurter Städel Museum mit einer Sonderausstellung zu ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ diesem Kapitel der europäischen Kunstgeschichte. Mit über hundert Meisterwerken sind die Künstler der Lagunenstadt vertreten, die im 16. Jahrhundert einen eigenständigen Stil entwickelten. Sie setzten vor allem auf rein malerische Mittel, die Wirkungen von Licht und Farbe. Diese Ausstellung zeigt nun die ganze Bandbreite der venezianischen Malerei. Neben Tizian, der mit über 20 Werken präsentiert wird, die umfangreichste Auswahl, die je in Deutschland gezeigt wurde, sind vor allem Tintoretto und Paolo Veronese vertreten. In acht thematischen Kapiteln untersucht die Ausstellung aber auch eine Polarität, die schon in der zeitgenössischen Rezeption des 16. Jahrhunderts eine Rolle spielte: der Gegensatz von disegno (Zeichnung) in Florenz und Rom sowie colorito (Farbe) in Venedig.
Eine Theaterinszenierung und eine Ausstellung in München
Vorhang auf!
Während ich dies schreibe, schaue ich zurück. Ich versetze mich voraus in den April und schaue durch die Augen des Lesers zurück, um von dorther auf das aktuell Entstehende Einfluss zu nehmen. Soll es nämlich im April – dem vermutlichen Erscheinungsdatum – noch etwas besagen, dann muss ich die Zeit buchstäblich aufheben und zurückwerfen. Die Bewusstseinsgeste der Zukunft gegenüber ist kein Vorwärts-Tasten mit dem Blindenstock im Dunkeln; es ist Vorwurf und Rückblick der Phantasie an der Wegkehre, an der Wasserscheide der Zeit, wo die Ströme sich trennen. Wo etwas Zukunft wird, was vergangen war.
Zur Ausstellung ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ in der Kunsthalle München
In der Kunsthalle München bietet sich die seltene Gelegenheit, Einblick zu nehmen in eine weit entlegene Kultur. ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ ist wirklich eine Augenweide, ein Schauspiel, in dem der Betrachter sich ganz seiner sinnlichen Erfahrung anvertrauen kann. Das ermöglichen die rund hundert Exponate der Sammlung Ann und Gabriel Barbier-Mueller, die erstmals in Deutschland gezeigt werden. Die Objekte stammen aus dem 7. bis 19. Jahrhundert und wurden größtenteils in Europa erworben. Doch handelt es sich nicht um Raubkunst. Nach der Auflösung des Shogunats wurden die Rüstungen und Waffen der Samurai zu Repräsentationsobjekten, die als Ehrengeschenke für ausländische Gäste verwendet wurden. Das ist das erste, woran die Augen sich gewöhnen müssen: Gerätschaften des Krieges als Kunstwerke zu sehen.
Zu Thomas Bernhard: ›Minetti‹ am Residenztheater in München
Jemand hat mich gefragt, wann ich zum letzten Mal eine Theateraufführung gesehen habe, die mich getroffen, berührt, mitgenommen, um nicht zu sagen erschüttert hat. Nichts anderes bedeutet im Theater: Güte. Es muss lange her sein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zuschauer hat ja nichts als seine Augen und Ohren, durch die er an der Handlung teilnimmt. Gutes Theater bedeutet also, dass mithilfe dieser Sinne ein Prozess in Gang gesetzt wird, der mich verändert. Ich werde körperlich buchstäblich ergriffen. Das, was von der Bühne herkommt, sagen wir ruhig: (an)wehender Geist, durchdringt mich anders als die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung. Denn das, was mich da anweht, ist ja äußerlich gesehen, gar nicht da – es stammt als Gewebe eingebildeter Außenwelt aus dem Innern eines anderen Menschen. So erscheint die Welt, als wäre sie Idee und damit wird sie mir zur Landschaft der Freiheit. Hier spielt mein Wille die Hauptrolle, denn das Ich ist der Souverän des Ideellen.
Zur Neuinszenierung der ersten beiden Mysteriendramen am Goetheanum
Zu Reiner Kunzes 85. Geburtstag
»Welches Glück, einen Dichter zu haben ...« Das ist der immer wiederkehrende Stoßseufzer der Hauptfigur des Romans ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ von Rainer Maria Rilke. Brigge ist eine biografische Figur, der Autor lässt ihn in Paris unter seinen eigenen Lebensumständen wohnen, identisch bis zur Hausnummer. Auch seine Ängste und Sorgen gibt er der Figur mit – Rilke, der im Grunde sein Leben lang obdachlos war, ohne eigene Wohnung und ohne gesichertes Einkommen, ständig angewiesen auf Unterstützung durch Gönner und Mäzene. Malte, der Romanheld erfährt das soziale Elend des damaligen Paris der Jahrhundertwende. Immer wenn er es in der Winterkälte der ungeheizten Wohnung nicht mehr aushält, geht er in die Bibliothek. Draußen auf der Straße die Bettler, die ihm zu verstehen geben: Bald könntest du einer von uns sein … Diese bedrohliche Vision, die seine eigene ist, bekämpft Rilke nicht mit dem Gefühl: »Welches Glück, ein Dichter zu sein!« Seine soziale Randlage empfindet er als Auslieferung und die Pflicht des »Dennoch« in der Notwendigkeit künstlerischen Schaffens.
Zu Lutz Seiler: ›Stern 111 – Roman‹
›Stern 111‹, der neue Roman von Lutz Seiler, hat den Geisterpreis der (nicht stattgefundenen) Leipziger Buchmesse erhalten. Wie schon sein Vorgänger ›Kruso‹, der 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, landete er bald auf Platz 1 der ›Spiegel‹-Bestsellerliste. Das ist definitiv erstaunlich und auf jeden Fall tröstlich, denn es bedeutet viel in diesen Zeiten. Da draußen in der Welt der Slogans, Internet-Sprechblasen und Ghetto-Slang-Sprachgewohnheiten sind offenbar viele – Hunderttausende – am Leben, die noch Dichtung schätzen.
Lessings ›Nathan der Weise‹ in Potsdam und Goethes ›Faust‹ in Altenschlirf
Der Regisseur und Bühnenbildner Ulrich Rasche hat einen Inszenierungsstil entwickelt, mit dem er Furore macht. Gerade wurde er zum zweiten Mal in Folge zum Berliner Theatertreffen eingeladen, wo alljährlich die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet werden. 2017 waren es Schillers ›Die Räuber‹ an den Münchner Kammerspielen, dieses Jahr seine Baseler Inszenierung von Georg Büchners ›Woyzeck‹.
Ein Festival für das Erdreich
Vielleicht ist die Auferstehung schon im Gange, ohne dass wir es merken. Wie soll man sich denn die Erlösung des Kreatürlichen konkret vorstellen? Wir haben magische Bilder aus Märchen, Mythen, Harry Potter ... Aber so wird’s nicht mehr gehen, mit Stab und Spruch ein Wesen so zu bezaubern, dass es seine Tierhaut abwirft und sich zeigt in veränderter Gestalt. So ging es ja auch nie in Wirklichkeit.
Auf dem Weg nach Kassel im ICE, die Unterhaltung zweier Studenten. Einer erzählt von einem elektronischen Zubehör, das Teil sei »megaklein« ... Mega heißt groß. Mag es auch ein Modewort für Jugendliche sein, die beiden Gesprächspartner sind weder 14 Jahre alt, noch scheinen sie aus dem sogenannten bildungsfernen Milieu zu stammen. Ich fühle mich erinnert an den Sprachgebrauch in Orwells Roman ›1984‹: doppelplusungut. Bekanntlich erzeugt der Totalitarismus Bewusstlosigkeit durch Sprachverwahrlosung.
Zur Ausstellung ›Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht‹ im Frankfurter Städel Museum
Sie gehört zu der sogenannten verschollenen Generation der Künstler aus der Zeit der Weimarer Republik: Lotte Laserstein, deren Werk das Frankfurter Städel Museum nun in einer umfassenden Einzelausstellung präsentiert. Es ist mehr als eine Wiederentdeckung, was die Frankfurter Schau ermöglicht – man könnte es eine künstlerische Rehabilitation nennen.
Zur Ausstellung ›Paul Klee. Konstruktion des Geheimnisses‹ in der Pinakothek der Moderne München
Erstmals widmet die Münchner Pinakothek der Moderne dem Werk Paul Klees eine große Sonderausstellung: ›Paul Klee. Konstruktion des Geheimnisses‹ präsentiert neben dem umfangreichen Eigenbestand rund 130 Leihgaben aus Europa, den USA und Japan. Das Gelände der Pinakotheken ist ungeheuer weitläufig, und es gibt keine Hinweisschilder. Platz und Gebäude auf der Suche nach dem richtigen Eingang ins Geheimnis zu umrunden, kann schon mal eine halbe Stunde dauern. So erging es jedenfalls mir und ein paar Besuchern aus Boston. Der Trost im Innern: Selbst am Wochenende stören keine Besuchermassen und damit ist Muße gegeben – oder, wie Paul Klee 1920 formulierte, Gelegenheit für »eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis«.
Zur Ausstellung ›Van Dyck‹ in der Alten Pinakothek in München
Er ist eine der schillerndsten Figuren im aktuellen Kunstbetrieb. Der »Erzkünstler«, wie er sich nennt, Jonathan Meese polarisiert das Publikum. Vor einiger Zeit gab es einen Bruch in seiner künstlerischen Laufbahn. Da reckte er in einer Podiumsveranstaltung des ›Spiegel‹ die Hand zum Hitlergruß. Für diese Geste, die als Kritik im Rahmen einer künstlerischen Aktion gemeint war, wurde er angeklagt und später freigesprochen. Künstlerische Freiheit, ausdrücklich bestätigt als Ergebnis eines Strafprozesses – das ist einerseits ganz im Sinne von Meeses Erzkunstverständnis, andererseits hat ihn dieses Missverständnis seiner Kunst schwer beleidigt. Ihm, auch im wörtlichen Sinne, Schaden zugefügt: Kündigung seiner Galerie, Rauswurf aus Bayreuth, wo er den ›Parsifal‹ gestalten sollte und wohl auch gerne wollte, denn er verehrt Richard Wagner über alles.
I Shakespeare – tiefergelegt; II Schlingensief – aufschrei(b)end
Ich schaue in den Himmel. Wolkenlos. Ein Flugzeug glitzert in der Sonne, schwebend zieht der Rotmilan seine Kreise. – Ich war eine Weile krank, aus dem Körper ausgeflogen, und bin noch nicht ganz wieder zurück, angekommen im leiblichen Selbstverständnis. Ist man gesund, dann stehen die Sinne offen, wie Türen, durch die man ein- und ausgeht. Jetzt muss ich sie selber öffnen. Die Plastizität des Sehens verlangt Krafteinsatz, der aus Erfahrung stammt. Im ersten Augenblick sah ich Milan und Flugzeug auf derselben Ebene, nebeneinander. In Wirklichkeit trennten den Vogel und das Fluggerät natürlich Tausende Höhenmeter – was ich dann einsah.