Artikel von Salvatore Lavecchia
Zu Wilburg Keller Roth: ›System und Methode der Heil-Eurythmie‹
»Es werden noch mancherlei Zeitepochen hinunterfließen müssen[ ... ], bis eine vollbewußte Vorstellung [ ... ] auflebt, wenn das Wort >Ich< oder [. .. ] >Selbst<a usgesprochen wird. Aber in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden, und zwar, wenn man vom rein mathematischen Formwissen zum Formfühlen übergeht, dann wird man stets empfinden bei dem völligen Kreis die Ichheit, die Selbstheit. Kreis fühlen würde heißen Selbstheit fühlen. Kreis fühlen in der Ebene, Kugel fühlen im Raum, ist Selbstheit fühlen, Ich fühlen. [ ... ] Wenn man den Kreis so anschaut, so sieht man, er ist ein ganz banaler Wicht [ ... ]; aber es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis. Er kann auch dadurch verstanden werden, daß man zwei Punkte nimmt und dividiert, und indem man überall dasselbe Resultat bekommt [ ... ], ergibt sich der Kreis. Der Kreis ist also etwas ganz Merkwürdiges: der gewöhnlichste Wicht [ ... ] und zugleich das Ergebnis einer okkulten Division, das sich der Mensch zum Bewußtsein bringt. Geradeso ist es bei dem menschlichen Selbst: das gewöhnliche Selbst [ ... ], und das höhere Selbst [ ... ], das in den Tiefen unserer Seele ruht und das erst gesucht werden muß dadurch, daß man aus ihm herausgeht und die Welt in Betracht zieht, mit der es in Beziehung steht.«
Im Gespräch mit einer Schrift von Marco Fumagalli
Eine scheu sonnenhafte Bescheidenheit charakterisiert gerade manche, häufig nicht umfangreiche Schriften, deren Autoren fähig sind, Fragen wirksam zu verdichten, die für die Zukunft der Menschheit entscheidend sind. Die gemeinten Autoren zeichnen sich durch eine rührende Unscheinbarkeit ihrer auktorialen Gebärde aus, in der offenbar wird: Die schreibende Person will nicht sich selbst auf irgendwelche Bühnen stellen, keine Originalität bekunden, sondern einfach, im Sinne eines geistigen Dienens, Beiträge vergangener Autoren wieder ins Bewusstsein bringen, die als Hebammen für dringende Antworten auf die drängendsten Fragen der Gegenwart wirken können. Diese Gebärde empfand ich augenblicklich bei der Lektüre von Marco Fumagallis Schrift, die mir während einer sommerlichen Tagung durch eine ebenso unscheinbare Schenkgebärde einer geschätzten Person über reicht wurde. Fumagalli tut nämlich durch die zwölf Kapitel seiner Schrift nichts anderes, als zeigen, wie Diether Lauensteins philosophisches Werk ›Das Ich und die Gesellschaft‹ (Stutt gart 1974) ein entscheidendes, auf Plotin und Johann Gottlieb Fichte gründendes1 Konzept zur Beantwortung der brennenden Frage nach der Zukunft des menschlichen Ich im Zeit alter der Künstlichen Intelligenz bieten kann.
Wo westliches und östliches Licht einander begegnen
Einmal erzählte mir ein Bekannter, der in Triest arbeitet, jedoch von Turin, seiner Heimatstadt, pendelt, er würde bei jeder Rückkehr den Eindruck empfinden, in Turin wäre der Himmel im Vergleich mit Triest dunkel, und alles gleichsam im Abendlicht umhüllt, gleichgültig wie hoch und klar die Sonne strahlen würde. Dies charakterisierte er überhaupt nicht im Sinne einer negativen Bewertung, sondern einfach als unbefangen beobachtetes Phänomen – Turins klares voralpines Licht ist übrigens zutiefst berührend, schön und aufrichtend.
Eine Betrachtung zum Impuls des Johannes-Markus
Am 20. Januar 1479 begibt sich der berühmte Diplomat Giovanni Emo nach Udine, um dort als Statthalter von Venedig zu wirken. Mit sich bringt er das Geschenk, das er von Sultan Mehmed II. dem Eroberer am Ende von nicht so glücklichen Friedenverhandlungen bekommen hat, die zwischen 1474/75 stattgefunden haben: Der legendenhaft gewordene Eroberer von Konstantinopel hat ihm eine Marien-Ikone geschenkt, die im Kaiserpalast von Konstantinopel aufbewahrt wurde und Mariens Gesichtszüge getreu darstellen soll. Zunächst bewahrt Giovanni Emo die Ikone bei sich im Schloß von Udine, dem Sitz des Statthalters, nach einem mit ihr verbundenen Wunder lässt er sie jedoch am 8. September 1479 - am Fest von Mariens Geburt - zur Kirche der Heiligen Gervasius und Protasius verlegen. Die intensive devotionale Bewegung, die sich um dieses Bild rasch entwickelt, führt dazu, eine größere Kirche zu bauen, und diese größere, Madonna delle Grazie (Maria der Gnaden) genannte Kirche bewahrt noch heute die Ikone aus Konstantinopel. Die hier betrachtete, vielleicht im 14. Jahrhundert gemalte Ikone ist nicht nur deshalb eine besondere, weil sie aus dem Kaiserpalast in Konstantinopel stammt. Eine viel wichtigere Besonderheit liegt darin, wie sie - als älteste und in dieser Form womöglich einzig erhaltene - die Maria darstellt. Das sonst verbreitete Motiv der Maria als stillende Mutter (griech. galak-totmphousa, latein. lactans), welches an das ägyptische Bild der den Horusknaben stillenden Isis ankniipft - wird hier nämlich dadurch vertieft, dass Maria in der linken Hand eine goldene Kose hält. Diese Kose in der Herzenshand hebt genau die Herzgegend Mariens hervor und wirkt gleichsam als Urbild der auf derselben Linie liegenden rechten Brust, an der das Kind trinkt, die eigene Herzenshand der Kose entgegenstreckend.