Artikel von Salvatore Lavecchia
Zum trinitarischen Wesen des Ich
Die erste explizite, bisher nie angemessen betrachtete Vertiefung des Verständnisses der Trinität durch Rudolf Steiner erfolgte schon in den ersten Jahren seiner Tätigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft. Bereits 1903 bis 1905 finden wir, sowohl in Niederschriften als auch in Aufzeichnungen aus Vorträgen und privaten Lehrstunden zahlreiche Hinweise und Erläuterungen zu der Trinität »Bewusstsein/Vater – Leben/Sohn – Form/Heiliger Geist«. Der Vater ist hier das aus dem Nichts schaffende, noch unmanifestierte, seiner selbst bewusste All(Welt)bewusstsein. Er ist, anders ausgedrückt, das Übersein, der schöpferische Ungrund,6 aus dem die Welt ohne Warum – weil ein Warum Zwang bedeuten würde –, durch eine freie Opfertat entsteht. Er ist »in sich ruhend, da und nicht da, über dem Sein, niemals wahrnehmbar [...], das absolut Verborgene, Okkulte [...], weil über alle Offenbarung erhaben«. Der Vater ist, in anderen Worten, der Offenbarer9 – gleichsam das absolute Selbst/Ich in jeder Offenbarung –, die »in sichselbst leuchtende Unendlichkeit« vor jeder »Differenzierung und Individualisierung«.
Zum Jubiläumsheft ›100 Jahre die Drei‹ 1/2021
Graue Aussichten mit Grünen Pässen
Ich musste schmunzeln, als ich am 22. Juli – also dem Tag, an dem Maria Magdalena gefeiert wird – erfuhr, dass der italienische Ministerrat, kurz nach der Regierung Frankreichs und fußend auf einer am 1. Juli in Kraft getretenen Regelung der EU-Kommission, zur Eindämmung von Covid-19 die Einführung des Green Pass (Grüner Pass) für den Zugang zu einigen Bereichen des öffentlichen Lebens beschlossen hatte. Und noch mehr musste ich schmunzeln, als ich hörte, diese Maßnahmen würden am 6. August, d.h. am Tag der Verklärung (Transfiguration) Jesu Christi, in Kraft treten. Ich fand es außerordentlich interessant, wie diese zwei Tage eine durchaus geniale symbolische Komposition bildeten: Maria Magdalena ist nämlich nach dem Johannes-Evangelium die erste Zeugin des Auferstandenen (Joh 20, 1-18) und somit der Vollendung jenes Weges, der mit der Verklärung begann (vgl. Mt 17,1-8; Mk 9,2-10 und Lk 9,28-36)4. Am Tabor durchdrang das Licht des schöpferischen Logos die irdische Leiblichkeit mit seiner unerschöpflichen Lebenskraft; so wird das Ereignis der Auferstehung möglich, von dem Maria Magdalena als Erste gezeugt hat.
Gegenwart als Drama der Wahrnehmung
Das vergangene Semester hat sich für meine Tätigkeit als universitärer Dozent in vielen Hinsichten auf gewohnten Bahnen abgespielt. Meine Universität – wie nicht wenige andere in Italien – hatte nämlich im Sommer uns Dozenten ermuntert, im Rahmen der hygienisch begründeten Einschränkungen (und freiwillig) Unterricht in Präsenz zu halten, damit mindestens die neu Immatrikulierten am Anfang ihrer Laufbahn eine menschlich echte Begegnung mit uns erleben könnten. So hatte ich die erfreuliche Möglichkeit, meinen ganzen Unterricht in Präsenzform zu halten, mit der Option der Streaming-Teilnahme für diejenigen, die zum Unterricht nicht kommen konnten oder wollten.
Eine anthroposophische Zumutung
Das gegenwärtige Alltagsleben ist so tief wie nie in der Geschichte von flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen geprägt. Diese Maßnahmen begleitet ein bemerkenswertes Phänomen: Viele Vertreter spiritueller Strömungen sind bemüht, ein Bild der von ihnen jeweils repräsentierten Strömung zu vermitteln, das so gut wie möglich mit jenen Maßnahmen konvergiert. Auf diese Weise entstehen groteske Inszenierungen, die ihresgleichen suchen: Geistliche Würdentr.ger, die Gotteshäuser schließen, Seelsorge verweigern, sich öffentlich impfen lassen oder ein totalitäres Gesundheitsregime befürworten, waren bis vor Kurzem kaum vorstellbar gewesen. Warum? Weil das Menschenbild, von dem ausgehend die flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen in Windeseile das gegenwärtige Alltagsleben umgekrempelt haben, die schrillsten Widersprüche zu jenem offenbart, das alle spirituellen Strömungen bisher als grundlegend voraussetzten. Dieses Menschenbild ist nämlich – wenn vorurteilslos und quellenbewusst wahrgenommen – mit einem »großen Umbruch« der Gesellschaft absolut unvereinbar, der sich zuvörderst an obsessiver Angst vor Krankheit und Tod orientiert.
Über zwei Versuche, Freiheit ernst zu nehmen
»Wenn Wesen denken und folglich Personen sind, dann können sie abwägen, was sie tun sollen. Dann gehen sie über biologische Bedürfnisse und Neigungen hinaus. Sie können überlegt handeln, statt einfach ihren biologischen Neigungen folgen zu müssen. Wenn sie anders handeln können, als sich lediglich von ihren biologischen Bedürfnissen und Neigungen bestimmen zu lassen, dann sind sie frei in ihrem Handeln.« Das obige Zitat von Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie in Lausanne und Mitglied der Leopoldina, stammt aus seinem Buch ›Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen‹, das die neueste monografische Verdichtung des akademischen Diskurses zu diesem Thema darstellt. Erschienen ist es 2019, also kurz bevor ein – durchaus ernst zu nehmendes, jedoch sich nicht als die schlimmste Seuche der Weltgeschichte erweisendes – Virus viele politischen Akteure dazu (ver-)führte, durch die enge Einbindung ausgewählter Teilnehmer des wissenschaftlichen Diskurses unsere Gesellschaften so umgestalten zu wollen, als ob die zitierte Formulierung uns menschliche Wesen nur kaum bis überhaupt nicht betreffen könnte. Esfeld ist inzwischen wegen seiner diesbezüglichen kritischen Stellungnahmen bekannt, die er in verschiedenen Medien formuliert hat. Umso anregender ist die Lektüre des genannten Buchs, da Esfeld hier eine souveräne Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrundes bietet, von dem ausgehend sich seine Kritik an den Corona-Schutzmaßnahmen als bewunderungswürdig konsequent erweist.