Artikel von Salvatore Lavecchia
Eine anthroposophische Zumutung
Das gegenwärtige Alltagsleben ist so tief wie nie in der Geschichte von flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen geprägt. Diese Maßnahmen begleitet ein bemerkenswertes Phänomen: Viele Vertreter spiritueller Strömungen sind bemüht, ein Bild der von ihnen jeweils repräsentierten Strömung zu vermitteln, das so gut wie möglich mit jenen Maßnahmen konvergiert. Auf diese Weise entstehen groteske Inszenierungen, die ihresgleichen suchen: Geistliche Würdentr.ger, die Gotteshäuser schließen, Seelsorge verweigern, sich öffentlich impfen lassen oder ein totalitäres Gesundheitsregime befürworten, waren bis vor Kurzem kaum vorstellbar gewesen. Warum? Weil das Menschenbild, von dem ausgehend die flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen in Windeseile das gegenwärtige Alltagsleben umgekrempelt haben, die schrillsten Widersprüche zu jenem offenbart, das alle spirituellen Strömungen bisher als grundlegend voraussetzten. Dieses Menschenbild ist nämlich – wenn vorurteilslos und quellenbewusst wahrgenommen – mit einem »großen Umbruch« der Gesellschaft absolut unvereinbar, der sich zuvörderst an obsessiver Angst vor Krankheit und Tod orientiert.
Wenn »Entkolonialisierung« in die Logik des Nationalismus mündet
An einem wundersam warmen und klaren Septemberabend habe ich während eines Straßenmusikfestivals den Dreadlocks tragenden Tiroler Musiker Mario Parizek mit entspannter Freude bei einer seiner Aufführungen wahrgenommen. Wie es sich häufig ergibt, wurde ich neugierig, und somit habe ich, wieder nach Hause zurückgekehrt – ich gehöre zu den Retros, die nicht smartphonisiert leben, und dabei sogar außerordentlich zufrieden sind –, in voller Heiterkeit an meinem Schreibtisch nach Mario gegoogelt. Nie hätte ich den Verdacht hegen können, dass ein Auftritt von ihm, ungefähr ein Jahr davor, aufgrund der von ihm, einem weißen Musiker, getragenen Dreadlocks abgesagt worden war, nach Angaben des aufführenden Lokals mit einer finanziellen Entschädigung, da einige auch zum Team des Lokals zugehörigen Personen sich bei einem solchen Auftritt nicht wohl gefühlt hätten. Dabei trägt der Musiker – so seine Erklärung in einem Video – Dreadlocks, seitdem er 13 Jahre alt ist, und dies als Reaktion auf die »rechte« Atmosphäre in dem Tiroler Dorf, in dem er aufwuchs. In anderen Worten, den Kommentar des enttäuschten Musikers zusammenfassend: Von einem »linken« Lokal wird sein Auftritt wegen etwas abgesagt, das eigentlich von einer aufrichtig »linken« Gebärde gegen eine »rechte« Umgebung getragen wurde und weiterhin wird.
Über zwei Versuche, Freiheit ernst zu nehmen
»Wenn Wesen denken und folglich Personen sind, dann können sie abwägen, was sie tun sollen. Dann gehen sie über biologische Bedürfnisse und Neigungen hinaus. Sie können überlegt handeln, statt einfach ihren biologischen Neigungen folgen zu müssen. Wenn sie anders handeln können, als sich lediglich von ihren biologischen Bedürfnissen und Neigungen bestimmen zu lassen, dann sind sie frei in ihrem Handeln.« Das obige Zitat von Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie in Lausanne und Mitglied der Leopoldina, stammt aus seinem Buch ›Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen‹, das die neueste monografische Verdichtung des akademischen Diskurses zu diesem Thema darstellt. Erschienen ist es 2019, also kurz bevor ein – durchaus ernst zu nehmendes, jedoch sich nicht als die schlimmste Seuche der Weltgeschichte erweisendes – Virus viele politischen Akteure dazu (ver-)führte, durch die enge Einbindung ausgewählter Teilnehmer des wissenschaftlichen Diskurses unsere Gesellschaften so umgestalten zu wollen, als ob die zitierte Formulierung uns menschliche Wesen nur kaum bis überhaupt nicht betreffen könnte. Esfeld ist inzwischen wegen seiner diesbezüglichen kritischen Stellungnahmen bekannt, die er in verschiedenen Medien formuliert hat. Umso anregender ist die Lektüre des genannten Buchs, da Esfeld hier eine souveräne Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrundes bietet, von dem ausgehend sich seine Kritik an den Corona-Schutzmaßnahmen als bewunderungswürdig konsequent erweist.