Artikel von Salvatore Lavecchia
Im Gespräch mit einer Schrift von Marco Fumagalli
Eine scheu sonnenhafte Bescheidenheit charakterisiert gerade manche, häufig nicht umfangreiche Schriften, deren Autoren fähig sind, Fragen wirksam zu verdichten, die für die... [mehr] Zukunft der Menschheit entscheidend sind. Die gemeinten Autoren zeichnen sich durch eine rührende Unscheinbarkeit ihrer auktorialen Gebärde aus, in der offenbar wird: Die schreibende Person will nicht sich selbst auf irgendwelche Bühnen stellen, keine Originalität bekunden, sondern einfach, im Sinne eines geistigen Dienens, Beiträge vergangener Autoren wieder ins Bewusstsein bringen, die als Hebammen für dringende Antworten auf die drängendsten Fragen der Gegenwart wirken können. Diese Gebärde empfand ich augenblicklich bei der Lektüre von Marco Fumagallis Schrift, die mir während einer sommerlichen Tagung durch eine ebenso unscheinbare Schenkgebärde einer geschätzten Person über reicht wurde. Fumagalli tut nämlich durch die zwölf Kapitel seiner Schrift nichts anderes, als zeigen, wie Diether Lauensteins philosophisches Werk ›Das Ich und die Gesellschaft‹ (Stutt gart 1974) ein entscheidendes, auf Plotin und Johann Gottlieb Fichte gründendes1 Konzept zur Beantwortung der brennenden Frage nach der Zukunft des menschlichen Ich im Zeit alter der Künstlichen Intelligenz bieten kann. [weniger]
Ich und Europa I
Ein großes Geschenk hat mir das Schicksal senden wollen: Schon als Jugendlicher und Student hatte ich die Möglichkeit, im ganzen Europa zu reisen. Ich war ein leidenschaftlicher... [mehr] Interrailer, allein wie in Gemeinschaft, und noch heute bereise ich am liebsten Europa, obwohl ich schon als Kind aussereuropäische Abstecher erleben durfte. Denn eines begeistert mich immer wieder, in der russischen wie in der portugiesischen, in der norwegischen wie in der süditalienischen Provinz, vom abgelegenen, dorfähnlichen Bauernhof in der goldenen Abendsonne des norwegischen Sommers bis zum stolzen, winzigen Städtchen im kargen Innenland Siziliens oder am leuchtend grünen Ufer der Elbe, vom versteckten Abteidorf in Portugal bis zu den strahlenden Kremls der russischen Ebene: die Begegnung mit unendlich vielen kleineren Orten, die so gebaut sind, als ob sie für das wahrnehmende Ich eine geistige Mitte der Welt bilden moÅNchten. Nicht ein weltenloses Zentrum, das einschüchtert, scheinen sie bilden zu wollen, sondern eben eine Mitte, wo ich – tätig-ruhig – gleichsam in einem tiefen Gespräch meinem eigenen Ich wie einem Gesicht begegnen kann, das sich ohne das mich ansprechende Antlitz dieser Orte nicht hätte offenbaren können. [weniger]
Ich und Europa X
Wachsamkeit west als Gegenwart des Ich. In dieser Gegenwart knospet das Ich in jedem Augenblick als Freiheit von sich selbst und von anderem, jenseits von innen und außen:... [mehr] generative Leere eines bewussten Wollens, das in der empfindsamen Begegnung mit jedem Augenblick, Ereignis oder Wesen zu einer konkreten Form der Freiheit blühen kann; empfindsame, wache und freie Begegnung, die – durch ein denkendes Tätigsein entstehend – den uneingeschränkt dialogischen Charakter der authentischen Natur des Denkens offenbart. Die Bildung und Pflege dieses wachsamen, warmen Wollens, dieses dialogischen, lichtvollen Denkens, d.h. eine Kultur der denkenden Wachsamkeit im Ich, will ich als eigenen Klang von Europas Schicksal wahrnehmen. [weniger]