Artikel von Salvatore Lavecchia
100 Jahre nach den ›Jungmedizinerkursen‹
»Es sollte gar nicht möglich sein zu sagen: Ich habe angestrebt das Wissen vom Heilen, aber nicht den Willen zum Heilen. – Denn ein Wissen, das also real ist, kann sich gar nicht vom Willen trennen, das ist ganz unmöglich«. So Rudolf Steiner 1924 im Osterkurs für Jungmediziner.Wie viele andere entscheidenden Motive der ›Jungmedizinerkurse‹ – von denen dieses Jahr sich der hundertjährige Geburtstag ereignet – darf auch dieser entschlossene Hinweis auf die lebendige Einheit von Wissen/Erkenntnis und Wollen, das mit der begegnenden Situation bzw. Individualität stimmig zusammenklingt, nicht als etwas wahrgenommen werden, das speziell, um nicht zu sagen mehr oder weniger exklusiv die Ärzte beträfe. Dieser Wahrnehmung würde in der Tat nicht nur der allgemeine Ton der zitierten Formulierung, sondern auch der Kontext widersprechen, in den sie eingefügt ist. Sie schließt nämlich eine allgemeine Betrachtung ab, in der Rudolf Steiner einerseits eine stimmige Menschenerkenntnis als unentbehrliche Grundlage für alle Gebiete der Erkenntnis/Wissenschaft und Handlung bezeichnet, damit in die Wirklichkeit der Welt eingegriffen und somit eine fruchtbare Einheit von Erkenntnis und Willen erzeugt werden kann; andererseits diese lebendige Einheit mit dem Mysterienwissen verbindet: »Es soll das Gefühl, das man gegenüber der Erkenntnis hat, überall, auf allen Gebieten des Lebens, zur Realität hin drängen, nicht zu formalem Auffassen. So war es ja, als das Wissen überall ein Mysterienwissen war. Da mußte man denjenigen, die bloß erkennen wollten, das Wissen vorenthalten, und gab es nur denen, die den Willen hatten dieses Wissen in Realität überzuführen.«
Immanuel Kants kategorischer Imperativ und Rudolf Steiners Grundmaxime. Ein Vergleich
Immanuel Kants und Rudolf Steiners Ethiken offenbaren einem tieferen Blick – wie im Oktoberheft kenntnis- und lehrreich gezeigt wurde– viel mehr Affinitäten, als eine nur oberflächliche Wahrnehmung empfinden könnte. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie der kategorische Imperativ Kants und Steiners Grundmaxime des freien Menschen trotz der soeben angedeuteten Affinitäten doch einen wesentlichen Unterschied in der Gebärde, die der Wahrnehmung des ethischen Handelns zugrunde liegt, manifestieren.
Die inkarnatorische Gebärde im Rig-Veda und ihre Begegnung mit der Anthroposophie
Indische Spiritualität verbindet sich in der Wahrnehmung der westlichen Welt oft mit dem Vorurteil, sie sei von ihren Ursprüngen her auf Erdflucht hin orientiert gewesen. Diese Vorstellung ist auch in anthroposophischen Diskursen verbreitet und erschwert von vorne herein die Begegnung mit dieser Strömung. Im Folgenden möchte ich diese Vorstellung, zumindest was die ältesten Quellen betrifft, entkräften und so in ein Gespräch mit der indischen Spiritualität eintreten. Zu diesem Zweck richte ich die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung vom Wesen des Denkens, die im Rig-Veda vorausgesetzt wird.2 Gerade diese Wahrnehmung kann einen Zusammenklang mit dem spirituellen Horizont offenbaren, auf den Anthroposophie hinweisen möchte.
Klänge eines totalitären Rechtslebens
In zwei anregenden Beträgen hat Matthias Fechner, auf Deutschland konzentriert, ungeschminkt die - oft als zu heikel betrachtete - Frage nach den Gründen erörtert, warum die meisten Hochschulen als Institutionen in den Corona-Jahren unfähig gewesen sind, eine umfangrache kritische Diskussion der weltgeschichtlich erstmaligen, sei es menschlich, sei es wissenschaftlich, sei es rechtlich, sei es wirtschaftlich tief problematischen Corona-Politik zu fördern. Denn es gab natürlich einzelne, mancherorts sogar nicht ganz wenige Akademiker, die eine solche Diskussion anregen wollten. Ihre Versuche wurden jedoch von den jeweiligen Institutionen im besten Fall ignoriert, allzu oft aber zensiert, boykottiert und diffamiert.
Graue Aussichten mit Grünen Pässen
Ich musste schmunzeln, als ich am 22. Juli – also dem Tag, an dem Maria Magdalena gefeiert wird – erfuhr, dass der italienische Ministerrat, kurz nach der Regierung Frankreichs und fußend auf einer am 1. Juli in Kraft getretenen Regelung der EU-Kommission, zur Eindämmung von Covid-19 die Einführung des Green Pass (Grüner Pass) für den Zugang zu einigen Bereichen des öffentlichen Lebens beschlossen hatte. Und noch mehr musste ich schmunzeln, als ich hörte, diese Maßnahmen würden am 6. August, d.h. am Tag der Verklärung (Transfiguration) Jesu Christi, in Kraft treten. Ich fand es außerordentlich interessant, wie diese zwei Tage eine durchaus geniale symbolische Komposition bildeten: Maria Magdalena ist nämlich nach dem Johannes-Evangelium die erste Zeugin des Auferstandenen (Joh 20, 1-18) und somit der Vollendung jenes Weges, der mit der Verklärung begann (vgl. Mt 17,1-8; Mk 9,2-10 und Lk 9,28-36)4. Am Tabor durchdrang das Licht des schöpferischen Logos die irdische Leiblichkeit mit seiner unerschöpflichen Lebenskraft; so wird das Ereignis der Auferstehung möglich, von dem Maria Magdalena als Erste gezeugt hat.
Gegenwart als Drama der Wahrnehmung
Das vergangene Semester hat sich für meine Tätigkeit als universitärer Dozent in vielen Hinsichten auf gewohnten Bahnen abgespielt. Meine Universität – wie nicht wenige andere in Italien – hatte nämlich im Sommer uns Dozenten ermuntert, im Rahmen der hygienisch begründeten Einschränkungen (und freiwillig) Unterricht in Präsenz zu halten, damit mindestens die neu Immatrikulierten am Anfang ihrer Laufbahn eine menschlich echte Begegnung mit uns erleben könnten. So hatte ich die erfreuliche Möglichkeit, meinen ganzen Unterricht in Präsenzform zu halten, mit der Option der Streaming-Teilnahme für diejenigen, die zum Unterricht nicht kommen konnten oder wollten.
Anfang einer Ästhesiosophie
Der aus dem Griechischen übersetzte Anfang des Johannesevangeliums ist bekannt: »Am Anfang war das Wort (lógos), und das Wort war bei Gott.« (Joh 1,1). Bei aller Stimmigkeit verbirgt diese mittlerweile gängige Übertragung - wie übrigens alle Übertragungen ins Lateinische oder in eine moderne Sprache - die fruchtbare Vielfalt des griechischen Begriffs lógos. Ohne Bewusstsein dieser Vielfalt ist es jedoch nicht möglich, den unerschöpflichen Reichtum der johanneischen Spiritualität wahrzunehmen. Zu diesem Bewusstsein möchten die folgenden Ausführungen einladen, dabei manche fruchtbare Anregungen zu einem zukunftsträchtigen Menschenbild hervorhebend, die das Johannes-Evangelium uns schenkt.Im geistigen Horizont des Johannes bezeichnet der griechische Begriff lógos nicht nur das schöpferische Wort, das von der göttlichen Intelligenz (ebenso lógos) des Vaters geboren wird, sondern auch das harmonische Verhältnis, das zwischen dem Vater und dem Sohn/Wort am Anfang allen Seins schöpferisch wirkt, und durch das alle Formen des Seins entstehen (Joh 1,3 und 10). Denn in der Tat ist eine Grundbedeutung von lógos eben Verhältnis, Relation, Proportion, auch in musikalisch-mathematischem Sinne, d.h. als stimmiges Verhältnis wahrgenommen. Demzufolge kann der Anfang des Johannesevangeliums ebenso übertragen werden als: »Am Anfang war das (stimmige, harmonische) Verhältnis, und dieses Verhältnis war zum Gott hin gewendet.«
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