100 Jahre nach den ›Jungmedizinerkursen‹
»Es sollte gar nicht möglich sein zu sagen: Ich habe angestrebt das Wissen vom Heilen, aber nicht den Willen zum Heilen. – Denn ein Wissen, das also real ist, kann sich gar nicht vom Willen trennen, das ist ganz unmöglich«. So Rudolf Steiner 1924 im Osterkurs für Jungmediziner.Wie viele andere entscheidenden Motive der ›Jungmedizinerkurse‹ – von denen dieses Jahr sich der hundertjährige Geburtstag ereignet – darf auch dieser entschlossene Hinweis auf die lebendige Einheit von Wissen/Erkenntnis und Wollen, das mit der begegnenden Situation bzw. Individualität stimmig zusammenklingt, nicht als etwas wahrgenommen werden, das speziell, um nicht zu sagen mehr oder weniger exklusiv die Ärzte beträfe. Dieser Wahrnehmung würde in der Tat nicht nur der allgemeine Ton der zitierten Formulierung, sondern auch der Kontext widersprechen, in den sie eingefügt ist. Sie schließt nämlich eine allgemeine Betrachtung ab, in der Rudolf Steiner einerseits eine stimmige Menschenerkenntnis als unentbehrliche Grundlage für alle Gebiete der Erkenntnis/Wissenschaft und Handlung bezeichnet, damit in die Wirklichkeit der Welt eingegriffen und somit eine fruchtbare Einheit von Erkenntnis und Willen erzeugt werden kann; andererseits diese lebendige Einheit mit dem Mysterienwissen verbindet: »Es soll das Gefühl, das man gegenüber der Erkenntnis hat, überall, auf allen Gebieten des Lebens, zur Realität hin drängen, nicht zu formalem Auffassen. So war es ja, als das Wissen überall ein Mysterienwissen war. Da mußte man denjenigen, die bloß erkennen wollten, das Wissen vorenthalten, und gab es nur denen, die den Willen hatten dieses Wissen in Realität überzuführen.«
Aspekte ihres Wesens und ihrer heutigen Bedeutung
»In der alten Atlantis waren die meisten Menschen instinktiv hellseherisch, sie konnten hineinsehen in die Gebiete des Geistigen. Diese Hellsichtigkeit konnte sich nicht fortentwickeln, sie musste sich zurückziehen zu einzelnen Persönlichkeiten des Westens. Sie wurde da geleitet von einem Wesen, das in tiefer Verborgenheit lebte einstweilen, zurückgezogen selbst hinter denen, die auch schon zurückgezogen und Schüler waren eines großen Eingeweihten, [eines Wesens] das sozusagen zurückgeblieben war, bewahrend dasjenige, was aus der alten Atlantis herübergebracht werden konnte, bewahrend es für spätere Zeiten. Diesen hohen Initiierten, diesen Bewahrer der uralten atlantischen Weisheit, die tief hineinging sogar in alles dasjenige, was die Geheimnisse des Physischen Leibes sind, kann man Skythianos nennen, wie es im frühen Mittelalter üblich war. Und es blickt derjenige, der das europäische Mysterienwesen kennt, zu einem der höchsten Eingeweihten der Erde hinauf, wenn der Name Skythianos genannt wird.« – Rudolf Steiner
Der in dem obenstehenden Zitat aufgezeigte Zusammenhang um den Eingeweihten Skythianos bildet einen wichtigen Hintergrund für die Beschäftigung mit den hybernischen Mysterien. Einigen Grundmotiven dieser Mysterien bin ich bereits an anderer Stelle nachgegangen. So erschien zum 200. Geburtsjahr Herman Melvilles 2019 in dieser Zeitschrift ein Artikel, der die moderne Fortschreibung eines Motivs der westlichen, der hybernischen Mysterien beinhaltete: das Rätsel des mephistophelischen Doppelgängers, der in Melvilles ›Moby Dick‹ das Ich der Hauptperson Käpt’n Ahab überwuchert. Es ist dies ein Thema, das Rudolf Steiner zufolge für die Zukunft im Sozialen immer wichtiger zu beachten sein wird und das Melville wie prophetisch für die Entwicklung der damals frisch geborenen amerikanischen Kultur in monumentaler Weise vor uns hinstellt.
Ein Beitrag zum Stellenwert übersinnlicher Erkenntnis im Werk Rudolf Steiners
Anders als es die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Anthroposophie und auch die Rede von »Rudolf Steiner als Erzähler« erscheinen lässt, beansprucht das geisteswissenschaftliche Erkennen Rudolf Steiners weder, das Abbild einer vom Menschen irgendwie getrennt existierenden geistigen Welt darzustellen, noch von einer solchen Welt nur zu »erzählen«. Vielmehr geht es Rudolf Steiner um etwas ganz anderes, nämlich mit seiner Art des Erkennens nicht nur den Erkennenden, sondern auch das Erkannte zu verwandeln. Der nachfolgende Beitrag behandelt die übersinnliche Erkenntnis daher als eine neue Form der Liebe: Liebe als Erkenntniskraft.
Das Alltagsbewusstsein steht als Erkenntnisorgan im Zeichen der Vergangenheit, des Toten – wird sich immer nur des Ergebnisses des schon verlaufenen Erkenntnisprozesses bewusst – und steht als moralische Instanz im Zeichen der Egoität, des Nehmens, des Besiegens, weil wir glauben, unsere Persönlichkeit durch Besitz erweitern zu müssen. Der Mensch müsste an sich arbeiten, um einerseits im Erkennen in die zeitlose, lebendige Gegenwart (die erste Stufe der höheren Erkenntnis) einzudringen, und um andererseits in die Attitüde des Gebens, des Verzichtens zugunsten der Anderen und der Zukunft zu wechseln. Der Mensch müsste zum Sieger werden, ohne andere besiegen zu müssen. Er müsste sich selbst, sein egoistisches Wesen besiegen. Er müsste statt zur Gewalt zur Sanftmut finden.
Klänge eines totalitären Rechtslebens
In zwei anregenden Beträgen hat Matthias Fechner, auf Deutschland konzentriert, ungeschminkt die - oft als zu heikel betrachtete - Frage nach den Gründen erörtert, warum die meisten Hochschulen als Institutionen in den Corona-Jahren unfähig gewesen sind, eine umfangrache kritische Diskussion der weltgeschichtlich erstmaligen, sei es menschlich, sei es wissenschaftlich, sei es rechtlich, sei es wirtschaftlich tief problematischen Corona-Politik zu fördern. Denn es gab natürlich einzelne, mancherorts sogar nicht ganz wenige Akademiker, die eine solche Diskussion anregen wollten. Ihre Versuche wurden jedoch von den jeweiligen Institutionen im besten Fall ignoriert, allzu oft aber zensiert, boykottiert und diffamiert.
Ein Rückblick auf eine fortdauernde Krise
Die Coranapandemie hat eine extreme Spaltung in der Gesellschaft erzeugt. Von Seiten politischer und wissenschaftlicher Autoritäten wurden immer wieder Behauptungen aufgestellt, die ein kritisch-rationales Denken hinterfragen musste und sich im Nachhinein auch als falsch erwiesen haben. Doch ein großer Teil der Gesellschaft war nicht bereit, ein solches Hinterfragen zu leisten. Stattdessen wurden selbst ausgewiesene Sachverständige diffamiert und ausgegrenzt, wenn sie sich gegen die staatlich verordnete Auffassung stellten.Thomas Külken untersucht dieses Phänomen und zeigt auf, dass es sich hier um mehr als nur um eine probate Taktik der massenpsycholpgischen Beeinflussung handelt Der vorangehende Artikel hat schon darauf hingedeutet, dass Rudolf Steiner 1920 eindringlich vor dem Einsatz solcher Mittel warnte.
Zur Bedeutung des organisierten Lügens in der Coronakrise
Dieser Artikel vergleicht Aussagen Hannah Arendts über die Bedeutung der Lüge in der Politik mit einer ähnlichen Aussage Rudolf Steiners, auf der die Grundthese des Folgeartikels beruht. Die Tatsachen, die dort beleuchtet werden, sind so erschreckend, dass es der Redaktion sinnvoll erschien, sie in einen Kontext zu stellen, der auch von anderen herausragenden Persönlichkeiten des Geisteslebens beleuchtet wurde. Die Bedeutung der anthroposophischen Geisteswissenschaft liegt darin, dass sie den Menschen einen Weg zeigt, auf dem sie erkennen lernen können, wie sie in ihrem Denken und Handeln immer mit geistigen Wesenheiten verbunden sind. Die Fähigkeit auszubilden, diese Wesenheiten zu erkennen, wird maßgeblich darüber bestimmen, wie harmonsich oder chaotisch sich das soziale Leben in Zukunft gestalten wird. Die Scheu vor einem solchen Erwachen für den Geist ist dabei nicht zu unterschätzen.
Eine Replik auf Bijan Kafi: ›Diesseits des Politischen‹ in DIE DREI 2/2023
Beginnen wir mit einem Blick in die Wirklichkeit. In Hamburg, wo ich lebe und arbeite, haben 51,8 % der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Vielfach leben sie in hybriden und damit in meist von der Dominanzgesellschaft nicht als Norm akzeptierten Kulturen. Dies führt schnell dazu, dass sie mit Blick auf ihre Ethnie, Identität und äußere wie innere Zuschreibungen weder in der einen noch in der anderen Kultur als vollwertig anerkannt werden oder sich zugehörig fühlen können. Das hat auf der einen Seite Benachteiligung, vielfach auch Diskriminierung zur Folge – nicht nur bei Polizeirazzien oder bei der Job- und Wohnungssuche, sondern auch innerhalb ihrer vermeintlich oder ursprünglich eigenen Kultur. In der zweiten und dritten Generation führt eine solche Situation oft zu einer Form der Entheimatung, wenn sich das Hybride verfestigt und Teil der eigenen Identität wird – in dem Wissen, in den Augen der .Mehrheits-. oder Dominanzkultur nicht dazuzugehören.
Erklärungsansätze für die Stille der Hochschulen in den Corona-Jahren – Teil II
Auch ein Blick auf die breiteren Schichten der Wissenschaftspyramide hilft zu verstehen, warum Universitäten und Hochschulen keinen eigenständigen und mutigen Umgang mit der Corona-Krise fanden. Nicht unterschätzt werden sollte dabei, dass dort 82% der Arbeitsverhältnisse befristet sind. Der Andrang auf die Stellen der wissenschaftlichen Hilfskräfte, der Projektmitarbeiter, der Lehrkräfte für besondere Aufgaben und Dozenten ist folglich nicht immer groß, zumal ein gutes Drittel lediglich eine Entlohnung in Teilzeit vorsieht. Warum also nehmen junge Menschen ein Studium auf, machen damit den ersten Schritt in die Wissenschaft? Laut ›Statista‹ locken sie vor allem fachliches Interesse (59%) und Karrierechancen (43%) an die Universität. Doch man darf annehmen, dass viele junge Menschen auch mit dem Bewusstsein studieren, im Studium, damit in der Wissenschaft, auf der Seite der Vernunft, des Fortschritts, der aufgeklärten Zukunft zu stehen. Die Immatrikulation, später eventuell das Arbeitsverhältnis an der Universität oder Hochschule kommt damit einer Selbstermächtigung gleich: Jetzt kann man etwas gegen den Klimawandel, gegen gesellschaftliche Ungleichheit oder gegen tödliche Infektionskrankheiten tun, unter Anleitung von Expert*innen, die man vielleicht schon aus den Medien kennt. Bereits Studierende bewegen sich dabei in einer Hierarchie, die mit dem Versprechen glänzt, man könne später einmal selbst als Professor*in die Welt erklärend verändern. Gleichzeitig suggerieren die Medien, dass andere Wege dieses Ziel zu erreichen, verwahrlost seien. «Listen to the Scientists!« – Der Mahnruf der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg führt dagegen auf einen klaren Weg mit umfassendem Programm, zur Rettung der Welt.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil II
Georg Büchner war Revolutionär, Naturwissenschaftler und Dichter. Sein öffentliches Wirken dauerte drei Jahre. Der zwanzigjährige frischverlobte Medizinstudent stellt 1834 mit der revolutionären Flugschrift ›Der hessische Landbote‹ der damaligen Gesellschaft die Diagnose und will gleich zur Notoperation schreiten, wird aber umgehend von den Autoritäten aus dem politischen Operationssaal verjagt. Er lässt allerdings ohne Bedauern »die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche« hinter sich.
Der Entwurf des zweiten Goetheanums gehört zu den Herausforderungen, die Rudolf Steiners unerwarteter Tod hinterlassen hat. Dabei ist das Verdienst, dass es den Mitarbeitern des damaligen Baubüros gelang, den Bau zu errichten, kaum hoch genug einzuschätzen. Nicht nur sein Schöpfer war verstorben, sondern es handelte sich auch um eine herausragende Pionierleistung, da noch nie ein Betonbau von solcher Größe und erst recht nicht mit solch lebendigen, bis heute unerreichten Formen errichtet worden war. Unbeeindruckt von allen Zerwürfnissen, die auf Steiners Tod folgten, kündet er von dem Geist, der die anthroposophische Bewegung eint. Damit ist der Bau aber noch nicht verstanden. Was beinhaltet seine Formensprache, die sich von der des ersten Baus so gründlich unterscheidet? Gibt es eine Gemeinsamkeit?
Rudolf Steiners Ringen um ein »richtiges Anschauen des Anthroposophischen«
Können wir das Weltgeschehen beeinflussen, oder sind wir zum tatenlosen Zuschauen verdammt? Die Antwort Rudolf Steiners darauf ist ebenso radikal wie den gängigen Vorstellungen zuwiderlaufend: Der Einfluss, den wir nehmen können, ist kein politisch-sozialer oder ökonomischer, wie man heute meistens glaubt, sondern unser Einfluss liegt in unserem Denken. Nicht aber in dem, was wir denken, sondern in dem, wie wir es tun: Die zusammen mit unserer Geburt in die Erde hineingestorbenen Gedanken müssen dieser als ein Lebendiges wieder entrungen werden. – Angesichts des Erdengrabes, in das das Goetheanum in der Silvesternacht 1922/23 hineingesunken war, rang RudolfSteiner darum, dass dieses Alles-Entscheidende verstanden werde. Der vorliegende Artikel gilt der Darstellung dieses Ringens, dessen Notwendigkeit bis heute ungebrochen fortbesteht.
Erklärungsansätze für die Stille der Hochschulen in den Corona-Jahren – Teil I
Kurz nach Ende des Wintersemesters 2021 lief ich über den leeren Campus einer westdeutschen Universität. Eilte im kalten Wind über einen offenen Platz, der wohl einmal als Agora angelegt worden war, ein weiträumiger Treffpunkt im Freien. Anfang der Siebziger Jahre, als die Reformen der Bundesregierung unter Willy Brandt es begabten jungen Menschen aus allen Schichten ermöglichen sollten, ein Studium aufzunehmen. »Mehr Demokratie wagen« – das war der Slogan damals.
Der Staat als Gefährder des individuellen Selbstbestimmungsrechtes des Menschen
Jeder Krieg führt zu eklatanten Verletzungen der Menschenrechte. Der vorliegende Artikel zeigt anhand der gegenwärtigen Konfliktsituation, dass der Staat seinem Wesen nach nicht in der Lage ist, die Menschenrechte wirksam zu schützen, sondern dass es darauf ankommt, diese gegenüber dem Staat behaupten zu können. Dazu bedarf es einer Kraft, die nur in einem vom Staat unabhängigen Gebiet aufgefunden werden kann. Gelingt es, dieses Gebiet neu zu erschließen, so können auch die moralischen Kräfte aufgefunden werden, die es ermöglichen, Konflikte der Völker wirksam zu befrieden.
Warum der ideologische Antirassismus mit Waldorfpädagogik unvereinbar ist
Wer am Ende des 20. Jahrhunderts meinte, ethnische und kulturelle Konfliktlinien gehörten zumindest der Tendenz nach der Vergangenheit an, wird seit rund 10 Jahren eines Besseren belehrt. Hautfarbe, Kultur, Abstammung erfreuen sich als Un-terscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale wachsender Beliebthat. Das ist nicht zynisch gemeint, denn Haltungen, die sich an ihnen orientieren, werden öffentlich weithin positiv bewertet. In der Tat pocht mancher darauf, dass erst ihre gezielte Berücksichtigung durch soziale Steuerung umfassende gesellschaftliche Gerechtigkeit ermöglicht. Dieser Trend hat jetzt auch die Waldorfpädagogik erreicht. In ihrer Ausgabe vom November 2022 skizziert die ›Erziehungskunst‹, Leitmedium des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, ein Programm zur Bekämpfung einer »Bedrohung von rechts« und von Diskriminierung an Waldorfschulen, welches sie in mehreren Beiträgen entfaltet. Im Mittelpunkt steht die Forderung, »Antirassismus« solle Kembestandteil einer zukünftigen »Waldorfkultur« werden.
Neuere Studien zur ›Philosophie der Freiheit‹ Rudolf Steiners – und das Erwachen aus einer kulturoptimistischen Illusion
Dank ›YouTube‹ ist ein Filmdokument einer im Jahr 1970 stattfindenden Debattierveranstaltung zum Thema Kunst und Gesellschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Das Podium ist mit Arnold Gehlen, dem konservativen Philosophen, und Joseph Beuys, dem Aktionskünstler und Denker der »Sozialen Plastik«, prominent besetzt. Beuys versucht den Zuhörern sein von der Anthroposophie inspiriertes Verständnis gesellschaftlicher Prozesse näherzubringen. Was auffällt: Wohl aufgrund der Schwierigkeit, dem Publikum einige seiner Einsichten nachvollziehbar zu machen, und der Befürchtung, die Zuhörerschaft mit einer allzu fremdartigen Weltsicht zu verprellen, flüchtet der Referent in das Wortaroma einzelner Begriffe, ohne diese näher zu charakterisieren. Verbale Provokationen und der für ihn typische Duktus charismatischer Selbstinszenierung kompensieren, was im Verkehr mit dem Auditorium nicht so recht gelingen mag. Beuys’ verzweifelter Zwischenruf »Wir brauchen eine neue Menschenkunde!« dürfte sich in den Ohren der meisten Teilnehmer, die dabei sicher nicht an Rudolf Steiners Werke zur Pädagogik, zu den Wesensgliedern oder zur Sinneslehre dachten, wie Wortgeklingel ausgenommen haben. Jedenfalls wirft Arnold Gehlen, selbst im Gebrauch präziser Begrifflichkeiten geschult und als Verfasser von Schriften zur .Philosophischen Anthropologie. mit den Menschenkunden eines Helmut Plessner oder Max Scheler bestens vertraut, nicht ganz zu Unrecht ein, dass das, was sein Kontrahent vorbringe, über das Niveau von Phrasen nicht viel hinauskomme.
als Wegbereiter freier geistiger Gemeinschaftsbildung
Als Wilhelm von Humboldt mit Goethe und Schiller in Beziehung trat, da hatte seine spätere Ehefrau Caroline von Dacheröden bereits mit beiden Bekanntschaft gemacht. Durch ihre Freundschaft mit Schillers späterer Ehefrau Caroline von Lengefeld war sie in deren Elternhaus bereits beiden Dichtem begegnet. Nach der Heirat wurde Humboldt in den Freundschaftskreis aufgenommen. So eröffnete ihm dies Schicksalsgefüge die Möglichkeit der Entfaltung des ihm ureigenen Vermögens: Vermittler zwischen den »Geistesantipoden«, Goethe und Schiller zu werden und damit die große Kulmination der »Weimarer Klassik« zu befördern. »Er - und kein anderer in diesem Grade -«, schreibt Humboldts erster Biograf Gustav Schlesier, »genoss die Freundschaft Schiller’s und Goethe’s zugleich; er nahm an ihrem Streben, gerade in der ersten Zeit ihrer folgenreichen Vereinigung, den vertrautesten und wirksamsten Anteil.« Und Schillers Biograf Karl Hoffmeister betont sogar: »In der Schule Humboldts wurde er [Schiller] erst für den Umgang Goethes reif.« Er war für Schiller in gewisser Weise, was Schiller für Goethe war: In ihm fand Schiller den »kongenialen Interpreten seiner selbst, den zeitgenössischen Deuter seiner geistigen und geschichtlichen Existenz«. Alle Worte, die Humboldt über Schiller aufzeichnet, zeugen von tiefer, liebevoller Ehrfurcht, wie es etwa aus den Worten klingt, die er drei Jahre nach Schillers Tod nach dem Studium alter Briefe, interessanterweise während eines Besuchs bei Goethe, an seine Frau schreibt: »Mit des armen Schillers nachgelassenen Papieren beschäftige ich mich des Morgens mit der Wolzogen. Es ist höchst merkwürdig zu sehn, wie, mit welcher Sorgfalt er gearbeitet hat. [...] Er bleibt der größte und schönste Mensch, den ich je gekannt; wenn Goethe noch dahingeht, dann ist eine schauerliche Öde in Deutschland.«
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil I
Heinrich von Kleist (1777-1811) und Georg Büchner (1813-1837) gehören wie Friedrich Hölderlin und Franz Kafka zu den seltenen Dichtern, deren Wirkung lange nach ihrem Tod größer ist als diejenige zu ihren Lebzeiten, und deren Sprache unübertrefflich den Kern des Gesagten trifft - bei Kleist sogar im auch schriftlichen Stottern und bei Büchner als jugendliche Leistung nebenher in einem auf wenige Jahre begrenzten Erwachsenenleben als Akademiker und politisch Verfolgter. Beide waren als Künstler ihrer Zeit weit voraus.Kleist und Büchner erlebten denselben Kulturraum, aber in vollständig voneinander getrennten, wenn auch dicht aufeinander folgenden Zeiträumen. Beide waren sie noch Zeitgenossen Goethes; Kleist gehörte zur Generation seines Sohnes, Büchner zu der seiner Enkel. Als Kleist starb, war Büchner noch nicht geboren; als Büchner starb, nur fünf Jahre nach Goethes Tod, wäre Kleist, hätte er sich nicht das Leben genommen, sechzig Jahre alt gewesen. Ihre Biografien zeigen als Gemeinsamkeit den Scharfsinn des Journalisten und die Ruhelosigkeit beider Persönlichkeiten; im Ganzen können wir jedoch an ihren Werken vor allem eine Polarität erleben: Kleist stellt den Menschen als Mittelpunkt ohne Peripherie dar; Büchner sieht die Menschen aus einer Peripherie, die keinen Mittelpunkt hat. Diese Polarität ist es, worauf im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll: bei Kleist im Wesentlichen aus der Perspektive seiner weiblichen Dramengestalten, bei Büchner in der Perspektive auf die männlichen.
Alanus ab Insulis wurde um das Jahr 1120 geboren und hat fast das ganze zwölfte Jahrhundert gelebt. 1203 starb er in Citeaux - und derjenige, der folgende Worte als Grabinschrift verfasste, ahnte viellacht, dass ein solcher Geist wiederkehren würde: »Eng ist das Grab und kurz die Zeit, die Alanus hier festhält, / Ihn, der die Zwei und die Sieben, der alles Wissbare wusste.« Vielleicht wurde mit der »Zwei« das Alte und das Neue Testament gemeint, und mit der »Sieben« die Sieben Freien Künste. Dass das Wissbare ihm den Beinamen »Doctor Universalis« gab, war durch die Nachwelt gegeben. Alanus lebte in der Zeit der Kreuzzüge, in der für die politischkulturelle Entwicklung Europas folgenschweren Stauferzeit. Licht und Schatten wechselten damals auf der Bühne des historischen Geschehens dramatisch ab. In einigen Ländern blühte die Kunst der Troubadours, und der Minnesang bewirkte eine Veredelung der Sitten. Es war das Jahrhundert der Grals-Literatur. Wolfram von Eschenbach dichtete an seinem >Parzival<, dem tiefsinnigsten Epos des deutschen Mittelalters. Der Orden der Zisterzienser wirkte nach dem Prinzip des ora et labora, rodete Wälder, drainierte Felder, betätigte sich als Viehzüchter und Baumeister, als Lehrer und Führer unzähliger Seelen.
Rudolf Steiner und Pazifismus
Während des Ersten Weltkriegs kritisierte Rudolf Steiner mit deutlichen Worten die Parolen mancher Friedensfreunde. Es gebe verblendete Menschen - »sie nennen sich oftmals auch Pazifisten« - die scheinbar höchste Ideale verkünden und »einen dauerhaften, ganz vollkommenen Frieden« anstrebten. Allerdings mit militärischen Mitteln. Wer sage, er »kämpfe für den Frieden und müsse deshalb Krieg führen, Krieg bis zur Vernichtung des Gegners, um Frieden zu haben«, der rede nicht nur Unsinn, sondern lüge. Bei anderer Gelegenheit wies Steiner auf einen Ausspruch des französischen Germanistikprofessors Henri Lichtenberger (1864-1941) hin, der meinte, es schade nichts, wenn der Krieg möglichst lange fortgesetzt werde, wenn nur am Ende ein dauerhafter Friede zustande komme. Die vielen Todesopfer hielt Lichtenberger für unwesentlich.Seit dem Ukrainekrieg 2022 scheint dieser »militante Pazifismus« wieder auf dem Vormarsch zu sein. Selbst die linksgrüne ›tageszeitung‹ (taz) schreibt: »Frieden gibt es erst, wenn Russland militärisch besiegt ist.« Die ehemals mächtige Friedensbewegung hat im Bundestag keine nennenswerte Lobby mehr, keine feste politische Heimat. Wer an diplomatische Konfliktlösungen glaubt, wird als naiv verspottet. Denn dem »Bösen« (in diesem Fall: dem russischen Aggressor) dürfe nicht tatenlos zugesehen werden. Auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung wird der Krieg kontrovers diskutiert.
Anfang einer Ästhesiosophie
Der aus dem Griechischen übersetzte Anfang des Johannesevangeliums ist bekannt: »Am Anfang war das Wort (lógos), und das Wort war bei Gott.« (Joh 1,1). Bei aller Stimmigkeit verbirgt diese mittlerweile gängige Übertragung - wie übrigens alle Übertragungen ins Lateinische oder in eine moderne Sprache - die fruchtbare Vielfalt des griechischen Begriffs lógos. Ohne Bewusstsein dieser Vielfalt ist es jedoch nicht möglich, den unerschöpflichen Reichtum der johanneischen Spiritualität wahrzunehmen. Zu diesem Bewusstsein möchten die folgenden Ausführungen einladen, dabei manche fruchtbare Anregungen zu einem zukunftsträchtigen Menschenbild hervorhebend, die das Johannes-Evangelium uns schenkt.Im geistigen Horizont des Johannes bezeichnet der griechische Begriff lógos nicht nur das schöpferische Wort, das von der göttlichen Intelligenz (ebenso lógos) des Vaters geboren wird, sondern auch das harmonische Verhältnis, das zwischen dem Vater und dem Sohn/Wort am Anfang allen Seins schöpferisch wirkt, und durch das alle Formen des Seins entstehen (Joh 1,3 und 10). Denn in der Tat ist eine Grundbedeutung von lógos eben Verhältnis, Relation, Proportion, auch in musikalisch-mathematischem Sinne, d.h. als stimmiges Verhältnis wahrgenommen. Demzufolge kann der Anfang des Johannesevangeliums ebenso übertragen werden als: »Am Anfang war das (stimmige, harmonische) Verhältnis, und dieses Verhältnis war zum Gott hin gewendet.«
Im Licht des Doppelstroms der Zeit
Die Anthroposophie eröffnet einen wissenschaftlichen Erkenntniszugang zum Übersinnlichen. Man soll Rudolf Steiners Ausführungen nicht glauben, sondern versuchen, sie zu verstehen. Die Anthroposophie ist Geisteswissenschaft. Selbstverständlich gibt es andere, legitime Formen des Umgangs mit der Anthroposophie, aber am Ende zielt sie auf die Ausbildung selbstständiger geistiger Erkenntnisfähigkeiten. Allerdings ist das geisteswissenschaftliche Erkennen nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch anders als das naturwissenschaftliche. Es ist zwar genauso klar, aber beweglicher, anschauender und erlebender, und es arbeitet auch mit anderen Fundamentalbegriffen. In den vergangenen 500 Jahren wurde das naturwissenschaftliche Denken als allgemeine menschliche Fälligkeit ausgebildet. Beim geisteswissenschaftlichen Denken stehen wir erst ganz am Anfang. Aber gerade in dessen Ausbildung liegt eine der großen kulturhistorischen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft.Wissenschaft ist eine Methode, um die Trennung zwischen Ich und Welt in voller Bewusstheit zu überwinden. Zur Wissenschaftlichkeit gehört deshalb immer eine klare Beschreibung der Methode sowie ihre begriffliche Durchdringung und Begründung. In einem voran gegangenen Artikel habe ich erläutert, inwiefern Goethes Metamorphosenlehre eine Grundlage für die wissenschaftliche Methode der Anthroposophie ist, insbesondere, insofern es sich um eine Erkenntnis des Lebendigen handelt. Goethe hatte ein bewegliches und anschauendes, »imaginatives« Denken, das ihn besonders befähigte, das Lebendige in seiner fortwährenden Verwandlung zu erkennen. Hier soll nun eine begriffliche Bestimmung lebendiger Entwicklung, ein tragfähiger Entwicklungsbegriff hinzugefiigt werden.
Teil II: (Über-)Leben in der Technosphäre
Im ersten Teil dieses Artikels erfolgte eine symptomatologische Zusammenfassung der Corona-Ereignisse als Ausdruck einer Autoritätsgesinnung, die sich vor allem der Medizin bemächtigte und auffällige Parallelen zur herrschaftsbezogenen und dogmatischen Bewusstseinsstruktur der mittelalterlichen Kirche aufweist. Im Folgenden soll auf tiefere Zusammenhänge eingegangen werden, die für das Geschehen der letzten drei Jahre ausschlaggebend gewesen sein könnten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Metamorphose religiöser Lehren in aktuelle Kraftwirksamkeiten, die sich über den lebensweltlichen Kontext hinaus bis in die Leibbildung hinein erstrecken. Abschließend wird dargestellt, wie ein Denken, welches das Ich für Empfindungszusammenhänge sensibilisiert, diesem helfen kann, sich auch in den gegebenen Kräftekonstellationen finden und halten zu können.
Vom Gegenpol des sozialen Wirtschaftsorganismus
In der Silvesternacht vor 100 Jahren brannte das erste Goetheanum bis auf das Fundament ab. Schon vier Jahre zuvor, bei seiner Ansprache zur fünfjährigen Grundsteinlegung am 20. September 1918 in Dornach, richtete Rudolf Steiner eine eindringliche Mahnung an die Zuhörer, von denen sicherlich viele selbst am Bau mitarbeiteten. Während sich wenige Kilometer weiter die Völker in den Schützengräben kämpfend gegenüberlagen – der Erste Weltkrieg endete erst im November 1918 –, kamen zur Errichtung dieses Menschheitsbaus die verschiedensten Nationalitäten zusammen, sodass tagtäglich ein kontrastreiches Bild den dort tätigen Zeitgenossen erlebbar war: Im Umkreis Kampf und Zerstörung, der von den damaligen Medien, genau wie heute, in schärfster Weise befeuert wurde; am Bauplatz in der neutralen Schweiz ein weitgehend friedliches Zusammenwirken von Menschen, deren Angehörige womöglich gleichzeitig in Kampfhandlungen verstrickt waren. Doch Rudolf Steiner ahnte, dass mit dem absehbaren Ende des Krieges die Zerstörungskräfte sich unmittelbar auf das Zentrum der anthroposophischen Bewegung richten werden. Denn diese Kräfte sind eine Weltnotwendigkeit in der Evolution der Menschheit. Sie müssen wirken. Es hilft nicht, diese zu beklagen, sondern es kommt setzen kann. Nur so kann die Wirkung dieser Zerstörungskräfte neutralisiert werden. Daher richtete Rudolf Steiner bei seiner Ansprache einen ernsten Appell an seine Mitarbeiter: »Ich möchte sagen, wir dürften eigentlich keine Freude, keine Befriedigung haben an dem Bau, wenn wir nicht zu gleicher Zeit alle Kraft daransetzen würden, für die anthroposophische Sache einzutreten. Denn der Bau würde die Veranlassung sein für die Zerstörung unserer Sache, wenn sich nicht genügend verteidigende Kraft finden würde. Ich möchte sagen, wenn wir keinen Bau hätten, könnten wir uns den Luxus gönnen, der an throposophischen Sache nur anzugehören, denn sie hätte eben nicht das sichtbare Zeichen, das auch diejenigen Menschen aufmerksam macht, die sichtbare Zeichen brauchen. Aber wenn wir Freude haben am Bau, wenn wir Befriedigung haben über den Bau, dann müssen wir auch damit eine gewisse Verpflichtung verbinden, für die anthroposophische Sache einzutreten.« Rudolf Steiners Appell verhallte ungehört. Er stellte auch eine hohe Erkenntnisherausforderung an alle Beteiligten: Wie setzt man sich denn richtig für die anthroposophische Sache ein?
Krisenbewältigung und aktuelles Sprachgeschehen
Wie auch in anderen Ländern der westlichen Welt herrscht in Deutschland eine seltsame neue Atmosphäre. Obwohl sich an der traditionellen Meinungsfreiheit hierzulande nichts geändert hat, macht sich das Gefühl breit, man könne bestimmte Dinge nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen. Sonst werde einem unversehens Extremismus, Rassismus, Homophobie, Realitätsverweigerung, Fortschrittsfeindlichkeit oder dergleichen unterstellt. Die Liste der verbalen Waffen, mit denen Menschen und Meinungen täglich angegriffen werden, ist lang. So lesen wir z.B. von »Wissenschaftsleugnern«, »Frauenverächtern«, »Klimasündern«, »Sicherheitsgefährdern« oder »Feinden der Demokratie«. Da ist es verständlich, dass friedliebende Zeitgenossen vorsichtig geworden sind, sich auf das Schlachtfeld des »freien« Meinungsaustauschs zu begeben, wo man gefährlichen Verletzungen und Verleumdungen ausgesetzt ist.
Die Rede ist von einem Phänomen, das als Radikalisierung und Polarisierung der Kommunikation bezeichnet wird. Sogar in neutralen Berichten ist ständig von »Kampf« die Rede, als wären die Menschen grundsätzlich gegeneinander eingestellt, als müsse man sich ständig gegen irgendwelche Gegner und Feinde durchsetzen. Das gipfelt in Pauschalurteilen wie: Die Politik »versagt«, die Wirtschaft »betrügt« oder die Presse »lügt«.
Teil I: Alte und neue dogmensetzende Gewalten
Ostern 2020 war jeder gemeinsame Gottesdienst in ganz West- und Mitteleuropa verboten. Die spirituellen Schutz, auch Trost suchende Gemeinschaft der Gläubigen wurde in dieser Zeit großer Befürchtungen – die »Bilder von Bergamo« liefen in den TV-Stationen in Dauerschleife – in den virtuellen Raum der neuen Medien verwiesen. Ausnahmslos. Ostern 2020 wird möglicherweise auch als der geschichtliche Moment zu beschreiben sein, an dem eine Stabübergabe von der alten zu einer neuen dogmensetzenden Gewalt erfolgte. Es gibt dieses emblematische Bild des einsamen Papstes vor dem leeren Petersplatz: gemeinsames Beten ist zu gefährlich und kontraproduktiv. Dafür konnte Bill Gates am Sonntag der Auferstehung zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen die neue, als heilbringend zu verstehende, jetzt irdisch-frohe Botschaft verkünden: »Wir werden den zu entwickelnden Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen verabreichen.« Das »wir« wurde nicht näher gekennzeichnet. Klar war aber, dass die Ausführung in die Hände der Ärzte gelegt wurde.
Rudolf Steiners Erkenntnisbiografie und der Beginn des neuen Michael-Zeitalters
Rudolf Steiner hat das Jahr 1879 als den Beginn eines neuen Zeitalters beschrieben, dessen Name mit dem Erzengel Michael verbunden ist. In der Anthroposophie denkt man dabei an ein geistiges Wesen und eine geistige Kraft, die den Menschen in seinem Einsatz für Wahrheit und Güte anspornt und ihm hilft, Einflüsse in seiner Seele zu überwinden, die gegen die volle Entfaltung seines Menschentums wirken. Ins Bild gebracht wird diese Auseinandersetzung als Michaels Kampf mit dem Drachen, wie er z.B. von Albrecht Dürer in seinen Holzschnitten zur Apokalypse so dramatisch dargestellt wurde. Das jährlich wiederkehrende Michaels-Fest, von Papst Gelasius I. im 5. Jahrhundert auf den 29. September gelegt, ist in anthroposophischem Verständnis daher vor allem ein Fest des Willens. Doch handelt es sich bei Michael nicht nur um ein Wesen, das den moralischen Willen anspricht, sondern zugleich um eine geistige Kraft, die mit einer besonderen Art von Erkenntnis verbunden ist, nämlich einer willensgetragenen. Sie besteht in einer inneren Doppelbewegung: dem aktiven Produzieren von Gedankenformen und dem Empfangen der Gedankeninhalte in innerer Hingabe an die Sache, welches man zusammen als »aktive Empfänglichkeit« bezeichnen kann. Wie Rudolf Steiner diese Erkenntnisart in seiner WerkBiografie auf verschiedenen Stufen verwirklichte, soll hier skizzenhaft dargestellt werden.
Die umfassenden Aufgabenstellungen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, offenbaren sich auf diesem Erkenntnisweg stufenweise. Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit der Geisteswissenschaft beschäftige, bemerke ich immer wieder, dass auf einmal eine neue, zuvor verborgene Stufe erreicht wird. Aber auch die Entwicklung der anthroposophischen Bewegung verlief am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Stufen, die Rudolf Steiner im Rückblick selbst beschreibt.
In der ersten Stufe ging es ihm darum, die Grundlagen einer neuen Wissenschaft vom Geist darzustellen. Zu deren zentralen Gebieten gehören insbesondere der Mensch mit seinen sieben Wesensgliedern, die Frage von Reinkarnation und Karma, die Entwicklung der Erde und ihrer Naturreiche sowie die Christologie. Um diese Inhalte in angemessener Form aufnehmen und verarbeiten zu können, ist eine Verlebendigung und Spiritualisierung des Denkens notwendig. Hierzu findet sich im Frühwerk Rudolf Steiners mannigfaltiges Übungsmaterial. Die Aufgabenstellungen, die mit diesem ersten Entfaltungsschritt der Anthroposophie zusammenhängen, sind auch heute noch ungeheuer groß. Denn auf dem Hintergrund der weitgehend materialistischen Denkweise ist eine Spiritualisierung der Wissenschaften ein unglaublich großes Unterfangen. Allein dies würde für Jahrzehnte, ja Jahrhunderte intensivsten Arbeitens unzähliger Wissenschaftler und Forscher ausreichen.
Modernes Nachdenken über die Weltseele
Das Werden der Anthroposophie hängt aufs Engste mit dem Ringen Rudolf Steiners um den Begriff des »kosmischen Christus« zusammen. Eine interessante Frage ist es, ob seine diesbezüglichen Visionen und Spekulationen auch Einfluss über die Anthroposophie und die von ihm inspirierte Christengemeinschaft hinaus hatten. Das dürfte namentlich bei dem französischen Naturwissenschaftler und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) der Fall gewesen sein, der zugleich als Theologe und Priester ausgebildet war. Ihm ging es zeitlebens um die Fragen einer ganzheitlichen Erfassung kosmischer Entwicklungsprozesse. Den Begriff des »kosmischen Christus«, den er ab 1916 verwendete, könnte er von Steiner, aber auch von einigen Theologen übernommen haben, die ihn seit 1906 ins Spiel gebracht hatten. So versteht der US-Amerikaner John Buckham den kosmischen Christus als das »Alpha and Omega«, wie das sp.ter bei Teilhard immer wieder betont zum Ausdruck kam. Ob wiederum Teilhard Buckham gelesen hat, bleibt unsicher. Jedenfalls hatte der Franzose nach seiner naturwissenschaftlichen und philosophischen Ausbildung von 1908 bis 1911 – also noch über seine Priesterweihe hinaus – in England theologische Studien getrieben, wo er auf Buckhams Publikation gestoßen sein könnte.
Notker III. von St. Gallen (um 950 – 29. Juni 1022)
Ein Mann, der vor tausend Jahren gestorben ist – inwieweit kann der uns heute interessieren? Die Nachwelt gab ihm immerhin den Beinamen Teutonicus, also der Deutsche. Ist ein solcher Beiname und gar die Würdigung seiner Arbeit als »Dienst an deutscher Sprache und deutschem Denken« heute in Deutschland nicht obsolet? (Ein Schweizer Mediaevist hat damit offenbar keine Probleme.) Geht man der Bedeutung dieses Beinamens aber etwas nach, dann stößt man auf die Lebensleistung dieses Mannes und vielleicht auch auf die Berechtigung, nach tausend Jahren seiner zu gedenken. Es ist der Benediktinermönch Notker III. von St. Gallen, um 950 geboren und am 29. Juni 1022 gestorben.