Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität
Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.
Eine Betrachtung zu der Auseinandersetzung um das Buch ›Covid-19: The Great Reset‹
Zu diesen Ausführungen sind auch drei Videos vom Autor vorhanden. Siehe unter Aktuelles/Blog.
Annäherungen an Poetologie, Sprache und Aktualität Paul Celans im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags
Den äußeren Anlass für diesen Aufsatz bilden der 100. Geburtstag Paul Celans am 23. November und sein 50. Todestag am 20. April in diesem Jahr. Den inneren Anstoß gibt die unausweichliche Aktualität seines Werks. Ich werde dieser Aktualität vor allem unter dem Aspekt von Celans werkimmanenter Poetologie und Sprachauffassung nachgehen. Zweifelsohne gibt es auch Themen in Celans Lyrik, von denen aus sich im Jahr 2020 Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Aktualität herstellen lassen. Auch wenn die thematischen Aktualitäten besorgniserregend genug sind, möchte ich doch die poetologischen Implikationen vorziehen, weil mir scheint, dass deren spirituelle Dimension alle anderen Aktualitäten umfasst und sie in ihr gut aufgehoben sind. Mit dieser Akzentuierung berühre ich erkenntnistheoretische und rezeptionelle Fragestellungen grundlegender Art, die mit der Frage nach den möglichen Zugängen zu Celans Gedichten unmittelbar verbunden sind.
Der wissenschaftliche Weg zum geistigen Schauen. Zur Rehabilitierung von Herbert Witzenmann
Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bewegt viele Gemüter im Zusammenhang mit dem Professoren-Trio Hartmut Traub, Helmut Zander und Christian Clement. Diese kleiden ihre Arbeiten in einen traditionellen, weil materialistisch verstandenen Wissenschaftsbegriff, der ihnen den wirklichen Ausblick zum Selbstverständnis der Geisteswissenschaft versperrt. Hier sei u. a. dazu ein kurzer Abriss der Arbeit von Herbert Witzenmann vorgestellt, der in seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiner nicht nur interpretiert, sondern dessen methodologischen Leistungen verfeinert, vertieft und um wesentliche Beiträge ergänzt hat.
Der »Ausbruch« des Virus als »Einbruch« in unser Bewusstsein
Wenn mir jemand zum Jahreswechsel 2019/20 gesagt hätte, dass in wenigen Wochen die Regierungen weltweit Kontaktsperren ausrufen würden, dass man Ländergrenzen, Schulen, Läden, Restaurants, Büros, Betriebe und Klubs schließen würde, und dass sich über die Medien eine täglich erneuerte Flut von Angst über die Menschen ergießen würde – wegen eines Virus, der Krankheit und Tod bringen soll, millionenfach; wenn mir jemand gesagt hätte, dass jedes Hinterfragen des Virus-Geschehens ignoriert oder als .Verschwörungstheorie. gebrandmarkt werden würde; wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich hier in Deutschland eigenartig vermummten Gestalten begegnen würde, die einander auf der Straße ausweichen und auf Abstand bleiben; wenn mir jemand gesagt hätte, dass von der Politik isolierte Alte vor Einsamkeit den Selbstmord wählen würden, so wie jene, die sich aus Angst vor der Krankheit umbringen; wenn mir dies jemand gesagt hätte: Ich hätte es ihm nicht geglaubt. Ich hätte ihn wegen seiner wilden, abstrusen Phantasie verlacht und keine Minute über seine Prophezeiung nachgedacht.
Vom ewigen Namen des Menschen
In den Märztagen des Jahres 1925 verfasste Rudolf Steiner für die Zeitschrift ›Das Goetheanum‹ seine letzten Beiträge zu zwei Artikelserien, die später in Buchform erschienen: seine Autobiografie ›Mein Lebensgang‹ und die als Anregung für die geisteswissenschaftliche Arbeit im Rahmen der 1923 zu Weihnachten neugegründeten Anthroposophischen Gesellschaft gedachten ›Anthroposophischen Leitsätze‹. Beide Werke – das erste von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Ursprungs der Anthroposophie, das zweite für ihre geisteswissenschaftliche Vertiefung – blieben Fragment. Ist die Autobiografie besonders der Vergangenheit verpflichtet, so gipfeln die Leitsätze in einer Zukunftsperspektive, die inzwischen längst Gegenwart geworden ist.
In Gegenwart einer Apokalypse
Philosophie wird nur dann eine sinnvolle Zukunft erleben, wenn sie in Zeiten der Krise jenseits aller einlullenden Diskurse jene Fragen mutig zuspitzen wird, die das Menschsein in seinen lichtvollen Höhen und warmen Tiefen offenbaren können. Gerade in unserer Gegenwart, die das Menschliche in die Hölle einer hypertechnisierten, alle seelischen sowie geistigen Höhen und Tiefen gleichschaltenden Überwachbarkeit immer mehr zu versenken scheint, ist Philosophie zu jenem Redemut und jener Redefreiheit, zu jener parrhesía zutiefst verpflichtet, die Sokrates urbildhaft mit der authentischen Sorge um den Menschen als geistiges Wesen verband. Dabei geht es nicht darum, rhetorische Anklagen zu erheben, sondern – im Zusammenklang mit Sokrates – wohlwollend streng und provokant zu Fragen anzuregen, die Schwellen zu einer durch Freiheit und Liebe getragenen Verwandlung des Bewusstseins, d.h. – Rudolf Steiners Ausdruck aufgreifend – zur moralischen Phantasie öffnen können. Es geht, anders gesagt, um die Menschenwürde, deren Beachtung in der physischen, seelischen und geistigen Begegnung mit allen Menschen – selbstverständlich auch mit denen, welche die Menschenwürde ausblenden oder sogar vernichten möchten – als goldener Keim der stimmigen Gemeinschaftsbildung wirkt.
Rekonstruktion und Reflexion von Hannah Arendts Machtbegriff
Erschließung und Popularisierung von Hannah Arendts Lebenswerk gehen seit Jahren Hand in Hand: 2020 widmet ihr das Deutsche Historische Museum in Berlin die Ausstellung ›Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert‹; 2018 avanciert ihr posthum veröffentlichter Essay ›Die Freiheit, frei zu sein‹ zum Bestseller, außerdem erscheint der erste von bisher drei und insgesamt 17 geplanten Bänden der ›Kritischen Gesamtausgabe‹; 2012 macht Margarethe von Trottas Spielfilm ›Hannah Arendt‹ sie einem Millionenpublikum bekannt. Im Folgenden wird mit dem Machtbegriff ein zentraler Topos des Arendt’schen – und abendländischen – Denkens erhellt und angedeutet, dass Arendts Machtverständnis Teil einer Freiheitsphilosophie ist, deren Radikalität Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ in nichts nachsteht.
Zur Aktualität von Günther Anders
»›Daß es von Natur aus diskrete Einzelwesen gibt, das ist zwar ein bedauerlicher kreatürlicher Defekt, und diesen abzuschaffen, werden wir vermutlich niemals fähig sein. Aber darüber zu verzweifeln, liegt kein Grund vor. Einzelwesen sind so wenig Lücken in unserem totalen System, wie Sieblöcher Lücken im Siebe sind. Obwohl nicht aus Siebmaterial bestehend, funktionieren diese doch als Teile des Siebs, sogar als dessen wichtigste. Und irgendetwas zu leisten, was ihnen nicht durch Größe, Stoff und Form des Siebs diktiert wäre, sind und bleiben sie außerstande.‹ Aus dem molussischen ›Lehrbuch des Konformismus‹« – Günther Anders: ›Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II – Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution‹, (München 2018), S. 145. Dieses einprägsame Bild stellt der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders als Motto einem der Essays in seinem Hauptwerk ›Die Antiquiertheit des Menschen‹ voran. Damit schlägt er ein Thema an, das ihn zeitlebens umtrieb: die Gleichschaltung der Menschen in einem konformistischen System.
Gegenwärtige und zukünftige Aufgaben der Michael-Schule
Alles in unserer Welt beruht auf der Sieben. Die ganze Evolution ist von Siebener-Prozessen durchdrungen. Das kann man im Kleinen wie im Großen beobachten – sehr schön z.B. an den Wochentagen. Der Reigen der Wochentage geht ständig, sich zyklisch wiederholend, durch sieben Qualitäten hindurch. Man kann phänomenologisch beobachten, dass ein Sonntag eine andere Qualität hat als ein Montag, dass dienstags anderes möglich ist als mittwochs, dass ein später Samstagabend sich anders anfühlt als ein Donnerstagmorgen usw. Die Wochentage hängen mit den sieben Planeten zusammen. Man kann den Eindruck haben, dass jeder Tag von einem anderen Planeten durchtöntwird. Am Sonntag erklingt die Sonne; montags schafft der Mond mit; dienstags wirkt der Mars ein; mittwochs ist Merkur zu erleben; am Donnerstag der Jupiter; freitags erstrahlt die Venus, und am Samstag haben wir es mit dem Saturn zu tun. Da allem in der Welt etwas Wesenhaftes zugrunde liegt, kommen wir schlussendlich zu sieben Geistwesen oder Planetengeistern. Der vielleicht bekannteste von diesen ist der Sonnenerzengel Michael. Er ist Teil einer geistigen Siebener-Gemeinschaft, sozusagen eines kosmischen Siebenerkreises. Und so wie der Sonntag ein Tag der Woche ist, darauf aber sechs andere folgen, so kann auch Michael nur im Zusammenhang mit den anderenführenden Erzengeln verstanden werden. Diese sind: Gabriel, Samael, Raphael, Zachariel, Anael und Oriphiel.
Eurythmie und kosmische Intelligenz
Mit der Eurythmie, die durch meditative Arbeit vertieft wird, kann sich der Übende oder eine Gemeinschaft mit der Geistwelt verbinden. Die Räume, die sich öffnen, sind wesenhaft erlebbar. Geistgespräche mit Individualitäten, die über die Schwelle gegangen und intime Erlebnisse im Zusammenhang mit Geistwesen sind Ambrosia und Nektar, die das Leben verwandeln, den Übenden stärken und wegweisende Hilfestellungen vermitteln. Die Zusammenarbeit mit der Geistwelt wird Realität. Rudolf Steiner macht uns in seinem Gesamtwerk auf diese Logos-Kräfte aufmerksam. Davon sprechen die folgenden Zeilen.
und die sechs Eigenschaften der Übung »Ich denke die Rede«
Viel wird vom Herzen geschrieben, vom Herzen gesprochen. Gerade weil das Herz weit mehr ist als das, was wir als physisches Organ in uns tragen, sprechen wir von ihm. Es ist auch viel mehr als das, was wir in unserer Mitte als Quell und Schale erleben können. Ätherisch betrachtet ist es so groß wie der ganze Organismus des Blutkreislaufes. Geistig gesehen ist das Herz die Schwelle in uns. Bereits physiologisch tritt diese Tatsache dadurch in Erscheinung, dass sich im Herzen der Lungenblutkreislauf und der Blutkreislauf des übrigen Organismus begegnen. Der eine Blutkreislauf kommt aus der Weite der Lunge – würde man dieses Organ entfalten, hätte es eine Fläche von 80 bis 100 m² –, der andere Blutkreislauf kommt zurück aus unserem Handlungs-, unserem Tätigkeitsmenschen. Der eine empfängt – physiologisch betrachtet – Sauerstoff, der andere schafft und wirkt in die Welt hinein. (Mit »Welt« meine ich nicht nur unsere sichtbare Welt, sondern Welt überhaupt, auch die Gedankenwelt, oder die Welt der seelischen Tätigkeit.)
In einem kürzlich erschienenen Artikel ging es darum, zu zeigen, wie eine Meditation aussehen kann, deren Grundlage darin besteht, einen Gedanken in einer Anzahl von seelisch-geistigen Entwicklungsschritten aufzubauen und zu durchleben, und die dann in den Meditationssatz mündet: »Ich fühle mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens.« Deutlich konnte daran werden, und kann jedem werden, der das erste Kapitel in Rudolf Steiners ›Die Schwelle der geistigen Welt‹ in entsprechender Art und Weise meditativ vertieft, wie die Seele mit dem Denken, dem Vertrauen zu dem Denken und mit dem Gefühls,- Affekt,- und Willensleben Erfahrungen macht, die an Intensität und Vielfalt dem gleichkommen oder sogar das übertreffen, was sonst nur durch die Außenwelt auf sie zukommt.
Elisabeth Vreede und die Verbindung der Sternenwelt mit dem Sonnenwesen der Philosophie
Anthroposophie ermöglicht, hinter vielen Rätseln, welche die Menschheit in ihrem Umgang mit der Natur und mit sich selbst bewegen, die mehr oder weniger bewusste Frage nach einem wirklichkeitsgemäßen Verhältnis zum Christus zu entdecken. Eine befriedigende Antwort kann dafür nur in der geistigen Verbindung des realen Menschenlebens mit dem fortwirkenden Zentralereignis der kosmisch-irdischen Evolution und der Menschheitsgeschichte, d.h. mit Leben, Tod und Auferstehung Christi als einer »mystischen Tatsache« gefunden werden. Für Elisabeth Vreede war das die wichtigste Grundlage für die methodische Erneuerung aller Wissenschaften, insbesondere auch für Astronomie und Kosmologie. In Anknüpfung an den im Dezemberheft dieser Zeitschrift erschienenen Artikel soll dies an einem konkreten Beispiel erläutert werden.
Zum Hintergrund der Entdeckung des Elektromagnetismus 1820
Am 21. Juli 1820 ging von Kopenhagen aus ein Lauffeuer durch die wissenschaftliche Welt Europas. Durch seine kleine Schrift ›Experimenta circa effectum conflictus electrici in acum magneticam‹, die er an ausgewählte, vor allem jüngere Kollegen in Europa gleichzeitig verschickte, regte Hans Christian Ørsted viele – u.a. André-Marie Ampère (1775–1836) in Frankreich, Thomas Johann Seebeck (1770–1831) in Deutschland und Michael Faraday (1791–1867) in England – zur Nachprüfung und zu weitergehenden Experimenten an. Sieben Jahre später stellte Ørsted fest, dass weit mehr als 100 Wissenschaftler schon zum Thema Elektromagnetismus geschrieben hatten.
Die Schöpfung aus dem Nichts
Die Menschheit befindet sich an einer Bewusstseinsschwelle, die in Krisenzeiten besonders deutlich erlebbar ist. Alte Verhaltensmuster und neue, zukunftsorientierte Denkansätze ringen miteinander, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt zu überwinden. Die vielen »sinnvollen Zufälle«, die uns im Alltag passieren und zwischen Ich und Welt vermitteln, waren bereits im 20. Jahrhundert gemeinsames Forschungsthema von Wolfgang Pauli und Carl Gustav Jung. Der Nobelpreisträger für Physik und der Tiefenpsychologe zeigten in ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit, dass es sich bei solchen »Synchronizitäten« um individuelle Schöpfungsakte handelt, die Zukünftiges in der Gegenwart erscheinen lassen. Rudolf Steiner nannte dies die »Schöpfung aus dem Nichts«.
Die Quantenphysik auf dem Weg zu einer nichträumlichen Wirklichkeit
In unseren Schulbüchern lesen wir, dass alles aus Atomen aufgebaut ist, die wiederum aus noch winzigeren »Elementarteilchen« bestehen. Die Bilder dazu suggerieren, Atome seien materielle Kugeln – und diese Vorstellung lebt mehr oder weniger bewusst auch in dem Bild, das sich der moderne Mensch von der Welt insgesamt macht. In diesem Bild ist kein Raum für geistige Wirksamkeit. Dabei haben die experimentellen Ergebnisse der Quantenphysik in den letzten Jahrzenten dazu geführt, dass die Physiker sich gezwungen sehen, unsere bisherigen Begriffe von Materie sowie von Raum und Zeit ganz neu zu denken. Der vorliegende Aufsatz versucht, diese Entwicklung im Überblick darzustellen.
100 Jahre Anthroposophische Medizin
100 Jahre Anthroposophische Medizin. Wir begehen dieses Jubiläum in einer Zeit der Pandemie (von griech. pandēmia = das ganze Volk). Nicht nur das ganze Volk eines Landes, sondern die Weltgemeinschaft steht unter Schock durch ein Virus. Es betrifft uns – mehr oder weniger direkt – alle, weltweit. Millionen von Menschen gelten als gefährdet durch ein Virus, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Fledermäusen, womöglich über weitere Wirtsorganismen, hin zum Menschen gelangt ist und sich nun pandemisch ausbreitet. Mit der Corona-Krise wird ein Vorhang gelüftet. Dem Blick öffnet sich eine Art Fratze, ein Gesicht, das in seiner Versehrtheit bloßliegt. Wir blicken auf die Züge einer Gesellschaft, einer Medizin und eines Gesundheitswesens, wie wir das sonst nur punktuell tun, wenn überhaupt.
Medizin, Psychologie und Psychiatrie
Menschliches Kranksein kann sich nach zwei Richtungen hin äußern: nach der Richtung des Leibes und nach der Richtung der Seele. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass körperliche Erkrankungen mit Änderungen des Empfindens und seelischen Erlebens einhergehen, und umgekehrt seelische Erkrankungen eine Grundlage in körperlichen Prozessen haben. Das ist immer weniger beachtet worden, seit sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an die Felder der körperlichen und der seelischen Krankheiten auseinanderentwickelten. Gegenwärtig stehen die somatischen Fachdisziplinen und die Psychiatrie weitgehend unvermittelt nebeneinander.
100 Jahre ›Geisteswissenschaft und Medizin‹
Wenn in diesem Jahr in Deutschland und wohl auch an vielen anderen Orten auf der Welt das 100-jährige Jubiläum der Anthroposophischen Medizin feierlich begangen wird, so ist das nur bedingt richtig. Vor 100 Jahren hielt Rudolf Steiner vom 21. März bis zum 9. April 1920 seinen ersten Fachkurs für Ärzte und Medizinstudenten. Die 20 Vorträge dieses Kurses wurden später unter dem Titel ›Geisteswissenschaft und Medizin‹ in schriftlicher Form zusammengefasst. War das der Beginn der Anthroposophischen Medizin? Und ist dieser Begriff angemessen für die Impulse, die Steiner der damals gültigen, streng naturwissenschaftlich geprägten Medizin geben wollte?
Entstehung und Zukunftsperspektiven
Da das Jubiläumsjahr um den 100. Geburtstag der Anthroposophischen Medizin mit der Corona-Krise zusammenfällt, macht es Sinn, auf ein ähnlich einschneidendes Ereignis am Ende des Ersten Weltkrieges zurückzublicken. Damals traf das Virus der Spanischen Grippe auf eine durch das Trauma des Krieges, existenzielle Ängste und zum Teil erhebliche Mangelernährung immunologisch geschwächte Weltbevölkerung. Auch Menschen im besten Alter zwischen 20 und 40 Jahren waren betroffen. Die Pandemie hatte weltweit etwa 50 Mio. Tote zur Folge. Die medizinische Versorgung war dem Ausmaß der Pandemie nicht gewachsen, ganz abgesehen davon, dass es weder Impfstoffe noch wirksame Medikamente gab. Länderübergreifender Austausch und gegenseitige Hilfe waren kaum möglich. Heute ist dies anders, die Virusforschung und unser Wissen über das Immunsystem sind weit fortgeschritten. Dennoch trifft die Corona-Pandemie die Menschheit unvorbereitet und löst neben Angst vor Ansteckung und tiefer Verunsicherung auch eine tiefgreifende Wirtschafts- und Sozialkrise aus, deren strukturelle Folgen derzeit noch nicht absehbar sind.
Der eigene Sprachgebrauch als Zeichen im menschlichen Miteinander
Aussagen wie »Das ist nun einmal so« oder gar »Das war schon immer so« hatten noch nie eine überzeugende Auswirkung auf mein Verständnis der Dinge – und wenn das doch in früher Kindheit einmal anders gewesen sein sollte, so haben die ca. 17 Jahre institutioneller Waldorfprägung in meiner Kindheit und Jugend hiermit ein für alle Mal Schluss gemacht. Dinge zu hinterfragen, vorhandene Systeme und Institutionen kritisch zu betrachten, dominanten Diskursen skeptisch zu begegnen – wenn es etwas gibt, das ich aus meinem anthroposophischen Elternhaus und der Zeit als Waldorfschülerin mitgenommen habe, dann das! Mit dieser dem scheinbar »Normalen« gegenüber grundlegend kritischen Haltung geht aber auch ganz klar eine ebenso entscheidende affirmative Überzeugung einher: Eine Bejahung gegenüber dem Anderen, ein Bemühen um Inklusion mir auf den ersten Blick vielleicht fremder Lebensrealitäten, ein gewisses Vergnügen am Umgang mit allen, die sich in ihrer Haltung, ihren Überzeugungen und, ja, auch in den vielen Facetten der menschlichen Identität als Abweichende, als Freaks, eben als anders und unangepasst verorten (lassen). Vor allem aber durfte ich in dieser waldorfgeprägten Kindheit Respekt und ein fortwährendes Bemühen um Verständnis für mein Umfeld und die gelebte Diversität (in der Umwelt ebenso wie in der menschlichen Gesellschaft) entwickeln. Und das gilt auch, wenn diese Haltung doch manchmal an ihre Grenzen gerät, nämlich immer dann, wenn ich Menschen begegne, die sich bewusst dafür entscheiden, es an diesem in meinen Augen unabkömmlichen Respekt gegenüber anderen Menschen fehlen zu lassen.
Leiblichkeit und Ich-Erfahrung
Wer bin ich? Diese Frage wird oft mit dem Wort »Identität« verbunden. Allerdings ist dieser Begriff immer schwammiger geworden. Eigentlich fragt »Identität« nach dem Selbst, der unverwechselbaren Wesenheit. Im Kern gleicht mir keiner! Doch inzwischen ist dieser Ausdruck – nicht nur bei der »identitären Bewegung« – geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden: meine Identität als Deutscher, als Mann, als ... Immer geht es um Gruppen! Und doch leiden manche unter der Empfindung: »Ich bin nicht ganz Ich selbst«, und diese Erfahrung hat zunächst mit Nähe oder Fremdheit im Menschenumkreis zu tun. Viele Kinder spielen um ihr zehntes Lebensjahr mit der Vorstellung, sie könnten nur versehentlich in ihre Familie geraten sein, vertauscht in der Geburtsklinik oder adoptiert. Wenn sich das bis in die Jugend hinein fortsetzt, kann es sich zu der starken Vorstellung steigern: »Ich bin in der falschen Familie gelandet.« Viel tiefgreifender wird es für den, der bis ins Erwachsenenalter hinein zu wissen meint, dass er den unpassenden Körper hat, also z.B. sichtlich als Mädchen geboren wurde und sich entgegen allen Rollenerwartungen als Mann fühlt – oder umgekehrt sich als Frau in einem männlichen Körper versteckt meint. Diese Vorstellung gab es vereinzelt wohl schon in vorigen Jahrhunderten, aber sie scheint zuzunehmen. Denkbar wäre auch, dass Menschen sich in Zeiten abnehmender Rollenzwänge häufiger trauen, ihre »Identität« öffentlich zu bekennen. Man sollte nicht vorschnell und schneidig Urteile darüber fällen.
Die Individualisierung der Lebensformen, Sexualitäten und Identitäten
In den westlich-freiheitlich geprägten Industrieländern haben die letzten 50 Jahre für drei Gruppen von Menschen einen enormen Fortschritt gebracht: für solche, a) die andere Menschen des gleichen Geschlechts lieben, b) deren geschlechtliche Identität nicht eindeutig ist oder c) dem Geschlecht ihres Körpers widerspricht. Angefangen hat es mit der Homosexualität: 1969 wurde in der Bundesrepublik § 175 des Strafgesetzbuches zum ersten Mal reformiert, 1973 ein zweites Mal und 1994 wurde er ganz abgeschafft. 122 Jahre lang hatte er im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik, in der Nazidiktatur und in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass homosexuelle Handlungen von Männern mit Gefängnis bestraft wurden, nach einer Verschärfung unter den Nazis in »schweren Fällen« sogar mit Zuchthaus. In diesem halben Jahrhundert wandelte sich das, was noch in den 1950er Jahren vom Bundesverfassungsgericht als »gesundes Volksempfinden« zum moralischen Maßstab erhoben worden war, grundlegend. Allerdings nicht überall: Etwa 20 Prozent der Staaten der Welt bestrafen homosexuelle Handlungen weiterhin, teils sogar mit dem Tode. Reden wir also erst mal nur über die anderen 80 Prozent der Welt, speziell über Deutschland. Hier hatten wir in den letzten Jahren mehrere schwule Ministerpräsidenten (besonders bekannt wurden sie in Berlin und Hamburg) und nicht wenige schwule oder lesbische Bundesminister*innen, darunter sogar einen Außenminister.
Aufgabe und Anspruch der transdisziplinären Gender Studies (Geschlechterforschung) ist es, Geschlechterverhältnisse wissenschaftlich zu erfassen und ein differenziertes Geschlechterwissen als Beitrag für Vielfalt und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben zu gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Geschlechtlichkeit ist vielleicht gerade für Institutionen schwierig, die sich vor allem auf das Seelisch-Geistige des Menschen konzentrieren wollen. Aber diesen zentral irdischen Bereich von Sex und Gender zu ignorieren oder zu verdrängen, rächt sich letztlich, wie sich etwa an den Missbrauchsskandalen in der Katholischen Kirche gezeigt hat. Für das menschliche Leben und Erleben hat die Geschlechtlichkeit nach wie vor eine existenzielle Bedeutung, zumal damit bei näherem Hinsehen sowohl die Soziale Frage als auch die Forderung des »Erkenne dich selbst« innig verknüpft sind – Fragen, die nach einer tieferen Welt- und Selbsterkenntnis verlangen, und die sich nicht von selbst lösen werden. Deshalb könnten die diversen Hinweise und Erklärungen, die uns Rudolf Steiner zum Thema der Geschlechtlichkeit hinterlassen hat und die bisher nur wenig bearbeitet wurden, durchaus die Basis bilden für einen eigenen Ansatz, für eine anthroposophischgeisteswissenschaftliche Geschlechterforschung.
Die Frauenbewegung, das Matriarchat und ein neues Naturverhältnis
Ende des 19. Jahrhunderts, als die erste Frauenbewegung in Europa immer stärker anwuchs, wurde in der männlich dominierten Wissenschaft viel über die »Natur des Weibes« geschrieben: ob Weiber eine Seele hätten und überhaupt im vollen Sinne Menschen seien. Auch, ob die Frau im harten Berufsleben stehen will oder ob sie z.B. »ihrer natürlichen Veranlagung nach sich nicht zum praktischen juristischen Beruf eignet«. Rosa Mayreder (1858–1938) und Rudolf Steiner drehten den Spieß um: »Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen. […] Sie [die Frauen] müssen es aber selbst entscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist.« – »Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen.« Neben dem Kampf der Frauen um das Wahlrecht sowie die Zulassung zu Berufsausbildungen und Berufen musste damals auch eine Identitätsfindung beginnen. Immer mehr Frauen erwachten zu ihrer Individualität – basierend auf ihrem Geschlecht, aber nicht abhängig davon. Darin kann auch ein Impuls gesehen werden, der zum »Anbruch des Michael-Zeitalters« gehört, das laut Rudolf Steiner um 1879 begonnen hat und in dem die Menschen sich aus Gruppenhaftigkeit und biologischen Bestimmungen herauszulösen streben.
Zu den Erlebnisstufen des anthroposophischen Meditationsweges
Früh erlebte ich es als sehr beschämend, wenn es hieß, Rudolf Steiner habe wohl geistig schauen können, seine Schüler aber seien Epigonen, und die von ihm gelehrten übersinnlichen Forschungsfähigkeiten seien bei ihnen ausgeblieben. Der Schulungsweg wurde mir umso wichtiger. Er vollzog sich dann in 12-Jahres-Stufen mit folgenden Schwerpunkten: 12 Jahre Studium, ethisches Bemühen, phänomenologische Wahrnehmung, verschiedene Übungen, Schwellenkrisen und erste geistige Erlebnisse (1976 bis 1988); 12 Jahre – nach Einrichtung eines kontinuierlich täglichen Meditationslebens – Erfahrungen meditativen Wahrnehmens an Übungen aus ›Wie erlangt man ...?‹, erste Wesenserlebnisse (1989 bis 2001); 12 Jahre Differenzierungsarbeit im anfänglichen Erleben der Imagination, Inspiration und Intuition an Sozialem, der Natur und dem Jahreslauf (2003 bis 2015); und – vermutete – 12 Jahre des Einlebens in Beziehungen zu verschiedenen Wesen (2015 bis 2027). Dabei bestätigte sich mir im Erleben die Stufung des anthroposophischen Schulungsweges:3 1. Studium; 2. Imagination; 3. Inspiration; 4. Intuition; 5. Beziehungsbildung zwischen Mikrokosmos (Ich) und Makrokosmos (geistige Welt und ihre Wesen); 6. Einswerden mit dem Makrokosmos; 7. Gottseligkeit, als Weg vom verfeinerten Wahrnehmen zur verfeinerten Verbundenheit.
Tore der Seele zur Bildekräftewahrnehmung
Wer sich mit Fragen der inneren Schulung beschäftigt, schaut auf ein weites Feld verschiedenster Aspekte und Ansätze. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf einen kleinen Ausschnitt beschränken. Dabei gehe ich von Erfahrungen in der Bildekräfteforschung aus.
In der Bildekräfteforschung wird ein innerer Übweg veranlagt, der zur Wahrnehmung im Bereich des Ätherischen und der angrenzenden Gebiete des Seelisch-Geistigen befähigen soll. Dieser Übweg trägt alle Charakteristika, die einen anthroposophischen Schulungsweg kennzeichnen: Er strebt eine bewusste, Ich-geführte Umgestaltung des eigenen Wesensgliedergefüges an, um nach und nach eine Verwandlung von Denken, Fühlen und Wollen zu ermöglichen.
Dabei wird zunächst und in besonders intensiver Weise an einem durchschaubaren Verhältnis zum eigenen Denken gearbeitet. Die Bedeutung einer Verlebendigung des eigenen Denkens hat Rudolf Steiner in immer wieder neuen Aspekten an seine Zuhörer und Leser herangebracht, er ist eines der zentralen Themen in seinem Werk.
Ich-Wille und Himmelsgaben im Denkprozess
Die allgemeine Auffassung von den Möglichkeiten und dem Wesen des Denkens beschränkt sich heutzutage fast flächendeckend auf dessen intellektuelle Komponenten – wie das Sammeln von Gedanken und Wissen, das Verfassen kritischer Analysen, das Auffinden von Kausalitäten oder das Erstellen von Meinungen und Urteilen. Spirituelle Kräfte des Denkens bleiben dabei unbeachtet, sei es aufgrund einer materialistischen Leugnung des Geistigen überhaupt oder einer Unkenntnis vom Denken als Ganzem in vielen, auch spirituell offenen Kreisen.
So widerfährt dem Denken eine Missachtung. Da für den spirituellen Fortschritt der reine Intellekt verständlicherweise als Hindernis erlebt wird, will man häufig das Denken überhaupt vermeiden. Andererseits wird wenig gezögert, den Intellekt in Form einer berechnenden Raffinesse bis zum Äußersten auszureizen, um damit egoistische Ziele wie beispielsweise wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Der Respekt dem Denken gegenüber ist somit weitgehend geschwunden, und so scheint es auch kein besonderer Schritt zu sein, digitale Funktionen an dessen Stelle setzen zu wollen. Auf diese Weise verliert aber der Mensch den Bezug zu seinem eigenen Denken. Es entgleitet ihm und stürzt ab. Dem Einzug von Lügen und der weit verbreiteten Fake-News sind damit alle Türen geöffnet.
Das Frühwerk Rudolf Steiners mit seiner Entwicklung und Darstellung eines lebendigen Denkens ist einem Samen vergleichbar, der – indem er aufgeht und zur Pflanze sich entfaltet – in die geistige Welt hineinzuwachsen vermag. Steiner hatte gezeigt, dass das menschliche Denken sich so selbst ergreifen und durch innere Kräfte entwickeln kann, dass es eine Brücke zur geistigen Welt bilden kann. Allerdings wurde er in diesem Ansatz nicht verstanden. Dies trug wesentlich zu der Krise bei, die Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts durchlebte und die in der Fragestellung: »Soll man verstummen?«, wie er sie dann in seinem ›Lebensgang‹ formulierte, gipfelte. Offensichtlich war da ein Schritt in der Geistesgeschichte der Menschheit getan worden, der seiner Zeit vorausging.
Obwohl dem so war und Rudolf Steiner biografisch ab 1900 den Weg über die Theosophische Gesellschaft wählte, die ihrerseits durch ihre Geschichte mit Elementen verbunden war, die nicht aus dem mitteleuropäischen Geistes- und Gedankenleben stammten, entwickelte er die Anthroposophie so, dass sie in der ganzen Art, wie er sie selbst erforschte und darstellte, immer vom Denken getragen war. Das heißt, bei seinem eigenen geisteswissenschaftlichen Forschen ging er vom Denken aus und nutzte dieses als Brücke in die geistige Welt.