Vier Erzählungen über den Wind und die Vergänglichkeit
In Châtelet-sur-Ville, wo ich in den siebziger Jahren lebte, in den Räumen der Alten Schule, gewann ich Zeit – nicht durch Beschleunigung, sondern durch Verlangsamung. Sie wurde mir zugetragen vom Wind, der als Fallwind herüberkam von Riom ès-Montagnes, Laub und Schnee aufwirbelte und meine Haut wie mit Messern schnitt, von den wärmenden Hauchen, die weither aus dem Tal der Dordogne aufstiegen, die Busch und Wiese streichelten, mein Haar und das Fell der Hunde, und vom großen patriarchalischen Wind, der am Tag wie in den Nächten über die Höhen hinging, von den Monts Dômes über die Berge der Margeride bis hin zu den Causses und weiter zum südlichen Meer, schiebend und drängend, immer darauf bedacht, zu ebnen: die Senken zu füllen und die Zinnen zu schleifen.
Erfahrungen in der Corona-Zeit
Seit 1999 gibt es eine Tradition von Inspirationswanderungen, bei denen mehrere Gruppen in verschiedenen Ländern zu jedem der vier großen Jahresfeste – Weihnachten, Ostern, Johanni und Michaeli – sich auf den Weg machen. Bei diesen methodisch schon seit über 40 Jahren weiterentwickelten Wanderungen wird versucht, in meditativer Langzeitaufmerksamkeit zu imaginativen, inspirativen und intuitiven Erfahrungen der evolutionären Aktualisierungsversuche der geistigen Welt zu kommen. In der Corona-Zeit wurden dabei interessante neue Phänomene erlebt, die hier mitgeteilt werden sollen.
Am 24. Juli 2015 stieg ich mit Katharina Mayumi Okamura auf Japans schönsten und höchsten Berg, den Fuji, im Deutschen auch als Fujiyama bekannt, der sich 3.776 Meter über den Meeresspiegel erhebt, um von dort am Morgen den Sonnenaufgang zu sehen. Lange vorher schon, als die ersten Ideen zu meiner ersten Japanreise im Gespräch mit meinen Freunden Emi und Kazuhiko Yoshida bewegt wurden, sprach ich von meinem Wunsch, diesen meiner Ansicht nach schönsten aller Berge zu besteigen. Damals erfuhr ich, dass man den Aufstieg gut an einem Tag schafft und oben auch übernachten kann.
Der rein physikalische Akt des Fotografierens hat für die Lebenssphäre einer Landschaft stets etwas Ruinöses. Die Betätigung des Auslösers und damit verbundene Fixierung des Abbildes (gleichviel ob auf einem Chip oder einem Film) ertötet etwas in der Landschaft. Es wird etwas von den Lebenskräften herausgerissen, pulverisiert. Die Landschaft fühlt sich dann wie durchlöchert an. Wie ein Gewebe, in das mit einem Luftgewehr kleine Löcher hineingeschossen wurden. Dessen muss man sich als Fotograf bewusst sein – und der daraus resultierenden moralischen Verantwortung.
Als Hegel vor den Schweizer Gletschern stand, war er nicht allein. Es gab aber noch gar nicht so viele vor ihm, die sich so weit zu Fuß vorwagten. In einer verkürzten Mentalitätsgeschichte und mit Betrachtung individueller Erlebnisse möchte ich versuchen, den Gefühls- und Empfindungshorizont gegenüber der Alpenwelt in Übergängen aufzuhellen. Wir folgen der Entwicklung eines neuen Sinns, dem Alpen- und Landschaftssinn, der Entdeckung eines neuen Gefühls, dem Heimweh, und dem Aufkommen der Touristen.
Annäherungen an die deutsche Volksgeistigkeit zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys
Die Stadt Utrecht in Holland war im 7. Jahrhundert ein Zentrum der iroschottischen und später der angelsächsischen Mission. Der Heilige Willibrord wirkte hier und wurde der erste Bischof von Utrecht. Bonifatius, der Willibrord aus England kannte, lernte bei ihm, als er seine Missionstätigkeit auf dem Kontinent begann. Die Friesen nördlich und nordöstlich von Utrecht, die sich lange der Christianisierung widersetzten, wurden von hier aus missioniert. Bonifatius – damals noch unter seinem Geburtsnamen Winfried – begann 716 in Utrecht seine Missionstätigkeit und beendete sie auch dort. 754 fand er, der als Apostel der Deutschen verehrt wird, bei Dokkum in Friesland einen gewaltsamen Tod. In Utrecht traf ich auch vor einiger Zeit einen 90-jährigen ehemaligen Waldorflehrer, der die Überzeugung vertrat, dass man, ohne die Bonifatius-Geschichte und die Bedeutung der Iroschotten im 6., 7. und 8. Jahrhundert zu kennen, die Verehrung Adolf Hitlers, dessen Machtergreifung und das nationalsozialistischen Terrorregime nicht verstehen könne. Damit sprach er etwas aus, das in meiner Seele lebte, und ermöglichte mir, meine Gedanken zu diesem Thema darzustellen.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Anmerkungen zur ›Straßenbahnhaltestelle‹
Die Menschheit wandert. Ihre Vorhut geht einem spirituellen Zeitalter entgegen. Hinter ihr liegt eine lange Epoche des Schweigens der geistigen Welt. In der oft entsagungsvollen Stille konnte das freie Selbstbewusstsein des Individuums heranreifen. Die allgemeinen Menschenrechte wurden schließlich proklamiert, aber sie sind längst nicht weltweit etabliert, geschweige denn gesichert und deshalb überall bedroht. Tatsächlich ist gegenwärtig das ganze Leben des Planeten und der Menschheit gefährdet. Eine Bewältigung dieser Gefahr kann von einem Erwachen zur nächsten an die Sinneswelt angrenzenden übersinnlichen Welt erhofft werden – doch das wird keinesfalls einfach sein.Mit neunzig Jahren hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas unlängst ein über anderthalbtausendseitiges zweites Hauptwerk veröffentlicht. Es behandelt das Verhältnis von Glauben und Wissen und repräsentiert das erwachte Selbstbewusstsein des Individuums. In jener Epoche, in der dieses Bewusstsein stark geworden ist, klaffte der Graben zwischen Glauben und Wissen immer weiter auseinander. Künftig wird er dadurch überwunden werden, dass anstelle des Glaubens zunehmend die spirituelleErfahrung treten wird. Die Geisteswissenschaft hat dazu die Grundlage geschaffen. Aber die Übergangszeit wird lange währen. Was Habermas immer noch in der Philosophie ist, war seinerzeit der acht Jahre ältere Beuys in der Kunst: Ein weltweit wirkender gebürtiger Deutscher. Beide stehen für die Aufgabe, jenes Denken und Tun voranzubringen, das einen Übergang zur nächsten Menschheits-Epoche in Freiheit ermöglicht.
Über das Werden einer neuen Menschheit
Die Vorträge, die Rudolf Steiner über karmische Zusammenhänge im Jahre 1924 gehalten hat, stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur werden darin einzelne schicksalhafte Beziehungen von der Vergangenheit her bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhundert aufgerollt, sondern wir werden auch mit Fragen konfrontiert, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen. Das ist vor allem der Fall, wenn wir an das gegenwärtig verstärkte, evolutionswidrige Erwachen von Rasseninstinkten und Nationalismen denken oder an die angestrebten, technisch veränderten biologischen Lebensformen wie den Cyborg oder an den viel diskutierten Transhumanismus. Denn in diesen Vorträgen geht es auch um die Stellung des Sonnenerzengels Michael bei der Frage der Bildung einer neuen Menschheit, jenseits des luziferisch inspirierten Rassismus oder Nationalismus und ahrimanischer Zukunftsvisionen. Ersterer ist Erbe einer vorindividuellen Seelenentwicklung und letzteres die Vorschau einer entindividualisierten Menschheit.
Ein Hinweis auf den anthroposophischen Kabbala-Forscher Ernst Müller
Dass Rudolf Steiner ein außerordentlich positives Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern hatte, ist durch das Beispiel der beiden Stuttgarter Anthroposophen Carl Unger und Adolf Arenson weitläufig bekannt. Beide waren säkularisierte Juden, die wegen ihrer intellektuellen und philosophischen Begabungen schon in den frühen Jahren der anthroposophischen Arbeit Steiners Anerkennung und im Falle von Unger eine anhaltende, intensive Förderung erfahren haben. Beide waren überdies als Redner für die Verbreitung der Anthroposophie umfassend tätig. Während Unger nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den wissenschaftlichen Kongressen der anthroposophischen Bewegung sprach, bemühte sich Arenson vor allem um die Erschließung des Vortragswerkes Rudolf Steiners. Unger publizierte überdies im Laufe seines Lebens zahlreiche philosophische Werke, die eine eigenständige Erschließung der Anthroposophie zum Ziel hatten und von Rudolf Steiner geschätzt wurden. Weniger bekannt ist hingegen, dass Rudolf Steiner auch religiöse Juden zu seinen Schüler zählte, die er ebenso förderte, und zwar im Hinblick auf die Erforschung des esoterischen Judentums, insbesondere der Kabbala. Um die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit einem solchen Schüler, dem aus Wien stammenden Ernst Müller, soll es im Folgenden gehen.
Über die Anthroposophie, das Judentum und Israel
Die Anthroposophie setzt beim anthropos an. Der Mensch steht in ihrem Zentrum – und im Zentrum des Menschen sein Ich. So einzigartig dieses ist, so einzigartig können auch die Haltungen jener Individuen sein, die sich mit Rudolf Steiners Werk und seinem geistigen Erbe – bald hundert Jahre nach seinem Ableben – befassen. Das Ich, schreibt Steiner, lebt in der Seele; diese vermittelt ihm über die Sinneswahrnehmung die äußere Welt. Wahrnehmungen sind aber in ihrer seelischen Verarbeitung auch von kollektiven Konventionen geprägt. Die Individualpsychologie ist kein hermetisches Revier, ebensowenig wie die Prägung des individuellen Umgangs mit Spiritualität. An ihren Rändern bestehen fließende Übergänge zur Sozialpsychologie, zur Meinungsbildung und zum Verhaltensstil von Kollektiven. So entstehen persönliche Bezüge zur Anthroposophie, die von in einer Gemeinschaft gängigen Haltungen und kulturellen Konventionen beeinflusst und gestaltet sind.
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele « anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe, oderden US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht. Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Rassismuskritische Hermeneutik der Anthroposophie
Es war eine bemerkenswerte Intuition, welche die deutsch-iranische Komikerin Enissa Amani dazu brachte, als Reaktion auf den unsäglichen WDR-Talk ›Die letzte Instanz‹ vom 29. Januar 2021 ein eigenes Fernsehformat aus dem Boden zu zaubern und über ›Youtube‹ anzubieten. Nicht nachhallende Kritik an der Tatsache, dass in besagter Talk-Show Vertreter der Mehrheitskultur verständnis- und geschmacklos über diskriminierungssensible Themen palaverten, sollte es sein. Nein, etwas Konstruktives: ein Gespräch mit profilierten Vertreterinnen und Vertretern von Minderheitskulturen, deren Stimmen an solcher Stelle allererst gefragt sind. Die Sendung wurde, auf diesen Anlass anspielend, kurzerhand und selbstbewusst ›Die beste Instanz‹ betitelt. Wofür dieser Vorgang und diese Sendung ein Exempel bot, das war, ein Feld der Lernerfahrungen und der Bewusstwerdung von Haltungen und Urteilsgewohnheiten zu schaffen, die unsere Mehrheitskultur durchziehen und die besonders sensibel in Schulen, im öffentlichen Leben und in jeder Begegnung zwischen Menschen wirksam sein können.
Vom Umgang mit Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfen gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie
»Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken.« – Dieses Zitat stammt aus der ›Stuttgarter Erklärung‹ von 2007, in welcher sich der Bund der Freien Waldorfschulen von den vermehrt seit der Jahrtausendwende gegen die Anthroposophie erhobenen Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen distanziert. Doch während das Demonstrieren eines Problembewusstseins manchen Anthroposophen progressiv bis revolutionär erscheinen mag, nimmt sich dieses in der Außenwahrnehmung bestenfalls wie ein halbherziges, nur auf externen Druck zustandegekommenes Minimalzugeständnis aus. Daran ändert auch die im November 2020 neu aufgelegte Fassung mit entsprechend geschichtssensiblen Nachjustierungen nicht viel: Die »vereinzelten Formulierungen« seien demnach von »einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt«– eine Lesart des kleinsten gemeinsamen Nenners also, welche die Bereitschaft der Verfasser signalisiert, die Entstehung des Steinerschen Werkes in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext zu verorten, in dem weite Kreise des europäischen Bildungsbürgertums ganz selbstverständlich von der eigenen Überlegenheit ausgingen und Erklärungsmuster, welche Völker und Kulturen nach bestimmten Merkmalen hierarchisierten, über die Grenzen des politisch rechten Lagers hinaus das Bewusstsein vieler bestimmten.
Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität
Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.
Eine Betrachtung zu der Auseinandersetzung um das Buch ›Covid-19: The Great Reset‹
Zu diesen Ausführungen sind auch drei Videos vom Autor vorhanden. Siehe unter Aktuelles/Blog.
Annäherungen an Poetologie, Sprache und Aktualität Paul Celans im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags
Den äußeren Anlass für diesen Aufsatz bilden der 100. Geburtstag Paul Celans am 23. November und sein 50. Todestag am 20. April in diesem Jahr. Den inneren Anstoß gibt die unausweichliche Aktualität seines Werks. Ich werde dieser Aktualität vor allem unter dem Aspekt von Celans werkimmanenter Poetologie und Sprachauffassung nachgehen. Zweifelsohne gibt es auch Themen in Celans Lyrik, von denen aus sich im Jahr 2020 Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Aktualität herstellen lassen. Auch wenn die thematischen Aktualitäten besorgniserregend genug sind, möchte ich doch die poetologischen Implikationen vorziehen, weil mir scheint, dass deren spirituelle Dimension alle anderen Aktualitäten umfasst und sie in ihr gut aufgehoben sind. Mit dieser Akzentuierung berühre ich erkenntnistheoretische und rezeptionelle Fragestellungen grundlegender Art, die mit der Frage nach den möglichen Zugängen zu Celans Gedichten unmittelbar verbunden sind.
Der wissenschaftliche Weg zum geistigen Schauen. Zur Rehabilitierung von Herbert Witzenmann
Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bewegt viele Gemüter im Zusammenhang mit dem Professoren-Trio Hartmut Traub, Helmut Zander und Christian Clement. Diese kleiden ihre Arbeiten in einen traditionellen, weil materialistisch verstandenen Wissenschaftsbegriff, der ihnen den wirklichen Ausblick zum Selbstverständnis der Geisteswissenschaft versperrt. Hier sei u. a. dazu ein kurzer Abriss der Arbeit von Herbert Witzenmann vorgestellt, der in seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiner nicht nur interpretiert, sondern dessen methodologischen Leistungen verfeinert, vertieft und um wesentliche Beiträge ergänzt hat.
Der »Ausbruch« des Virus als »Einbruch« in unser Bewusstsein
Wenn mir jemand zum Jahreswechsel 2019/20 gesagt hätte, dass in wenigen Wochen die Regierungen weltweit Kontaktsperren ausrufen würden, dass man Ländergrenzen, Schulen, Läden, Restaurants, Büros, Betriebe und Klubs schließen würde, und dass sich über die Medien eine täglich erneuerte Flut von Angst über die Menschen ergießen würde – wegen eines Virus, der Krankheit und Tod bringen soll, millionenfach; wenn mir jemand gesagt hätte, dass jedes Hinterfragen des Virus-Geschehens ignoriert oder als .Verschwörungstheorie. gebrandmarkt werden würde; wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich hier in Deutschland eigenartig vermummten Gestalten begegnen würde, die einander auf der Straße ausweichen und auf Abstand bleiben; wenn mir jemand gesagt hätte, dass von der Politik isolierte Alte vor Einsamkeit den Selbstmord wählen würden, so wie jene, die sich aus Angst vor der Krankheit umbringen; wenn mir dies jemand gesagt hätte: Ich hätte es ihm nicht geglaubt. Ich hätte ihn wegen seiner wilden, abstrusen Phantasie verlacht und keine Minute über seine Prophezeiung nachgedacht.
Vom ewigen Namen des Menschen
In den Märztagen des Jahres 1925 verfasste Rudolf Steiner für die Zeitschrift ›Das Goetheanum‹ seine letzten Beiträge zu zwei Artikelserien, die später in Buchform erschienen: seine Autobiografie ›Mein Lebensgang‹ und die als Anregung für die geisteswissenschaftliche Arbeit im Rahmen der 1923 zu Weihnachten neugegründeten Anthroposophischen Gesellschaft gedachten ›Anthroposophischen Leitsätze‹. Beide Werke – das erste von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Ursprungs der Anthroposophie, das zweite für ihre geisteswissenschaftliche Vertiefung – blieben Fragment. Ist die Autobiografie besonders der Vergangenheit verpflichtet, so gipfeln die Leitsätze in einer Zukunftsperspektive, die inzwischen längst Gegenwart geworden ist.
In Gegenwart einer Apokalypse
Philosophie wird nur dann eine sinnvolle Zukunft erleben, wenn sie in Zeiten der Krise jenseits aller einlullenden Diskurse jene Fragen mutig zuspitzen wird, die das Menschsein in seinen lichtvollen Höhen und warmen Tiefen offenbaren können. Gerade in unserer Gegenwart, die das Menschliche in die Hölle einer hypertechnisierten, alle seelischen sowie geistigen Höhen und Tiefen gleichschaltenden Überwachbarkeit immer mehr zu versenken scheint, ist Philosophie zu jenem Redemut und jener Redefreiheit, zu jener parrhesía zutiefst verpflichtet, die Sokrates urbildhaft mit der authentischen Sorge um den Menschen als geistiges Wesen verband. Dabei geht es nicht darum, rhetorische Anklagen zu erheben, sondern – im Zusammenklang mit Sokrates – wohlwollend streng und provokant zu Fragen anzuregen, die Schwellen zu einer durch Freiheit und Liebe getragenen Verwandlung des Bewusstseins, d.h. – Rudolf Steiners Ausdruck aufgreifend – zur moralischen Phantasie öffnen können. Es geht, anders gesagt, um die Menschenwürde, deren Beachtung in der physischen, seelischen und geistigen Begegnung mit allen Menschen – selbstverständlich auch mit denen, welche die Menschenwürde ausblenden oder sogar vernichten möchten – als goldener Keim der stimmigen Gemeinschaftsbildung wirkt.
Rekonstruktion und Reflexion von Hannah Arendts Machtbegriff
Erschließung und Popularisierung von Hannah Arendts Lebenswerk gehen seit Jahren Hand in Hand: 2020 widmet ihr das Deutsche Historische Museum in Berlin die Ausstellung ›Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert‹; 2018 avanciert ihr posthum veröffentlichter Essay ›Die Freiheit, frei zu sein‹ zum Bestseller, außerdem erscheint der erste von bisher drei und insgesamt 17 geplanten Bänden der ›Kritischen Gesamtausgabe‹; 2012 macht Margarethe von Trottas Spielfilm ›Hannah Arendt‹ sie einem Millionenpublikum bekannt. Im Folgenden wird mit dem Machtbegriff ein zentraler Topos des Arendt’schen – und abendländischen – Denkens erhellt und angedeutet, dass Arendts Machtverständnis Teil einer Freiheitsphilosophie ist, deren Radikalität Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ in nichts nachsteht.
Zur Aktualität von Günther Anders
»›Daß es von Natur aus diskrete Einzelwesen gibt, das ist zwar ein bedauerlicher kreatürlicher Defekt, und diesen abzuschaffen, werden wir vermutlich niemals fähig sein. Aber darüber zu verzweifeln, liegt kein Grund vor. Einzelwesen sind so wenig Lücken in unserem totalen System, wie Sieblöcher Lücken im Siebe sind. Obwohl nicht aus Siebmaterial bestehend, funktionieren diese doch als Teile des Siebs, sogar als dessen wichtigste. Und irgendetwas zu leisten, was ihnen nicht durch Größe, Stoff und Form des Siebs diktiert wäre, sind und bleiben sie außerstande.‹ Aus dem molussischen ›Lehrbuch des Konformismus‹« – Günther Anders: ›Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II – Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution‹, (München 2018), S. 145. Dieses einprägsame Bild stellt der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders als Motto einem der Essays in seinem Hauptwerk ›Die Antiquiertheit des Menschen‹ voran. Damit schlägt er ein Thema an, das ihn zeitlebens umtrieb: die Gleichschaltung der Menschen in einem konformistischen System.
Gegenwärtige und zukünftige Aufgaben der Michael-Schule
Alles in unserer Welt beruht auf der Sieben. Die ganze Evolution ist von Siebener-Prozessen durchdrungen. Das kann man im Kleinen wie im Großen beobachten – sehr schön z.B. an den Wochentagen. Der Reigen der Wochentage geht ständig, sich zyklisch wiederholend, durch sieben Qualitäten hindurch. Man kann phänomenologisch beobachten, dass ein Sonntag eine andere Qualität hat als ein Montag, dass dienstags anderes möglich ist als mittwochs, dass ein später Samstagabend sich anders anfühlt als ein Donnerstagmorgen usw. Die Wochentage hängen mit den sieben Planeten zusammen. Man kann den Eindruck haben, dass jeder Tag von einem anderen Planeten durchtöntwird. Am Sonntag erklingt die Sonne; montags schafft der Mond mit; dienstags wirkt der Mars ein; mittwochs ist Merkur zu erleben; am Donnerstag der Jupiter; freitags erstrahlt die Venus, und am Samstag haben wir es mit dem Saturn zu tun. Da allem in der Welt etwas Wesenhaftes zugrunde liegt, kommen wir schlussendlich zu sieben Geistwesen oder Planetengeistern. Der vielleicht bekannteste von diesen ist der Sonnenerzengel Michael. Er ist Teil einer geistigen Siebener-Gemeinschaft, sozusagen eines kosmischen Siebenerkreises. Und so wie der Sonntag ein Tag der Woche ist, darauf aber sechs andere folgen, so kann auch Michael nur im Zusammenhang mit den anderenführenden Erzengeln verstanden werden. Diese sind: Gabriel, Samael, Raphael, Zachariel, Anael und Oriphiel.
Eurythmie und kosmische Intelligenz
Mit der Eurythmie, die durch meditative Arbeit vertieft wird, kann sich der Übende oder eine Gemeinschaft mit der Geistwelt verbinden. Die Räume, die sich öffnen, sind wesenhaft erlebbar. Geistgespräche mit Individualitäten, die über die Schwelle gegangen und intime Erlebnisse im Zusammenhang mit Geistwesen sind Ambrosia und Nektar, die das Leben verwandeln, den Übenden stärken und wegweisende Hilfestellungen vermitteln. Die Zusammenarbeit mit der Geistwelt wird Realität. Rudolf Steiner macht uns in seinem Gesamtwerk auf diese Logos-Kräfte aufmerksam. Davon sprechen die folgenden Zeilen.
und die sechs Eigenschaften der Übung »Ich denke die Rede«
Viel wird vom Herzen geschrieben, vom Herzen gesprochen. Gerade weil das Herz weit mehr ist als das, was wir als physisches Organ in uns tragen, sprechen wir von ihm. Es ist auch viel mehr als das, was wir in unserer Mitte als Quell und Schale erleben können. Ätherisch betrachtet ist es so groß wie der ganze Organismus des Blutkreislaufes. Geistig gesehen ist das Herz die Schwelle in uns. Bereits physiologisch tritt diese Tatsache dadurch in Erscheinung, dass sich im Herzen der Lungenblutkreislauf und der Blutkreislauf des übrigen Organismus begegnen. Der eine Blutkreislauf kommt aus der Weite der Lunge – würde man dieses Organ entfalten, hätte es eine Fläche von 80 bis 100 m² –, der andere Blutkreislauf kommt zurück aus unserem Handlungs-, unserem Tätigkeitsmenschen. Der eine empfängt – physiologisch betrachtet – Sauerstoff, der andere schafft und wirkt in die Welt hinein. (Mit »Welt« meine ich nicht nur unsere sichtbare Welt, sondern Welt überhaupt, auch die Gedankenwelt, oder die Welt der seelischen Tätigkeit.)
In einem kürzlich erschienenen Artikel ging es darum, zu zeigen, wie eine Meditation aussehen kann, deren Grundlage darin besteht, einen Gedanken in einer Anzahl von seelisch-geistigen Entwicklungsschritten aufzubauen und zu durchleben, und die dann in den Meditationssatz mündet: »Ich fühle mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens.« Deutlich konnte daran werden, und kann jedem werden, der das erste Kapitel in Rudolf Steiners ›Die Schwelle der geistigen Welt‹ in entsprechender Art und Weise meditativ vertieft, wie die Seele mit dem Denken, dem Vertrauen zu dem Denken und mit dem Gefühls,- Affekt,- und Willensleben Erfahrungen macht, die an Intensität und Vielfalt dem gleichkommen oder sogar das übertreffen, was sonst nur durch die Außenwelt auf sie zukommt.
Elisabeth Vreede und die Verbindung der Sternenwelt mit dem Sonnenwesen der Philosophie
Anthroposophie ermöglicht, hinter vielen Rätseln, welche die Menschheit in ihrem Umgang mit der Natur und mit sich selbst bewegen, die mehr oder weniger bewusste Frage nach einem wirklichkeitsgemäßen Verhältnis zum Christus zu entdecken. Eine befriedigende Antwort kann dafür nur in der geistigen Verbindung des realen Menschenlebens mit dem fortwirkenden Zentralereignis der kosmisch-irdischen Evolution und der Menschheitsgeschichte, d.h. mit Leben, Tod und Auferstehung Christi als einer »mystischen Tatsache« gefunden werden. Für Elisabeth Vreede war das die wichtigste Grundlage für die methodische Erneuerung aller Wissenschaften, insbesondere auch für Astronomie und Kosmologie. In Anknüpfung an den im Dezemberheft dieser Zeitschrift erschienenen Artikel soll dies an einem konkreten Beispiel erläutert werden.
Zum Hintergrund der Entdeckung des Elektromagnetismus 1820
Am 21. Juli 1820 ging von Kopenhagen aus ein Lauffeuer durch die wissenschaftliche Welt Europas. Durch seine kleine Schrift ›Experimenta circa effectum conflictus electrici in acum magneticam‹, die er an ausgewählte, vor allem jüngere Kollegen in Europa gleichzeitig verschickte, regte Hans Christian Ørsted viele – u.a. André-Marie Ampère (1775–1836) in Frankreich, Thomas Johann Seebeck (1770–1831) in Deutschland und Michael Faraday (1791–1867) in England – zur Nachprüfung und zu weitergehenden Experimenten an. Sieben Jahre später stellte Ørsted fest, dass weit mehr als 100 Wissenschaftler schon zum Thema Elektromagnetismus geschrieben hatten.
Die Schöpfung aus dem Nichts
Die Menschheit befindet sich an einer Bewusstseinsschwelle, die in Krisenzeiten besonders deutlich erlebbar ist. Alte Verhaltensmuster und neue, zukunftsorientierte Denkansätze ringen miteinander, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt zu überwinden. Die vielen »sinnvollen Zufälle«, die uns im Alltag passieren und zwischen Ich und Welt vermitteln, waren bereits im 20. Jahrhundert gemeinsames Forschungsthema von Wolfgang Pauli und Carl Gustav Jung. Der Nobelpreisträger für Physik und der Tiefenpsychologe zeigten in ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit, dass es sich bei solchen »Synchronizitäten« um individuelle Schöpfungsakte handelt, die Zukünftiges in der Gegenwart erscheinen lassen. Rudolf Steiner nannte dies die »Schöpfung aus dem Nichts«.