Ein geistesgeschichtlicher Bogen von Aristoteles über Francis Bacon zu Rudolf Steiner
In einem Vortrag von 1910 entwickelte Rudolf Steiner eine eigentümliche, viergliedrige, symbolische Darstellung der menschlichen Seele: Zwei aufeinander zulaufende Pfeile in der Horizontalen, zwei in der Vertikalen, das Ganze umschlossen von einem Kreis. Dabei repräsentiert der eine der beiden horizontalen Pfeile (von links) die Erinnerung, durch welche die vergangenen Eindrücke in das gegenwärtige Seelenleben hereingetragen werden, der andere (von rechts) das »Begehren«, womit Rudolf Steiner das Gefühlsleben meinte, das sich auf Zukünftiges bezieht (Angst. Hoffnung. Vorfreude, im weiteren Sinne Sympathien und Antipathien). Senkrecht von oben wirkt in der Seele die Aktivität des Ich, welcher die Sinneseindrücke senkrecht von unten entgegenstehen. Die beiden horizontalen Pfeile zeigen die zeitliche Einbettung der Seele zwischen Vergangenem (Erinnertem) und Zukünftigem (»Begehrtem«), während das Ich gleichsam von »oberhalb« des Zeitstroms, aus dem Geistigen in die Seele hineinwirkt, und die Sinneseindrücke immer (nur) im Hier und Jetzt auftreten, also ebenfalls keine eigene Zeitlichkeit an sich tragen.
und die Inspirationsquellen der Anthroposophie
Martin Basfeld, der am 12. Oktober 2020 überraschend verstarb, arbeitete in den letzten Monaten seines Lebens intensiv an einem bedeutenden Artikel zu den fünf >lnspirations-quellen der Anthroposophie^ Angeregt von dem gleichnamigen Büchlein Sigismund von Gleichs wollte er zeigen, dass es einen geradezu spiegelbildlichen Zusammenhang zwischen der Baconschen Lehre von den Idolen und den fünf Inspirationsquellen gibt, und zwar in der Weise, dass diese Idole heute in verwandelter Form in Einrichtungen - auch in anthroposophischen - wieder Einzug gehalten haben. Das Anliegen dieses Artikels ist zweierlei: Zum einen mithilfe der Erkenntnisintention seines bislang unveröffentlichten Aufsatzes Martin Basfeld noch einmal »zu Wort kommen zu lassen«. Zum anderen auf der Grundlage seiner Ausführungen zu entwickeln, wie das Erkennen dieser Gegenimpulse dazu führen kann, einen neuen Zugang zu den Impulsen der Michael-Schule zu finden, die zu realisieren mit der Weihnachtstagung I923 angestrebt wurde.
und die Lehre von den Idolen nach Francis Bacon
Dieser Artikel wurde von Martin Basfeld vor seinem Tod am 12. Oktober 2020 verfasst. Da er seinen Artikel noch nicht als veröffentlichungsreif angesehen hat, hatte er ihn als »nur für den privaten Gebrauch!« gekennzeichnet. Da der Artikel sehr wesentliche Gedanken zur Frage der anthroposophischen Bewegung enthält, wird er in Zusammenhang mit einer überarbeiteten Verfassung von Stephan Eisenhut hier dokumentiert. Die leicht redigierte Pdf-Datei der Originalfassung hat Ute Basfeld mit Arbeitsnotizen ihres Mannes und einer Sammlung wichtiger Aussagen zum Thema ergänzt und der Redaktion zur Verfügung gestellt.
Wie sind sie zu verstehen?
Aus der Zeit vor der Jahrhundertwende gibt es mehrere Äußerungen Rudolf Steiners, die - in zum Teil recht heftiger Weise - gegen das Christentum gerichtet zu sein scheinen. In seiner Autobiografie erklärt er, was für ihn der Anlass dazu war: »Im Widerspruch mit den Darstellungen, die ich später vom Christentum gegeben habe, scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals niedergeschrieben und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei kommt das Folgende in Betracht. Ich hatte, wenn ich in dieser Zeit das Wort »Christentum« schrieb, die Jenseitslehre im Sinne, die in den christlichen Bekenntnissen wirkte. Aller Inhalt des religiösen Lebens verwies auf eine Geistwelt, die für den Menschen in der Entfaltung seiner Geisteskräfte nicht zu erreichen sein soll. Was Religion zu sagen habe, was sie als sittliche Gebote zu geben habe, stammt aus Offenbarungen, die von außen zum Menschen kommen. Dagegen wendete sich meine Geistesanschauung, die die Geistwelt genau wie die sinnenfällige im Wahrnehmbaren am Menschen und in der Natur erleben wollte.« Es gibt Autoren, die diese Erklärung Rudolf Steiners nicht für alle seine Aussagen gelten lassen wollen: Einzelne Formulierungen, so wird behauptet, ließen sich nicht anders verstehen, als dass er doch das Christentum als solches damals gemeint habe.
Betrachtungen zum Lebensgang Rudolf Steiners II
Steiner beginnt den Blick auf seine Kindheit mit der Herkunft seiner Eltern. Beide. Mutter und Vater, stammten aus der gleichen Gegend.2 Darin waren sie sich ähnlich. Der Bezug zu Landschaft und Milieu prägte und bestimmte sie. Im österreichischen Waldviertel waren sie verwurzelt. Als ihr Leben sich rundete, kehrten sie wieder dorthin zurück.Das Verhältnis zwischen einem durch irdische Bedingungen und geistige Intentionen bestimmten Lebensweg, die Spannung zwischen physischer und geistiger Biografie, ist für die menschliche Existenz ein Leben lang thematisch. Ob man sich gedrängt fühlt, dort zu leben und zu arbeiten, wo man auch zur Welt kam. oder ob die Tätigkeit einen an die unterschiedlichsten Orte auf der Welt führt, ob innere oder äußere Beweggründe den Anlass geben zur Führung des eigenen Lebensweges, sagt immer auch etwas aus über das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Existenz. Ist mit der Herkunft das Vertraute. Bekannte und Gewohnte verbunden, ein Lebenszusammenhang, der Sicherheit verheißt und der in diesem Sinne für das Alte und das Vergangene steht, so verheißt Fremde das Neue. Seine Unvorhersehbarkeit zielt auf die inneren Gestaltungskräfte der Seele und deren Wirksamkeit. Freilich handelt es sich dabei nicht um normative Aspekte biografischer Entfaltung. Die entscheidende und im eigentlichen Sinn ortsunabhängige Frage zielt letztlich auf das Maß der Verursachung einer eigenständigen Lebensführung durch das eigene Ich. Wird es vom Gegebenen, sei dies innerer oder äußerer Natur, überformt oder gibt es sich selbst und dem Leben Form und bildet auf diese Weise in der Zeit eine zweite Natur?
Immer wieder neu stehe ich tief erschüttert vor dem unfassbaren Wunder von Rudolf Steiners Erdenwirken. Es ist das umfangreichste Werk, das jemals ein Mensch hinterlassen hat. Nicht ein einziger Gedanke, ein Satz oder eine Tat finden sich darin, die Rudolf Steiner eigennützig für sich selbst intendierte: Es ist ein reines Geschenk. Es stellt die Philosophie erstmals seit Plato und Aristoteles auf eine ganz neue Grundlage; es beantwortet die tiefsten Lebens- und Daseinsfragen der Menschheit in einer modernen, nachvollziehbaren Weise. Was ist der Mensch? Woher kommt die Welt? Was ist die Natur? Warum ist alles entstanden und wohin wird es führen? Wie verstehen wir Christus? Es inspiriert neue Künste, die Eurythmie, Sprach- und Theaterkunst, Malerei, Plastik, Architektur, und eine neue Praxis in Pädagogik, Heilpädagogik, Medizin, Landwirtschaft, christlicher Kirche und vielen anderen Lebensbereichen.
Zu Andreas Laudert: ›Unter den Augen des Himmels‹
Ein persönliches Buch über Steiner; und eine persönliche Rezension. Ich habe es gerne gelesen. Mit den Augen des Himmels durfte ich es lesen. Manchmal gingen meine Augen über – zu einem anderen Buch oder auch von Rudolf Steiner, dessen Leben hier erzählt wird, zum Autor, Andreas Laudert. Sein Ringen, Suchen und Bejahen Steiners ist stets spürbar. Immer bezogen auf die Gegenwart erscheint hier Rudolf Steiner. So heißt es am Anfang über unser Heute: »Aber eines dürfte sehr wahrscheinlich sein: dass er Anteil nähme. Dass er, inkarniert oder nicht, interessiert wäre. Daran, dass gut werde, was er damals hatte mithelfen wollen zu erschaffen, zu begründen, zu leben: anthroposophia, ein gemeinsames Bewusstsein davon, was es heißt, Mensch zu sein.« (S. 23)
Zu Wolfgang Gädeke: ›Die Gründung der Christengemeinschaft‹
Drei Jahre nach seinem ursprünglich geplanten Erscheinungstermin liegt dieses Buch nun vor. Seinen enormen Umfang verdankt es einer Vielzahl von Dokumenten, die Wolfgang Gädeke zusammengetragen hat. Gädeke hat für die Christengemeinschaft jahrzehntelang als Gemeinde-Pfarrer und (für die Region Norddeutschland verantwortlicher) »Lenker« sowie als Autor gewirkt, und betätigt sich – verstärkt nach seiner Emeritierung – als ein mit Ausdauer und detektivischer Präzision arbeitender Sammler archivarisch relevanter Briefe, Berichte etc. sowie als Chronist. Schon lange vor dieser Publikation hat er intern vieles Neue und Erhellende zu den Vorgängen rund um die Gründungsereignisse zur Verfügung gestellt.
Erst-Begegnungen mit Rudolf Steiner I
In einem länglichen, blau ausgemalten Saal versammelte sich ein merkwürdiges Publikum: vorwiegend Damen, zumeist nicht ganz jung – viele trugen absonderliche hemdartige Kleider mit gerader Stola darüber –, auch hatten viele Ketten mit merkwürdigen Anhängern um den Hals. Doch auch da, wo Prätention sich geltend machte, konnte man keine geschmackvolle Erscheinung bemerken. Auffallend war der Mangel an Schminke. Sympathisch berührte vielfach ein menschlich warmer Gesichtsausdruck. Einen gemeinsamen Zug konnte man bei diesen Menschen empfinden: Es war kein zufälliges Publikum, sondern eine Gemeinschaft. Nur eine abseitsstehende Gruppe jüngerer Menschen schien weltlicher.
Seine Freundschaft mit der Schriftstellerin Gabriele Reuter (1859–1941)
Die Arbeit begann im zweiten Stock des Weimarer Schlosses, wo die Archivare am Anfang saßen, mit Blick auf den Ilmpark, das Wehr und die Kegelbrücke und auf das im Bau befindliche Goethe- und Schiller-Archiv, das jenseits der lim am Altenberg hoch über Weimar entstand, einem Prachtbau, der das Schloss Trianon in Versailles zum Vorbild hatte.Die Großherzogin Sophie (1824-1897) hatte, nachdem Walther von Goethe als letzter Nachkomme am 15. April 1885 verstorben war, den schriftlichen Nachlass seines Großvaters Johann Wolfgang von Goethe in Empfang genommen. Nach der Anhörung des Notars sprach sie würdevoll: »Ich habe geerbt. Deutschland und die Welt sollen mit mir erben.«Am 28. Juni 1896 wurde das neue Goethe-und Schiller-Archiv eröffnet. Der 35-jährige Rudolf Steiner war an diesem Tag dabei. Die Festrede hielt der damalige Direktor Bernhard Suphan (1845-1911). Steiner war Suphan auch privat verbunden, der in der Altenburg an der Jenaer Straße lebte. Um dessen beiden Söhne kümmerte er sich oft, denn Suphan war schon zum zweiten Male verwitwet.
Zu Alexander Schaumann: ›Kunst und Wahrnehmung‹
»Wo steht die Kunst der Gegenwart? Welche Zukunftsaspekte lassen sich entdecken?« (S. 8). Mit dieser Frage untersucht Alexander Schaumann die Kunst der Moderne von Vincent van Gogh bis zu Joseph Beuys und ihre Vorläufer in der jüngeren Geschichte. So ist sein Blick stets auf ein Anfängliches gerichtet, das sich auf individuelle Weise Ausdruck zu schaffen sucht, durch den spezifischen »›Griff‹ des Künstlers in sein Material«, der ihm zum »Zauberstab« wird (S. 9). Dessen Bedeutung erschließt sich nach und nach durch die Einbettung in einen übergreifenden Entwicklungsstrom.
Zu den Ausstellungen: ›Kosmos Blauer Reiter. Von Kandinsky bis Campendonk‹ im Berliner Kupferstichkabinett und ›Kosmos Kandinsky. Geometrische Abstraktion im 20. Jahrhundert im Museum Barberini Potsdam
Etwas Besonderes bietet das Berliner Kupferstichkabinett auf dem Kulturforum: Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Sammlung wird der eigene Bestand an Arbeiten des ›Blauen Reiters‹ Thema einer Ausstellung: ›Kosmos Blauer Reiter. Von Kandinsky bis Campendonk‹. Geprägt von vielfältigen Handschriften und künstlerischen Auffassungen, umfasst sie als Kern den Zeitraum von der Gründung des dem Expressionismus zugeordneten ›Blauen Reiters‹ durch Wassily Kandinsky (1866–1944) und Franz Marc (1880–1916) im Jahre 1911 bis zur Auflösung durch den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Kandinsky musste als feindlicher Ausländer Deutschland verlassen. Franz Marc fiel 1916 als Soldat an der Front.
Zum Film ›Like a Complete Unknown‹ von James Mangold
Diesem Film gelingt ein doppeltes Kunststück: ›Like a Complete Unknown‹ erzählt den Werdegang Bob Dylans in seinen frühen Jahren auf eine Weise, die zur zweifachen Zeitreise wird: vergegenwärtigte Vergangenheit, die sich inspirierend zukunftsoffen zeigt.
Über die Toten rede man nur gut?
Bild einer neuen Einweihung
Zu Johannes F. Brakel: ›Vom Paradies und seinem Ende‹ in die Drei 1/2025
Ein Grundmotiv des vorigen Heftes, erst einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und dann die Zukunft ins Auge zu fassen, klingt auf den folgenden Seiten vielfach fort. Unser erster Hauptartikel: ›Ich als leuchtende Sphäre‹ von Salvatore Lavecchia ist sogar eine direkte Fortsetzung seines Beitrags im vorigen Heft und setzt bei der Ich-Erfahrung der gegenwärtigen Jugend an, als deren Ideal unser Autor die Verwandlung der Menschheit in eine Ich-Gemeinschaft herausarbeitet. Wesentlich skeptischer blickt Irene Diet nach vorn. Ihrer Ansicht nach haben sich in den hundert Jahren nach Rudolf Steiners Tod zwei Gegenbilder zur Anthroposophie herausgebildet, die überwunden werden müssen, wenn diese ihrer Bestimmung gerecht werden soll.
Beobachtungsresultate und Gedanken eines 21-jährigen Studenten der Philosophie
Wer heutzutage an die Universität geht, wird bekanntlich die Kulmination der materialistischen Weltanschauung erleben. Dies trifft auf alle Fachbereiche, selbst – und vielleicht sogar besonders – auf die Philosophie, Geschichte, Psychologie und Theologie zu; also auf solche Wissenschaften, die sich eigentlich mit der menschlichen Seele und dem menschlichen Geiste auseinandersetzen sollten: Die sogenannten Geisteswissenschaften. Nun liegt jedoch im Wesentlichen der Materialismus in den Geisteswissenschaften nicht im Bereich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Themen, wie dies in der Physik, Biologie, Informatik oder Medizin der Fall ist, d.h. in der Erforschung rein materieller und vermeintlich materieller Phänomene bzw. bloß der materiellen Seite der Wirklichkeit. Nein, er findet sich vielmehr im Bereich des Wie, d.h. in der gesamten Art und Weise, mit der in den Geisteswissenschaften an Themen herangegangen wird und diese vermittelt werden. Deshalb thront selbstverständlich auch inhaltlich die materialistische Weltanschauung im Hintergrund und kommt immer wieder im Gewand einer völlig selbstverständlichen und unumstößlichen Wahrheit zum Vorschein.
Zum Gedenken an Ernesto Cardenal (1925–2020)
Am 20. Januar dieses Jahres wäre der nicaraguanische Dichter und Priester Ernesto Cardenal 100 Jahre alt geworden – Zeit, einen Blick auf sein Vermächtnis zu werfen. Als Cardenal 1966 mit zwei Freunden nach Solentiname ging, um auf einer Insel des Archipels im Nicaraguasee eine spirituelle Kommune zu gründen, war er in erster Linie Mönch und Mystiker. 1925 in privilegierten Verhältnissen im konservativen nicaraguanischen Granada geboren, besuchte er nach der Schule in León das Jesuitenkolleg in seiner Heimatstadt, studierte danach Philosophie und Literaturwissenschaft in Mexico-City und New York und unternahm Reisen u.a. nach Europa, bevor er 1950 heimkehrte und sich einer oppositionellen Jugendorganisation anschloss. Nach dem Scheitern der Rebellion von 1954 ging er erneut ins Ausland, trat 1957 ins Trappisten-Kloster Gethsemani in Kentucky ein, verbrachte dort zwei Jahre geistlicher Studien, studierte anschließend noch katholische Theologie in Mexico und Kolumbien und wurde im Priesterseminar im kolumbianischen Medellín selbst als Lehrer tätig. 1965 erhielt er in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua die Priesterweihe. Zwanzig Jahre später, im Jahre 1985, entzog Papst Johannes Paul II. ihm wegen fortgesetzter politischer Tätigkeit das Priesteramt.
Die Gegenwart der Jugend
»Welches Bild oder welchen Begriff verbindest Du augenblicklich – ohne darüber auch nur wenige Sekunde zu reflektieren – mit Deiner Erfahrung ›Ich bin Ich‹/›Ich Ich‹?«Diese Frage stelle ich seit mehreren Jahren möglichst jedes Mal am Beginn meiner Ausführungen, wenn ich in einer Schule – in Italien ist Philosophie in vielen Richtungen der Oberstufe Pflichtfach, und die Kollegien der Schulen kooperieren gerne und fruchtbar mit den Universitäten – oder in einem Anfängerkurs an der Universität mit den jungen Zuhörenden ein Thema vertiefen will, das mit der Philosophie des Bewusstseins, des Ich, des Selbst zusammenhängt. Und ich widme den Antworten stets mindestens 15 Minuten.Eine erfreulich schöne Überraschung sind, vom Anfang dieses »Experimentes« an, die mir geschenkten Antworten. Denn bisher hat in der Tat niemand mit der eigenen Ich-Erfahrung jenes Bild verbunden, das in herkömmlichen akademischen und außerakademischen Diskursen das Ich/Selbst betreffend vorausgesetzt wird. Niemand hat nämlich augenblicklich auf einen verortbaren Punkt innerhalb der eigenen leiblichen Gestalt hingewiesen, der sich als von der äußeren Welt abgegrenzt und in einer ausschließlich eigenen Erste-Person-Perspektive, gleichsam wie in einem Tunnel eingekapselt, empfinden würde; niemand hat bisher, anders gesagt, das Bild des Ich/Selbst als atomistisch verortbaren Punkt evoziert, von dem ausgehend so viele mehr oder weniger populäre wissenschaftliche, philosophische und spirituelle Ansätze der Ich-Erfahrung einen beschränkten Wert zuschreiben, sie mit einer zu überwindenden Perspektive verbindend. Als Beispiele der Bilder und Begriffe, die von den jungen Zuhörenden evoziert wurden, seien hier genannt: Ein Gesicht; eine warme und lichtvolle Leere; eine ungreifbare, jedoch positiv gegenwärtige Leere; Stille; ein (positives) Nichts; ein Kreis; eine Erfahrung des Innen und Außen zugleich. Das bisher interessanteste, komplexeste Bild wurde erst vor wenigen Wochen von einer Schülerin wirklich blitzartig wie folgt charakterisiert: »Eine leuchtende Sphäre!« – wobei die Schülerin diese Formulierung durch eine pulsierende Gebärde des Ballens und Spreizens mit den beiden Händen begleitete, mithin das Bild einer pulsierend leuchtenden, intrinsisch dynamischen Sphäre hervorrufend.
Das einhundertste Todesjahr Rudolf Steiners
Mit dem Jahr 2025 schließt sich endgültig der Reigen der 100-Jahresfeiern, an die wir uns schon so richtig gewöhnt hatten. Denken wir an 2002: einhundert Jahre nach dem Beitritt Rudolf Steiners zur Theosophischen Gesellschaft; oder 2013: einhundert Jahre nach der Gründung der Anthroposophische Gesellschaft und der Grundsteinlegung des Goetheanum; oder 2019: einhundert Jahre Dreigliederungsbewegung und Gründung der Waldorfschulen. Und so ging es weiter, sich steigernd, bis zur Jahreswende 2022/23, der Feier zum 100. Jahrestag des Goetheanum-Brandes, gefolgt von 2023/24: der Weihnachtstagung.
Nun aber sind wir an einem Ende angekommen: mit dem Jahr 2025, dem Todesjahr Rudolf Steiners. Von nun an werden wir keine 100-Jahres-Gedenken mehr feiern können, von nun an fällt der Rückblick auf eine 100-jährige Vergangenheit ins Leere. Dort, wo sich, Jahr für Jahr eine sich steigernde Fülle gezeigt hatte, ist nun – nichts mehr. Gleichsam wie ein leises Echo kann das Erleben der Zeitgenossen Rudolf Steiners, das für diese mit dem 30. März 1925 begann, auch in unsere Gegenwart hineinklingen. »Ein sonniger Frühlingstag war heraufgezogen, die Vögel jubilierten, die Natur feierte, aber wir waren in tiefem Schmerz und konnten nicht fassen, dass Rudolf Steiner gestorben war«, erinnerte sich Margarete Kirchner-Bockholt noch neununddreißig Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners. Die Natur jubilierte, für die Rudolf Steiner Nahestehenden aber begannen die dunkelsten und schwersten Jahre ihres Lebens. Kämpfe in einer unvorstellbaren Härte und Schärfe brachen in die Leere hinein, die Rudolf Steiner hinterlassen hatte. Es begann eine kollektive »Höllenfahrt«.
Ödön von Horváths Schlüsseldrama ›Pompeji‹
Wir leben auf einem Vulkan. Besonders in Süditalien, der Mitte des Mittelmeers, wo die Erde außerordentlich fruchtbar ist – durch frühere Katastrophen. Am Golf von Neapel, einer griechischen Kolonie (altgr.: nea polis = neue Stadt), verbrachten im ersten Jahrhundert n. Chr. – nachdem die Republikaner Roms die Oberhand über die Demokraten Athens gewonnen, den Senat entmachtet und unter Kaiser Augustus ein West und Ost umschließendes, autokratisch-bürokratisch regiertes Weltreich errichtet hatten – die vermögenden Römer ihren Urlaub. Unter ihnen auch Nero, der letzte Kaiser der von Augustus begründeten julisch-claudischen Dynastie, der nach dem Brand Roms eines seiner Feste mit Christen als lebenden Fackeln illuminierte. Der Ausbruch des Vesuv kurz nach seinem Tod im Jahre 79 n. Chr. ist bis heute im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig. Der Todesmoment von Menschen und Tieren, durch die Lava als Hohlraum konserviert, fasziniert wie die ägyptischen Mumien. Die Grabungen gehen weiter; 2023 ging das Bild eines Freskos um die Welt, das einen antiken Vorläufer der Pizza zeigt.
Eine Betrachtung des Bildes ›Juno und Argus‹ von Peter Paul Rubens
Mythen, Sagen und Märchen können oft als Schilderungen der Entwicklung des menschlichen Wesensgliedergefüges aufgefasst werden. Ein Beispiel dafür ist Argos (lat. Argus), dessen Empfindungsleib mit seinen hundert Augen riesig war. Seine Seelenglieder waren hingegen erst rudimentär vorhanden und wenig differenziert. Es wurde bereits gezeigt, wie der Riese hoffte, mit Hilfe von Hermes die Gemütsseele zu entfalten, und dafür auch Neues wagte. Doch Hera (lat. Juno) stellte sich entschieden dazwischen. Mit Hilfe des Bildes ›Juno und Argus‹ von Peter Paul Rubens wird im Folgenden den Absichten der Götterkönigin nachgespürt. Dabei entpuppt sich die Botin Iris als Schlüsselfigur. Die Vertiefung in das Kunstwerk kann zu einem erweiterten Verständnis des Imaginierens führen.
Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) und die Anthroposophie
Rudolf Steiner hat als Erster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Troxlers philosophisches Werk der Vergessenheit entrissen und wiederholt, mit eindringlichen Worten, auf das Prophetische seiner Ideen zum tieferen Erfassen des Menschenwesens hingewiesen. Er bezeichnete und charakterisierte den Schweizer Philosophen als Vorboten der Anthroposophie.Gleichermaßen gilt, dass es erst durch Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Sicht auf Troxler möglich wurde, dessen philosophische Gedankengänge in ihrer wahren Tiefe und Tragweite auszuloten, jenseits der sich das Geistige als bloß Gedanklich-Ideelles vorstellenden akademischen Hermeneutik sowie deren zukünftige Bedeutung als vergessene Strömung innerhalb des mitteleuropäischen Geistesstrebens zu würdigen. In seinen Büchern ›Vom Menschenrätsel‹ und ›Die Rätsel der Philosophie‹ sowie in mehreren Vorträgen – die allermeisten davon während dessen 50. Todesjahr 1916 – spricht Rudolf Steiner über Ignaz Troxler und sein geistiges Erbe.
Betrachtungen zum Lebensgang Rudolf Steiners III
»Eine wundervolle Landschaft umschloß meine Kindheit. Der Ausblick ging auf die Berge, die Niederösterreich mit der Steiermark verbinden: Der ›Schneeberg‹, Wechsel, die Raxalpe, der Semmering. Der Schneeberg fing mit seinem nach oben hin kahlen Gestein die Sonnenstrahlen auf, und was diese verkündeten, wenn sie vom Berge nach dem kleinen Bahnhof strahlten, das war an schönen Sommertagen der erste Morgengruß. Der graue Rücken des ›Wechsel‹ bildete dazu einen ernst stimmenden Kontrast. Das Grün, das von überall her in dieser Landschaft freundlich lächelte, ließ die Berge gleichsam aus sich hervorsteigen. Man hatte in der Ferne des Umkreises die Majestät der Gipfel, und in der unmittelbaren Umgebung die Anmut der Natur. [...] Ich glaube, daß es für mein Leben bedeutsam war, in einer solchen Umgebung die Kindheit verlebt zu haben. Denn meine Interessen wurden stark in das Mechanische dieses Daseins hineingezogen. Und ich weiß, wie diese Interessen den Herzensanteil in der kindlichen Seele immer wieder verdunkeln wollten, der nach der anmutigen und zugleich großzügigen Natur hin ging, in die hinein in der Ferne diese dem Mechanismus unterworfenen Eisenbahnzüge doch jedesmal verschwanden.«
Rudolf Steiner schreibt hier über seine Zeit in Pottschach. Nach anderthalb Jahren in seinem Geburtsort Kraljevec wird der Vater an die Bahnstation in Mödling bei Wien versetzt, dann, bereits nach einem halben Jahr, nach Pottschach, an der Grenze von Niederösterreich zur Steiermark. Bis zu Steiners achtem Lebensjahr bleibt die Familie dort. Auf zwei Erlebnisfelder wird in den Schilderungen der Umgebung des Knaben hingewiesen: auf die Natur und auf die Eisenbahn als Gestalt mechanischer Technik. Die Natur wird in einem Verhältnis von anmutiger Nähe lieblicher Täler und erhabener Ferne der den Blick himmelwärts wendenden Bergketten in ihrer Farbigkeit skizziert.
Bemerkenswerterweise konnte man anlässlich verschiedener Veröffentlichungen zum 100. Todestag von Rudolf Steiner beobachten, dass die Frage: »Wer war Rudolf Steiner?« etwas zurücktrat vor derjenigen nach seiner Wirkung. Man fragte etwa: »Was bedeutet Ihnen Rudolf Steiner?« oder auch: »Was bedeutet Ihnen die Anthroposophie?« Der Unterschied verweist bereits auf etwas Wesentliches, nämlich: Die Anthroposophie Rudolf Steiners ist kein abgeschlossenes historisches Phänomen, das sich als solches erschöpfend erklären lässt, sie ist kein »Ist« oder »War«, sondern ein dynamisch zu begreifendes »Werden« als ein sich in der Zeit Entfaltendes. Dieser Aspekt entgeht freilich all denen, die es sich ohnehin mit gängigen Vorurteilen und kurzgeschlossenen Assoziationen bequem machen. Sie finden sich überdies bestätigt durch die vorgefertigt klingenden Meinungsproduktionen öffentlicher Medien.
Gedanken zu Rudolf Steiners letzten Schriften
Rudolf Steiner schreibt im März 1925 Gedanken nieder, die so deutlich auf den Umgang mit der Technik eingehen, dass sie offenbar nicht nur für die damalige Zeit, sondern auch für unsere Gegenwart und eine weite Zukunft gelten.
Es geht zunächst um den Unterschied von Erkenntniswegen und Lebenswegen: Man sage, schreibt er, das naturwissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts habe zu »gewissen philosophischen Intentionen wieder zurückgefunden.« Man kann dabei an die Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie im 20. Jahrhundert denken, die das bisherige naiv-materialistische Weltbild unhaltbar erscheinen ließen, es kamen auch Modelle des Denkens in »Energien« verschiedenster Art auf. Dennoch befinde sich der Mensch in seinem Willensleben so stark »in einer Mechanik des technischen Geschehens, dass dies dem naturwissenschaftlichen Zeitalter seit lange eine ganz neue Nuance gegeben hat.
Mutmaßungen einer nachdenklichen Mutter und Anthroposophin
Von Lehrern hört man im Verlauf der Schulzeit immer wieder, dass die Oberstufe als »Krönung« der Waldorfschulzeit betrachtet werden könne, dass sich hier »der Kreis schließe«, sich etwas »runde«, und dass die Ernte für jahrelanges Bemühen eingefahren werde. Von früheren Schülergenerationen erhält man oft begeisterte Erinnerungen an die Oberstufenzeit im obengenannten Sinne.
Der Blick auf Oberstufenschüler des 21. Jahrhunderts zeigt eher unbegeisterte, unter Druck stehende, Noten hinterherjagende, interesselose, zum Teil sogar tendenziell oder echt depressive junge Menschen. – Was ist los?