Heft 5, 2021
Schwerpunkt: Steigerungen und Polaritäten
»Das für das Alltagsbewusstsein gängige Verhältnis von Punkt = Ich und Umkreis = Welt kehrt sich um: Mein Ich wird zum Umkreis und nimmt sich aus der Welt heraus selbst wahr – als denkendes, fühlendes und wollendes Wesen, das nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Und gleichzeitig werde ich neu mit mir selbst konfrontiert: Wer bin ich wirklich? Woher komme ich? Wie stelle ich mich in die Welt – die irdische wie die geistige? Es geht nicht um Wohlfühl-Esoterik, in die ich suggestiv hineingezogen werde, sondern um den Entschluss zur Arbeit an mir selbst: Wie gehe ich mit den erfahrenen Resonanzen um, die sich mir vor allem im Nachklang durch die folgenden Nächte und Tage hindurch konkreter erschließen?«
- Stephan Stockmar -
Editorial
Dass unsere Zeitschrift seit diesem Jahr nur noch alle zwei Monate erscheint, stößt bei unseren Leserinnen und Lesern überwiegend auf Zustimmung. Allerdings hat dieser neue Modus auch Nachteile. So erscheint das vorliegende Heft kurz nach der Bundestagswahl, musste aber schon vorher in Druck gehen. Wer die Ausführungen von Gerd Weidenhausen über ›Die Zuschauerdemokratie und ihre Akteure‹ liest, blickt deshalb bereits auf den Wahlkampf zurück, in dessen Endphase dieser Beitrag verfasst wurde. Die grundsätzlichen Fragen, die Weidenhausen bewegt, werden davon aber nicht berührt. Auch die Flutkatastrophe im Nordwesten Deutschlands, die Joachim von Königslöw in ›Vom Schicksal der Flüsse im Anthropozän‹ mit altersweisem Überblick betrachtet, verweist auf eine tiefgehende Krise, deren Bewältigung als Menschheitsaufgabe vor uns liegt. Ähnliches gilt für Sabine Adatepes bewegenden Bericht über die Lage der syrischen und afghanischen Flüchtlinge in der Türkei, der keineswegs als Kritik an diesem Land gemeint ist, sondern als Hinweis auf ein weitaus umfassenderes Problem.
Zeitgeschehen
Zur Lage von Geflüchteten in der Türkei
»Wir können keinen einzigen Flüchtling mehr aufnehmen«, tönen unisono offizielle Stellen in der Türkei, wohl wissend, dass täglich weiter »irreguläre Einwanderung« stattfindet. Die Türkei wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, nach dem Zustrom syrischer Flüchtlinge jetzt womöglich Millionen Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Im Land leben offiziell bereits 4,6 Millionen Flüchtlinge, jüngst sprach der Präsident sogar von über fünf Millionen, das wären sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Situation der Schutzsuchenden ist so uneinheitlich wie ihr Profil. Während syrische Geflüchtete, die weitaus größte Gruppe bisher, sich zunehmend integrieren, ist die Zukunft afghanischer Flüchtlinge ungewiss. Ebenso unklar ist, ob bereits 1,5 Millionen Afghanen im Land sind, wie die Opposition behauptet, oder doch »nur« rund 300.000, wie Präsident Erdoğan kürzlich sagte. Jedenfalls mauert die Türkei sich jetzt auch gen Osten ein.
Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft
Wir stehen noch immer unter dem Eindruck einer Flutkatastrophe, wie wir sie in diesem Ausmaß in unseren Gebieten noch nie erlebt haben. Sie betraf vor allem das Rheinland und Westfalen; lang andauernder Starkregen ging vom Sauerland über die Eifel bis in die angrenzenden Gebiete Belgiens und Luxemburgs nieder. Mehr als 200 Menschen kamen in den Sturzfluten ums Leben, manche bleiben bis heute vermisst. Nicht die großen Ströme Rhein und Donau, Elbe und Oder waren diesmal die Hauptakteure der Ereignisse, die man voreilig gern »Jahrhundert-Fluten« nennt, sondern kleine Flüsse und Bäche, durch deren enge Täler meterhohe – bisher unvorstellbare – Flutwellen stürzten, die alles wegrissen, was ihnen im Wege war. Die Schäden in den betroffenen Gebieten sind noch unermeßlich.
Politik-Inszenierung im Wahlkampf 2021 am Beispiel der Klimarettung
Eine unter den vielen Eigentümlichkeiten der alle vier Jahre stattfindenden Bundestagswahlen ist, dass die Wahlberechtigten von den um ihre Gunst buhlenden Parteien bei ihren privaten Unzufriedenheiten »abgeholt« werden. Die Politiker versprechen den Wählern, diese Probleme im Falle ihres Wahlsieges zu beheben – insofern und insoweit die mit dem künftigen Koalitionspartner einzugehenden Kompromisse das zulassen. In den Wahlprogrammen werden diese Probleme nach Themengebieten aufgelistet und Lösungskonzepte vorgestellt. Diese Vorstellungen über Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Sicherheits- bis hin zur Außenpolitik sollen den Wahlberechtigten als Orientierung dienen. Die Politiker hoffen, auf diese Weise die Bevölkerung so beeinflussen zu können, dass ihre Partei durch die Stimmabgabe von den Wählern zum Vollzug ihrer Programme ermächtigt werden. Diese Form der Ermächtigung im Sinne eines Delegierens von politischer Handlungsvollmacht an die gewählten Volksvertreter macht den Kern der repräsentativen Demokratie aus. Die allseits gelobte und als beste aller Welten erachtete Staatsform besteht somit darin, dass Privatinteressen der Staatsbürger als gesellschaftliches Problem gewürdigt und in ein ideelles Gesamtinteresse überführt werden. Unter verschiedenen Slogans wie: »Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes«, »Vereinbarkeit von Klimaschutz und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit«, »globale Verantwortung für Demokratie und Menschenwürde« usw. firmieren dann solche als »Gesamtinteresse« ausgegebenen Bündel von Partikularinteressen. Der verantwortungsvolle Staatsbürger soll sich so mit einer »größeren Sache«, dem »nationalen Interesse« oder der »westlichen Wertegemeinschaft« identifizieren können. Die Wahlen garantieren in der repräsentativen Demokratie letztlich das Einvernehmen der Wahlberechtigten über die nach den Wahlen über sie verhängte Politik.
Anmerkungen zu einem Thema, das spaltet
Eine persönliche Äußerung sei den folgenden Ausführungen vorangestellt: Es ist im höchsten Maße tragisch, dass durch die unzähligen Kontroversen zum Thema »Corona« und vor allem über die Frage des (Nicht-)Impfens Bekanntschaften, Freundschaften, Arbeits- und Verwandtschaftsverhältnisse usw. belastet oder gar zerstört werden. Denn trotz aller unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen gibt es Verbindendes, und zwar den beidseitigen Wunsch, selbst gesund zu bleiben, andere Menschen nicht gefährdet zu wissen und in einem gesetzlich gesicherten Rahmen Freiheit sowie eine Normalität der Lebensverhältnisse geachtet und bewahrt bzw. wiederhergestellt zu finden. Nichts könnte die gegensätzlichen Haltungen besser zusammenführen als ein Austausch über die Vorstellungen und Kenntnisse über den besten Weg dahin. Dafür sollen im Folgenden Denkanregungen gegeben werden.
Graue Aussichten mit Grünen Pässen
Ich musste schmunzeln, als ich am 22. Juli – also dem Tag, an dem Maria Magdalena gefeiert wird – erfuhr, dass der italienische Ministerrat, kurz nach der Regierung Frankreichs und fußend auf einer am 1. Juli in Kraft getretenen Regelung der EU-Kommission, zur Eindämmung von Covid-19 die Einführung des Green Pass (Grüner Pass) für den Zugang zu einigen Bereichen des öffentlichen Lebens beschlossen hatte. Und noch mehr musste ich schmunzeln, als ich hörte, diese Maßnahmen würden am 6. August, d.h. am Tag der Verklärung (Transfiguration) Jesu Christi, in Kraft treten. Ich fand es außerordentlich interessant, wie diese zwei Tage eine durchaus geniale symbolische Komposition bildeten: Maria Magdalena ist nämlich nach dem Johannes-Evangelium die erste Zeugin des Auferstandenen (Joh 20, 1-18) und somit der Vollendung jenes Weges, der mit der Verklärung begann (vgl. Mt 17,1-8; Mk 9,2-10 und Lk 9,28-36)4. Am Tabor durchdrang das Licht des schöpferischen Logos die irdische Leiblichkeit mit seiner unerschöpflichen Lebenskraft; so wird das Ereignis der Auferstehung möglich, von dem Maria Magdalena als Erste gezeugt hat.
Die Aufgabe der Kulturräte
Im letzten Jahr erschien der Band ›Zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart‹ in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Er dokumentiert das Wirken Rudolf Steiners in den Jahren 1919 bis 1924 für die Dreigliederung. Insbesondere auf die Aufgabe der Kulturräte wird ein besonderes Licht geworfen. Die folgende, ausführliche Besprechung erläutert, wie das Nicht-Ergreifen des Kulturrätegedankens mit dem Nicht-Durchdringen der wirtschaftlichen Initiativen in Zusammenhang zu sehen ist.
Eine österlich-michaelische Betrachtung
Michaeli und Ostern bilden miteinander eine kosmisch-terrestrische Polarität – im Spannungsfeld zwischen Sommer und Winter. Man kann sie, vom Tageserleben her, mit den Lichtsituationen des Abends und des Morgens vergleichen – den Zonen zwischen Tag und Nacht. Wie diese in den Dämmerungen leben, den Bereichen der Schwelle zwischen Nachtdunkel und Tageshelle, so gehen mit Michaeli und Ostern zwei verschiedene Welten ineinander über: die Welt des sommerlich auswärts gekehrten und die des winterlich nach innen gewendeten Lichtlebens – dort viel äußeres Licht bei einer möglichen inneren Dumpfheit, hier viel äußere Dunkelheit, oft begleitet von hellerem, klarerem Bewusstsein. Der Mensch, der diese Schwellenübergänge vollzieht, bleibt mit sich selbst identisch, seine Lebensvollzüge aber sind von der gerade vorherrschenden Intro- oder Extravertiertheit beeinflusst, die sich infolge des Zusammenlebens mit der natürlichelementarischen Mitwelt in der dunklen oder in der lichten Jahreshälfte ergeben. Die Selbstidentität zu wahren, in ihr zu erwachen, sie immer bewusster zu verwirklichen, stellt sich gerade mit diesen Übergängen als Aufgabe – zu Michaeli wie um Ostern. Das schon angedeutete Motiv, das solches Erwachen begünstigt, liegt darin, dass beispielsweise auf der herbstlichen Seite das äußere Zurückgehen des Lichts durch das Anwachseninneren Lichtes beantwortet wird – eines Lichtes, das weitgehend dem individuellen Bewusstseinslicht entspricht. Das drückt sich in dem vormichaelischen Wochenspruch des ›Anthroposophischen Seelenkalenders‹ aus, der den Wechsel vom schwindenden Außen- zum zunehmenden Innenlicht behandelt.
Meditation als Erkenntnisweg
Wie bilden wir Begriffe, mit denen wir uns selbst und die Natur wirklichkeitsgemäß begreifen können? Der Physiker Wolfgang Pauli erkannte in seiner jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit dem Psychiater Carl Gustav Jung, dass unserer Begriffsbildung immer ein »malendes Schauen« archetypischer Bilder aus dem Fundus des kollektiven Unbewussten vorangeht. Im meditativen Umgang mit den inneren Bildern beschreiten wir die Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Ideen.
Die geheimnisvolle Beziehung Hegels zu den Rosenkreuzern
Die Anthroposophie wäre ohne Hegel und Goethe nicht möglich gewesen. Anlässlich Hegels 250. Geburtstages am 27. August 2020 hielt der Autor des folgenden Aufsatzes einen Vortrag in Stuttgart über die Beziehung Hegels zu der Rosenkreuzerbewegung und schlug von dort eine Brücke zur Anthrophosophie. Die dort entwickelten Gedanken wurden in der Folgezeit schriftlich ausgearbeitet und können nun in einer dreiteilgen Serie veröffentlicht werden. Der erste Teil zeigt, wie Hegels Vernunftsbegriff mit der naturwissenschaftlichen Anschauungsart Goethes zusammenhängt und stellt darüber den Zusammenhang zur geistigen Erneuerungsbewegung der Rosenkreuzer her.
Forum Anthroposophie
Zu Frank Hörtreiter: ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹
Zu einer Selbstbesinnung, wie sie einer Unternehmung wie der Christengemeinschaft angesichts ihres bevorstehenden 100. Gründungstages verstärkt ein Anliegen sein kann, gehört unbedingt eine nüchterne und schonungslose Auseinandersetzung mit früheren Epochen, die sich naturgemäß mit Abstand und sicherer Quellenlage gründlich und umsichtig aufarbeiten lassen. So liegt seit wenigen Wochen die Studie ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹ von Frank Hörtreiter vor.
In der Christengemeinschaft gibt es eine Nachfolge-Regelung für den »Erzoberlenker«, die wohl einzigartig ist. Sie wäre niemals so eingerichtet worden, hätte sie nicht Rudolf Steiner selber angeraten. Er brauchte ohnehin einen langen Atem, bis sich Friedrich Rittelmeyer dazu verstand, eine derart herausgehobene Stellung anzunehmen. Mit dem Ritual verband Steiner den Rat, der Erzoberlenker solle schon am Tage nach seiner Erhebung seinen Nachfolger benennen. So wusste Emil Bock und auch die gesamte Priesterschaft, dass er Rittelmeyer beerben würde; nur der Zeitpunkt war ungewiss. Ebenso hat Bock 1938 Rudolf Frieling benannt, der dann – samt der Priesterschaft – zweiundzwanzig Jahre auf seine Erhebung hinzuleben hatte. Es war sicherlich klug, dass Frieling nicht öffentlich den Nimbus eines Nachfolgers tragen musste; so konnte er unbefangen in seinen Gemeinden (z.B. 1949 bis 1955 in New York) Seelsorger sein. Auch war die Nachfolge nicht absolut sicher, denn es hätte ja sein können, dass der ungefähr gleichaltrige Frieling früher als Bock stürbe.
Feuilleton
Zum Tode von Heinz Georg Häussler (1939–2021)
Am 5. Juli 2021 verstarb in Weimar mein geschätzter Freund und Lehrer, der Bildhauer Heinz Georg Häussler. 1939 in Göppingen geboren, stammte er aus einfachen Verhältnissen und studierte an der Kunstakademie in Stuttgart Bildhauerei. In seinem universal angelegten Denken spielte die Anthroposophie von jeher eine große Rolle. Zunächst verdingte er sich als Kunst- und Werklehrer. 1973 begründete er, zusammen mit anderen Künstlern, die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Die Vision der Pioniere: die Errichtung einer Hochschule, in der die Kunst für die höchste Vollendung des Menschseins steht, und die das Gespräch der Künste dergestalt befruchtet, dass in diesem der ganze Mensch im Mittelpunkt steht.
Joseph Beuys als Raumkurator in der Stuttgarter Staatsgalerie
Voller Erwartung betrete ich den Beuys-Raum im Stirling-Bau der Staatsgalerie in Stuttgart. Mein Blick fällt als erstes auf die Gebilde aus sprödem Gips und massigem Wachs, die dort herumliegen, und auf die durch den Raum schwingende Filzrolle – als Teile des ›dernier espace avec introspecteur‹ (Letzter Raum mit Introspecteur, 1964-1982). Von der Installation ›Plastischer Fuß Elastischer Fuß‹ (1969-1986) ragen nur vier auf dem Boden liegende Stahlplatten von links her in den Raum, auf denen drei große Autobatterien und eine Luftpumpe in einer Linie aufgereiht stehen. Die zwei großen Matten an der linken Wand fallen nicht gleich ins Auge. Erst recht nicht die beiden kleinen Plastiken, die Joseph Beuys zu beiden Seiten des Eingangs installiert hat: rechts auf einem Sockel die ›Kreuzigung‹ (1962/63) aus ärmlichen Materialien, linker Hand in einem in die Wand eingelassenen Kasten der goldene ›Friedenshase‹ (1982) samt Sonnenkugel, die aus den auf dem schmalen Boden des Safes drapierten Preziosen herausragen. Diese beiden Objekte, die kaum unterschiedlicher sein könnten, setzen das Thema dieses 1984 von Joseph Beuys eingerichteten Raumes: Polarität, die im Menschen ihre Steigerung erfährt.
Zur Ausstellung ›Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte‹ im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale
Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale und das British Museum in London haben in enger Kooperation eine spektakuläre Ausstellung mit rund 400 kostbaren Artefakten und Leihgaben aus 15 Ländern zusammengetragen. Die zum Teil erstmals in Deutschland ausgestellten Objekte beleuchten mit der Zeit von etwa 2500 v. Chr. bis 1000 v.Chr. das Ende der Stein- und den Großteil der Bronzezeit – eine noch kaum bekannte Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Ausstellung präsentiert 20 Jahre neuer Forschungsergebnisse rund um die Himmelsscheibe von Nebra (um 1750 v.Chr.) und zeigt ein Netzwerk vielfältiger Einflüsse und Zusammenhänge im gesamteuropäischen Raum auf, bis nach Ägypten und Mesopotamien. Und sie stellt die Frage nach staatlichen Strukturten im schriftlosen (!) Mitteldeutschland zur Zeit der Himmelsscheibe.
Sir Walter Scott (1771–1832) zum 250. Geburtstag
Durch Selma Lagerlöf erfuhr ich zum ersten Mal von Walter Scott in dem Sinne, dass man ihn kennen muss: ›Ivanhoe‹ hatte sie zuerst bezaubert. Im Bücherschrank ihres Onkels fand sie Scotts Werke. Von Scott wurden Edward Bulwer-Lytton, George Eliot, Victor Hugo, Wilhelm Hauff und Theodor Fontane inspiriert. Goethe war von ›Waverley‹ begeistert. Als wir eine Schottland-Reise planten, las ich zuvor ›Ivanhoe‹ und ›Waverley‹. Im Übrigen spielte auch Theodor Fontane mit herein: durch die Fontane-Ausstellung 2019 in Potsdam und sein Buch ›Jenseit des Tweed‹ (1860), in dem er seine Schottlandreise von 1858 beschrieb. »Nach Schottland also!«3 Mit diesen Worten beginnt das Buch. Wir waren somit neben Scotts auch auf Fontanes Spuren.
Ein Theaterprojekt über die Corona-Pandemie
Am Jagdschloss Grunewald in Berlin, vor der Kulisse des Grunewaldsees und der immer dunkler werdenden Silhouette des Waldes sitzen wir, die Theaterzuschauer. Nur das Rauschen der nahen Autobahn stört die Idylle. Die Bühne, so scheint es, ragt in den See hinein. Ein offener Ort. ›Offen lag die Welt – oder: Wir klatschen unsere Laptops an die Wand und gehen spielen‹ heißt denn auch der Titel des Stücks, das da von dem deutsch-syrischen Theaterkollektiv ›syn:format‹ gespielt wird.
Über ›Falling‹ von Viggo Mortensen und ›Ich bin dein Mensch‹ von Maria Schrader
Erstaunlich im Grunde, dass es diese Einrichtung immer noch gibt: Wildfremde Menschen begeben sich körperlich zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, um dort gemeinsam einen Film zu sehen. Das schon so oft totgesagte Kino ist offenbar nicht umzubringen. Kino als Erlebnisgemeinschaft verschafft einen Eindruck von der Intimität des Öffentlichen. Astrale Wogen und Welten, ein Fühlen, das nicht individuell von innen, sondern äußerlich ausgelöst, technisch aus der Peripherie über die Zuschauer kommt – das ist ein interessantes Studienfeld. Ist man sich dessen bewusst, wie der Zuschauerorganismus als Klaviatur oder Instrument bespielt wird, lässt sich umso leichter einsehen, was den Zeitgeist gerade bewegt.
Zu Philip Kovce: ›Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten‹
Früher war alles besser. Vor allem war das Frühe das Beste. Danach konnte nur noch der Abstieg kommen. Früher musste er kommen. Als Tod, als Krise, als Epigonentum oder ständige Selbstreproduktion und als Manierismus. Heute liegt das Schlechte schon hinter uns, kaum dass wir zu schreiben beginnen. Peter Handke nannte es in einem Interview einmal »eine ungeheure Geläufigkeit«, gerade in der jüngeren Generation, die im Schreiben heute da sei, »einerseits erfreulich, andererseits fragwürdig«1. Auch deshalb hatte ich zunächst nicht so recht Lust, ein Buch zu rezensieren, das kein richtig neues war, sozusagen keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern eine Schöpfung aus dem ›Goetheanum‹, genauer gesagt dem Verlag am Goetheanum, und alle diese Texte waren zudem als Kolumnen in der gleichnamigen Dornacher Wochenschrift erschienen.
Zu Lambert Wiesing: ›Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins‹
Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat jüngst eine Monografie vorgelegt, die sich in fünf Kapiteln der Phänomenologie des Selbstbewusstseins widmet. Wiesing geht – wie er im Vorwort schreibt – davon aus, dass sich die »Wirklichkeit des Selbstbewusstseins […] weder erklären noch verstehen [lässt]. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen.« (S. 10) Entsprechend lautet sein Ziel, »das Urphänomen Selbstbewusstsein […], die selbst erlebte Wirklichkeit meines eigenen Selbstbewusstseins auf ihre Charakteristika hin anzuschauen. […] Ich beschreibe kein Ich, sondern ein Mich. In diesem Buch denke ich mich, mein Dasein, als erlebte Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins.« (S. 10f.)
Seltsame Wege nimmt die Geschichte mancher Wörter. Die Vorstellungen, die heute allgemein mit bestimmten Wörtern einhergehen, unterscheiden sich oft enorm von den Vorstellungen und Referenzen, die ursprünglich oder in früheren Zeiten damit verbunden waren. Wald ist so ein Wort. Schwer und gewichtig, dunkel und nahezu gewaltig kommt es daher wie eine mächtige Woge, die über Land geht und an der Stelle, wo sie zur Ruhe kommt, einen Wald zurücklässt, der sich dann weiter ins Land hinein ausbreitet.
Kurz notiert
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