Artikel von Ute Hallaschka
Zum Tod von Friederike Mayröcker (* 20. Dezember 1924; † 4. Juni 2021)
Ein Nachruf für Friederike Mayröcker kann nicht anders als kunterbunt verzettelt sein. So lebte sie, die Wiener Dichterin, die am 4. Juni 2021 mit 96 Jahren gestorben ist. Jahrzehntelang lebte sie mit ihrem Lebens- und Kunstgefährten Ernst Jandl (1925–2000) im selben Haus, aber nicht in derselben Wohnung. Das wäre unmöglich gewesen, denn beider Lebensraum war buchstäblich die Sprache – durchaus bis ins Leibliche zu verstehen.
Zum Jubiläumsheft ›100 Jahre die Drei‹ 1/2021
Zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Louise Glück
Seit 28 Jahren schreibe ich nun für diese Zeitschrift – aber noch niemals fiel mir ein Beitrag so schwer wie der folgende. Es lässt sich nicht beschreiben, was ich zu sagen versuche. Man müsste es singen, malen, aufführen … Über ein Bild kann man sprechen mit Worten, auch über Musik. Doch wie spricht man von einem Gedicht – oder gar mehreren – so, dass es ihm gerecht wird? Kann man es nicht eigentlich nur dichterisch besprechen?
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Wie stehen wir heute in der Welt?
Ein kleiner Ausflug in die Sprache zu Beginn. Denn das Wort, das geteilte – an dem man miteinander Anteil nimmt – ist unsere In-Formation. Darin sind wir, wie die Zugvögel, auf Himmels- und Erdenreise. Wer fragt, nimmt Anteil am Leben des anderen. Wer dazu etwas sagt, spricht nicht über sich, sondern von sich aus – in den anderen hinüber. Darin sind beide eins im Gespräch. In der Formation, im Geist der Reise, im Unterwegssein des geistigen Lebens. Letzteres ist Begegnung: Intuition von Wesen, die einander durchdringend sich selbst erkennen, eins im anderen. Dieses große Du-Geschehen üben wir im Ich auf Erden, im Wort. Darum danke ich dir für deine Frage, die diesen Text entstehen lässt.Im Grunde sind es deine Worte, die – geistig ausgeflogen mit mir – nun wieder heimkehren zu dir. Aber es ist noch ein Dritter im Spiel, und wie wunderbar, dass du mit diesem ebenfalls in Kontakt stehst und so seinem Wort unmittelbar begegnen kannst: Rudolf Steiner, dem die zunächst folgenden Gedanken verdankt sind.
Zu David Marc Hoffmann u.a. (Hrsg.): ›Rudolf Steiner 1861–1925‹*
Ein buchstäblich gewichtiges Werk – Großformat, rund 500 Seiten, kiloschwer – ist der neue Bildband aus dem Rudolf Steiner Verlag: ›1861 –1925 Rudolf Steiner. Eine Bildbiografie‹, herausgegeben von David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg und Stephan Widmer. Sie haben in langjähriger Recherche-, Kompositions- und Redaktionstätigkeit die über 800 Abbildungen (hauptsächlich aus dem Archiv in Dornach) zusammengestellt. Diese Zusammenstellung folgt einem Motto von Goethe aus dem Vorwort zur Farbenlehre: »Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.«
Man mag kaum noch den Mund öffnen, ob mit oder ohne Maske, um sich an der Sprachdebatte zu beteiligen. Es scheint unmöglich, dem Sprachgeist Gehör zu verschaffen. Ja, er lebt zwischen den Menschen, in ihnen, aber er ist Geist und das heißt, er hat keinen Körper, keine Sexualität und keine Seele wie wir. Dann wäre da noch das Gewissen – es hat eine Stimme, ist also sprachmächtig, aber ebenfalls körperlos und ungeschlechtlich.
Über ›Falling‹ von Viggo Mortensen und ›Ich bin dein Mensch‹ von Maria Schrader
Erstaunlich im Grunde, dass es diese Einrichtung immer noch gibt: Wildfremde Menschen begeben sich körperlich zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, um dort gemeinsam einen Film zu sehen. Das schon so oft totgesagte Kino ist offenbar nicht umzubringen. Kino als Erlebnisgemeinschaft verschafft einen Eindruck von der Intimität des Öffentlichen. Astrale Wogen und Welten, ein Fühlen, das nicht individuell von innen, sondern äußerlich ausgelöst, technisch aus der Peripherie über die Zuschauer kommt – das ist ein interessantes Studienfeld. Ist man sich dessen bewusst, wie der Zuschauerorganismus als Klaviatur oder Instrument bespielt wird, lässt sich umso leichter einsehen, was den Zeitgeist gerade bewegt.
Zu Besuch im ersten Goetheanum (als Modell)
Ich kann es kaum glauben: Ich verlasse nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mein Haus, sitze im Zug und fahre nach Dornach … Ich weiß noch, wie ich das erste Mal hinfuhr, mit 21 Jahren, als ahnungsloser Neuankömmling in der Anthroposophie, und völlig verblüfft vor dem Goetheanum stand. Niemand hatte mich auf diesen Betonbau vorbereitet. Ein Elefantenhaus, dachte ich, und das war keineswegs respektlos gemeint. Eher als hilfloser Versuch, das Große, das damit zusammenhing, zum Ausdruck zu bringen. Aber Beton? Der kam in der romantischen Flower-Power-Welt von damals nur als Inbegriff der Nüchternheit vor. Gehwege und Gesamtschulen gab es aus Waschbeton. Ich war ratlos.
Wenn das Wort nicht mehr unter uns wohnt
Jetzt sind wir angekommen. In der stummen Stille. In diesem zwischenmenschlichen Raum – denn ein anderer ist es ja nicht. Stumme Stille gibt es nur zwischen Menschen. Es war einmal anders, als der Kosmos noch sprach. Es wird auch definitiv wieder anders werden. Aktuell erfahren wir das kosmische Mitspracherecht. Lange hat die Erde geschwiegen. Jetzt äußert sie sich. Noch ist es Bild, sind es Zeichen, doch allmählich werden wir das, was wir wahrnehmen, als Kommunikation eines Wesens verstehen. Mit diesem Wesen auf Augenhöhe zu kommen, dazu brauchen wir ein entsprechendes Sprachvermögen, und zwar dringend, denn durch die Sprache bilden sich Begriffe – im Dialog mit der Erde.