Artikel von Ute Hallaschka
Betrachtungen einer Reservatsbewohnerin
Als die Welt noch jünger war – wie lange ist das her? Dieses Gefühl der Unbefangenheit dem Leben gegenüber, erst recht im Bewusstsein. Im Willen, der sich, kaum gefasst, nicht sogleich bedroht fühlte von Platzangst oder Erstickungsempfindung. Vielleicht ist das erst rund 25 Jahre her. Das klingt kurz – oder ein Vierteljahrhundert, das scheint etwas länger, obwohl es sich um denselben Zeitraum handelt, nur die Bezugsgröße ist eine andere. Auf kosmische Zeitverläufe bezogen ein Tropfen im Meer, und doch zugleich wieder im menschlichen Maßstab: Aktuell liegt rund ein Drittel der fünften nachatlantischen Entwicklungsperiode hinter uns. Wie dringend müssten wir uns verjüngen im zwischenmenschlichen Leben? Wie könnte sie aussehen, die Jugendlichkeit der Weisheit? Denn das ist ja die kulturelle Zukünftigkeit. Was hereinkommt ins Leben mit der Geburt und der Gebürtlichkeit, an übersinnlichen Impulsen und Energien, ist das eine – das andere ist die Verfasstheit unserer Zivilisation.
Zur Ausstellung: ›Flowers Forever – Blumen in Kunst und Kultur‹ in der Kunsthalle München
Die ursprüngliche Geburt der Blumen auf der Erde liegt Millionen Jahre zurück – ihr uraltes Wesen verkörpert sich jedes Jahr aufs Neue. In einem wundersamen Zauber. Was uns die Erde durch ihren Blütenteppich sagt: Wer sie selbst ist und wer wir sind. »Schau,« könnte die Erde murmeln, »wenn der frosthart gefrorene Boden unter den Schritten knirscht und ein Schneeglöckchen oder ein Winterling sein hauchzartes grünes Stängelchen hindurchschiebt und ans Licht bringt.« Mit aller Kraft gelingt uns dies nicht. Jedes kleine Kind versteht: Das geht eigentlich nicht, für ein rein materielles Weltverständnis undenkbar. Also ein Wunder: Wie sich die Winzlinge in den Schwingungen der Materie, den räumlich-körperlichen Verhältnissen so einrichten, dass sie ihren eigenen Freiraum schaffen – vor sich her den Geburtskanal bilden, um so erscheinen zu können. Was wir im Denken leisten, die Schwere des Irdischen aufheben, lösen und durchdringen, das tun die kleinen Blüten in ihrer zarten Körperlichkeit wesentlich. Und ein Mensch, der angesichts des Blumenwesens gar nichts zu empfinden meint, dem muss das Herz gebrochen sein, oder die Seele geraubt.
Zum 10-jährigen Jubiläum des Frauenrats derAnthroposophischen Gesellschaft in Deutschland
Im Rudolf Steiner Haus in Frankfurt wurde am 3. Juni 2023 ein Jubil.um gefeiert: 10 Jahre Frauenrat der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (AGiD). Barbara Messmer, eine der Gründerinnen, die seit ihrer Jugend in der Frauenbewegung aktiv ist, bringt die damalige Reaktion aus dem anthroposophischen Umfeld auf den Punkt: .Muss das sein?. Brauchen wir wirklich – in der Gesellschaft freier Geister – diese geschlechtsspezifische Vertretung? Nicht etwa, um diese rhetorische Frage zu beantworten, sondern um ihren Hintergrund auszuleuchten, ein kleiner Ausflug in Welt und Zeit.
Zu Anthony McCarten: ›Going Zero‹
Nehmen wir Begriffe beim Wort – Rudolf Steiner hat das oft und gerne getan, um sich verständlich zu machen. Das bekannteste Beispiel ist die »Entwickelung«, man sieht sie förmlich vor sich. Darin liegt eine der Stärken der deutschen Sprache: die Leichtigkeit der imaginativen Wortbildung, auch wenn das Wort selbst aus einer anderen Sprache einverleibt wurde. In-Formation ist ein wundervoller Ausdruck, für das, was an den Zugvögeln am Himmel, oder im Fischschwarm sehen, im Bienenstock oder im Ameisenhaufen. Alles ist informiert, in die entsprechende Form seines Seins gebracht, im Fall der Tiere spielt sich dies als sichtbare Bewegung in der Zeit ab. Zeitverlauf als kosmisches Informationsbild – jeden Morgen geht die Sonne auf. Auch wenn es bekanntlich die Erde ist, die sich dreht. Selbst die Geister und Götterwesen, die wir Hierarchien nennen, erscheinen – nicht zuletzt aufgrund dieses Ordnungsbegriffes – informiert.
Zur Ausstellung: ›Mithras. Annäherungen an einen römischen Kult‹ im Archäologischen Museum Frankfurt
Ich hatte einen Traum: Splitterfasernackt stand ich in einem Museum – und es war kein bisschen peinlich. Darüber musste ich nicht lange grübeln: Es handelte sich um eine Reminiszenz an den Vortag. – Mein Besuch der Mithras- Ausstellung in Frankfurt am Main hinterließ nachhaltige Seelenspuren. Eben das, was das Traumbild zeigte, l.sst sich dort hellwach erleben. »... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.« Diese Zeile stammt von Rilke, aus seinem Gedicht: ›Archaischer Torso Apollos‹, mit dem berühmten Schlusswort: »Du mußt dein Leben ändern.« Soll heißen: sich selbst in der Totalität der eigenen Person von einem Kunstwerk aus gesehen, wahrgenommen zu erleben, ist immer eine erschütternde Geisterfahrung. Ich werde wieder darauf zurückkommen.
Zu Thomas Bernhard: ›Minetti‹ am Residenztheater in München
Jemand hat mich gefragt, wann ich zum letzten Mal eine Theateraufführung gesehen habe, die mich getroffen, berührt, mitgenommen, um nicht zu sagen erschüttert hat. Nichts anderes bedeutet im Theater: Güte. Es muss lange her sein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zuschauer hat ja nichts als seine Augen und Ohren, durch die er an der Handlung teilnimmt. Gutes Theater bedeutet also, dass mithilfe dieser Sinne ein Prozess in Gang gesetzt wird, der mich verändert. Ich werde körperlich buchstäblich ergriffen. Das, was von der Bühne herkommt, sagen wir ruhig: (an)wehender Geist, durchdringt mich anders als die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung. Denn das, was mich da anweht, ist ja äußerlich gesehen, gar nicht da – es stammt als Gewebe eingebildeter Außenwelt aus dem Innern eines anderen Menschen. So erscheint die Welt, als wäre sie Idee und damit wird sie mir zur Landschaft der Freiheit. Hier spielt mein Wille die Hauptrolle, denn das Ich ist der Souverän des Ideellen.