Artikel von Ute Hallaschka
Wie verfilmt man das Leben einer Philosophin? Es ist ja wesentlich durch Geistestaten charakterisiert. Eine ähnliche Problemlage wie die filmische Biographie von Hannah Arendt lässt sich jetzt besichtigen: ›Lou Andreas-Salomé‹ unter der Regie von Cordula Kablitz-Post. Das macht den Film vorab bemerkenswert. Ein zweiter Aspekt ist die Motivlage: Während Hannah Arendt durchaus eine Renaissance erfuhr, und dies nicht nur durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der sie gern zitiert, ist Lou Andreas-Salomé, eine große Unbekannte, höchstens noch in sehr gut sortierten bürgerlichen Bildungshaushalten präsent.
Zu ›First Reformed‹ von Paul Schrader
Das Münchner Filmfest ist das südliche Pendant zur weltbekannten Berlinale. Ein höchst merkwürdiges Werk feierte während dessen 36. Auflage im vergangenen Juli seine Deutschlandpremiere: ›First Reformed‹ von Paul Schrader, gezeigt jeweils einmal zu Beginn und zum Ende des einwöchigen Festivals – wie ein Rahmen zur großen Gegenwartsfrage: Was ist bloß los in Amerika?
Zum Tod von Friederike Mayröcker (* 20. Dezember 1924; † 4. Juni 2021)
Ein Nachruf für Friederike Mayröcker kann nicht anders als kunterbunt verzettelt sein. So lebte sie, die Wiener Dichterin, die am 4. Juni 2021 mit 96 Jahren gestorben ist. Jahrzehntelang lebte sie mit ihrem Lebens- und Kunstgefährten Ernst Jandl (1925–2000) im selben Haus, aber nicht in derselben Wohnung. Das wäre unmöglich gewesen, denn beider Lebensraum war buchstäblich die Sprache – durchaus bis ins Leibliche zu verstehen.
Ich trage ein Bild in mir. Es ist ein Seelenbild der Erinnerung an einen konkreten Augenblick, der nun 33 Jahre zurückliegt in meinem Leben. All die Jahre war es wie ein Gemälde, das ich betrachten konnte und in dem ich zugleich eingeschlossen war. Plötzlich, nach so langer Zeit des vertrauten Umgangs mit ihm, wurde das Bild sprechend. …
Zur Ausstellung ›August Macke zu Gast bei Jawlensky‹ im Museum Wiesbaden
Zur Ausstellung >Der Augenblick. Die Fotografin Annelise Kretschmer< im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
In Köln wünsche ich mir regelmäßig, Fotografin zu sein. Hier am Mysterienhauptbahnhof der Republik. Als kulturelles Glanzlicht weithin, die rußgeschwärzte Fassade des gewaltigen Domes, wie ein Raumschiff auf Zeitreise auf dem Bahnhofsvorplatz gelandet. Gegenüber erhebt sich der ›Musical-Dome‹. Dazwischen das soziale Elend der Gegenwart in Menschengestalt - so drastisch wie sonst nur in den sozialen Brennpunkten der Städte. Aber in Köln mittendrin, im Zentrum.
Zur Ausstellung ›Tintoretto – A Star Was Born‹ im Wallraf-Richartz-Museum Köln
Venedig war eine der bevölkerungsreichsten Großstädte Europas, als Jacopo Robusti 1518 oder 1519 geboren wurde – als Sohn eines Färbers, daher sein Künstlername »Tintoretto« (»Färberlein«). Bereits 1538, also mit etwa 20 Jahren, war er ein ausgewiesener Meister mit eigener Werkstatt. Das war auch nötig, um sich gegen die allgegenwärtige Konkurrenz durchzusetzen, denn Venedig war ebenso eine der europäischen Hauptstädte der Kunst.
Zu dem Film »Yella« von Christian Petzold
»Das Universum Klee« in der Nationalgalerie Berlin
Eine Ausstellung in Dortmund
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»Spiritualisierung der Hirnforschung« in Stuttgart
Zu ›Unheimliches Tal / Uncanny Valley‹ von ›Rimini Protokoll‹
Sie sind dramatische Zeitzeugen: Das Theaterkollektiv ›Rimini Protokoll‹ ist mit seinen Aktionen immer am Puls der Zeit und an gesellschaftlichen Wundrändern zugange. Die aktuelle Performance, eine Uraufführung in den Münchner Kammerspielen, trifft thematisch wieder den kairós – den Augenblick, in dem Kunst der Realität begegnet. ›Unheimliches Tal / Uncanny Valley‹ heißt das Bühnenprogramm, in dem der einzige Darsteller durch einen Roboter vertreten wird. Zeitgleich wird weltweit die Sensation gefeiert, dass erstmals eine Maschine ein Bild »gemalt« hat. Dahinter steckt natürlich (noch) der Mensch, ebenfalls ein Künstlerkollektiv. Die französische Gruppe ›Obvious‹ hat den Algorithmus mit 15.000 Kopien klassischer Werke gefüttert – aus dieser Einspeisung wurde das Bild kreiert. Nun gilt es erstens als Original, und zweitens verfügt das selbstlernende Programm jetzt über die einverleibten Daten und könnte munter seine »Kreativität« weiterentwickeln. Werden wir also mit KI bald nicht mehr »künstliche«, sondern »künstlerische« Intelligenz meinen?
Zur Ausstellung: ›Flowers Forever – Blumen in Kunst und Kultur‹ in der Kunsthalle München
Die ursprüngliche Geburt der Blumen auf der Erde liegt Millionen Jahre zurück – ihr uraltes Wesen verkörpert sich jedes Jahr aufs Neue. In einem wundersamen Zauber. Was uns die Erde durch ihren Blütenteppich sagt: Wer sie selbst ist und wer wir sind. »Schau,« könnte die Erde murmeln, »wenn der frosthart gefrorene Boden unter den Schritten knirscht und ein Schneeglöckchen oder ein Winterling sein hauchzartes grünes Stängelchen hindurchschiebt und ans Licht bringt.« Mit aller Kraft gelingt uns dies nicht. Jedes kleine Kind versteht: Das geht eigentlich nicht, für ein rein materielles Weltverständnis undenkbar. Also ein Wunder: Wie sich die Winzlinge in den Schwingungen der Materie, den räumlich-körperlichen Verhältnissen so einrichten, dass sie ihren eigenen Freiraum schaffen – vor sich her den Geburtskanal bilden, um so erscheinen zu können. Was wir im Denken leisten, die Schwere des Irdischen aufheben, lösen und durchdringen, das tun die kleinen Blüten in ihrer zarten Körperlichkeit wesentlich. Und ein Mensch, der angesichts des Blumenwesens gar nichts zu empfinden meint, dem muss das Herz gebrochen sein, oder die Seele geraubt.
Eine Zwergenimagination
Es war einmal, liebe Kinder, da lebte im wilden Westen Europas ein sagenhaftes Wesen, das nannte sich Willensfreiheit. Es war beheimatet im menschlichen Bewusstsein. Alle Bewohner des Westens, selbst die bravsten Bürger, trugen es in sich oder zumindest mit sich durch die Welt. »Wir können denken was wir wollen«, sagten sich die Leute, und so wollten sie auch, was sie denken konnten – Frieden zum Beispiel oder Gerechtigkeit, ein gutes Leben für alle auf Erden ... Da kam eines Tages ein stiefmütterlicher Erdkonzern auf die Idee, eine alte Ölplattform, die niemand mehr brauchte, im Meer zu versenken. »Dies wollen wir nicht«, sagten sich die Bewohner des Westens. »Denkt nicht an die Umwelt, denkt mal an die Kosten«, verkündeten die bösen Konzernlenker: »Was ihr dann zahlen müsst, wenn wir das nicht ins Meer werfen ...« Dazu winkten sie mit dem Geldbeutel, um die Leute das Fürchten zu lehren. »Das wollen wir doch mal sehen!« antworteten die willensfreien Menschen. Und was taten sie dann? Riefen sie etwa zum bewaffneten Widerstand auf und fackelten die Ölplattform gleich selber ab? Nein, sie gingen alle miteinander nur
ein einziges Wochenende woanders tanken, darauf besann sich der böse Konzern – und die Ölplattform wurde nicht ins Meer geworfen. So war das damals hinter den sieben Bergen, bei den Millionen Zwergen des freien Willens. Mit ihren kleinen Gedankenhämmerchen bewegten sie alle Dinge der Welt. Ja, ganz ohne Internet, liebe Kinder, stellt euch das vor!
Zur Ausstellung ›Joan Jonas‹ im Haus der Kunst in München
Es ist die erste umfassende Werkschau einer Jahrhundertkünstlerin: ›Joan Jonas‹ im Münchner Haus der Kunst, entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Tate Modern in London. Joan Jonas, geb. 1936 in New York City, gehört zu den Begründerinnen der Performance Art. Durch ihr stetiges Experimentieren über 50 Jahre hinweg mit Performance, Video und Installation sowie deren Rückübersetzung in analoge Wirklichkeit wurde sie zu einer Wegweiserin und Inspiratorin der Gegenwartskunst. Doch der große Erfolg wurde ihr selbst erst zuteil, als sie 2015 fast 80-jährig den Pavillon der USA auf der Biennale in Venedig gestaltete.
Drei Bücher von und über Selma Lagerlöf
Zur Ausstellung ›Gabriele Münter. Malen ohne Umschweife‹ im Lenbachhaus
In München erwartet uns eine Überraschung. Die Ausstellung im Lenbachhaus: ›Gabriele Münter. Malen ohne Umschweife‹ präsentiert eine Künstlerin, deren Werk und Lebenslauf wir geradezu instinktiv dem Beginn des letzten Jahrhunderts – der Epoche des ›Blauen Reiter‹ – zuschreiben. Doch Gabriele Münter, 1877 geboren, starb erst 1962 und hat bis zum Schluss gearbeitet und ausgestellt. Sie nahm noch an der ersten ›documenta‹ im Jahre 1955 teil. Ihr Werk umfasst, neben tausenden von Zeichnungen und Aquarellen, über 2.200 Gemälde – und dazu werden wir mit der bisher völlig unbekannten Tatsache von ca. 1.200 Fotografien konfrontiert. Der Besucher kann also sogleich an die Arbeit gehen, um sein eigenes Bild der Künstlerin zu aktualisieren.