Artikel von Ulrich Kaiser
Über den Maler und Anthroposophen Karl Ballmer
Der Künstler und Denker Karl Ballmer hat den paradox anmutenden Versuch unternommen, aus seiner persönlichen Begegnung mit Rudolf Steiner (1861-1925) heraus diese Beziehung mit Person und Werk so zu denken, dass sie der persönlichen Begegnung als einer unhintergehbaren individuellen Beziehung gerecht wird. Er prägte Formeln wie »Ereignis Rudolf Seiner« oder »Karma-Orientierung der Erkenntnistheorie«. Sie wirken schillernd und widersprüchlich, weil Steiners Werk Wissenschaftsanspruch erhebt und die Ausdrücke nach Personenkult riechen oder nach willkürlicher persönlicher Entscheidung oder privater Esoterik. Natürlich sind sie so nicht gemeint. – Im Folgenden unternehme ich den Versuch, Ballmers zu wenig bekanntes und nicht leicht zu erschließendes Werk bis zu jener Schwelle vorzustellen, wo seine Motive und Begriffe, meine ich, plausibel werden und eine im engeren Sinn philosophische Darstellung beginnen kann.
Perspektiven einer allgemeinen Erzähltheorie
Traditionell verstehen wir unter Erzählungen Geschichten, die in Form von Mythen, Märchen oder Romanen kulturell überliefert sind oder von Schriftstellern verfasst werden. Sie gelten als Produkte der Phantasie. Auch wenn sie für unsere Lebensorientierung Bedeutung haben und das Fiktive sowie das Imaginäre so etwas wie eine anthropologische Disposition darstellen, sind Erzählungen als eine Art Feierabendprodukte doch von der nüchternen Tagesarbeit und dem klaren Tatsachenwissen geschieden. Ein Roman ist eben, nach traditionellem Verständnis, keine Biografie und eine historische Erzählung kein Roman. Doch die selbstverständliche Unterscheidung zwischen dem Faktischen, die für den wissenschaftlichen, und dem Fiktiven, die für den künstlerischen Text gilt, ist fragwürdig geworden. Erzählen können wir nämlich immer schon beides: erfundene Geschichten und tatsächlich erlebte. Die Erzählung als produktive Schöpfung kann sich so eng wie möglich an die erlebten Tatsachen halten oder vor Erfindungslust übersprudeln, immer ist sie Erzählung, erzählende Tätigkeit.
Im Vorhof der Esoterik: Goethes Rätselmärchen
Befassen wir uns mit dem Erzähler Rudolf Steiner, dann sollten wir uns auch in das Thema der »Esoterik der Erzählung« vertiefen. Genau dafür treffen wir im Werk Steiners auf einen Schlüsseltext. Es ist ›Das Märchen‹ aus Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, einer Sammlung von sechs Novellen und dem Märchen im Zusammenhang einer Rahmenhandlung. Was lässt sich daraus über die Esoterik der Erzählung lernen? Inwiefern konstituiert diese Schrift Goethes in ihrem Kontext eine Erzählung über die Art, wie wir »höhere Erkenntnisse« erlangen könnten? Wie hat Steiner sie aufgegriffen? Und warum hat sie für ihn einen so hohen Stellenwert?
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Der Ausdruck »Akasha-Chronik« (engl. akashic records) erscheint bei Rudolf Steiner als terminologischer Import aus der anglo-indischen Theosophie des 19. Jahrhunderts im Sinne eines überpersönlichen Weltgedächtnisses, als »das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens«. Die geläufige Bezeichnung für den Zugang zu diesem Gedächtnis lautet »Lesen in der Akasha-Chronik«. Der Ausdruck selbst und das entsprechende »Lesen« werden von Steiner nicht systematisch begrifflich entwickelt, und oft ist dies »Lesen« mit anderen Weisen der spirituellen Erkenntnis austauschbar und wird auch schon einmal »Lesen im Chaos« genannt. In seinen Vorträgen erzählte Steiner vielfach darüber, im schriftlichen Werk taucht der Ausdruck zentral nur in der frühen Aufsatzreihe ›Aus der Akasha-Chronik‹ (1904 bis 1908) auf, in der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ (1910) wird er lediglich noch beiläufig – und dies nur in Anführungsstrichen – erwähnt. Da diese Aufsatzreihe von der Darstellungsweise her die erzählerischste Schrift Steiners ist, liegt es nahe, sie unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch eigens zu betrachten. Als Rezipienten seiner Schriften sind wir überdies nicht eigentlich Zeugen seines Zugangs zur Akasha-Chronik. Vielmehr sind es seine Mitteilungen, ist es sein Erzählen, sind es die »Ausdrucksformen«, wovon wir Kenntnis nehmen, weshalb es naheliegt, weniger von einem Lesen, als vielmehr von einem »Erzählen aus (oder von) der Akasha-Chronik« zu sprechen.
Als Rudolf Steiner am 10. Januar 1925 die Vorrede zur Neuauflage seiner ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ schrieb, war ihm das Anlass für einen Rückblick auf seine innere Situation fünfzehn Jahre zuvor beim Verfassen dieses Buches. Insbesondere war er damals darum bemüht, ja besorgt gewesen, den Gehalt seiner esoterischen Aussagen für seine Zeitgenossen so verständlich wie möglich zu formulieren. So kreisen seine knappen Ausführungen in dieser Vorrede denn auch um das Thema der »Verständlichkeit«. Und sie erhalten im Hinblick auf seinen nahe bevorstehenden Tod einen vermächtnishaften, vorausblickenden, zukünftigen Charakter. Denn Rudolf Steiner würde nun selber seinem Buch nicht mehr mit neuen Erläuterungen, Verbesserungen oder der Anpassung an veränderte Lesegewohnheiten beistehen können. Ein letztes Mal noch brachte er alle Sorgfalt auf, die Bedingungen für ein angemessenes Verstehen seiner Aussagen klar mitzuteilen.
Rassismuskritische Hermeneutik der Anthroposophie
Es war eine bemerkenswerte Intuition, welche die deutsch-iranische Komikerin Enissa Amani dazu brachte, als Reaktion auf den unsäglichen WDR-Talk ›Die letzte Instanz‹ vom 29. Januar 2021 ein eigenes Fernsehformat aus dem Boden zu zaubern und über ›Youtube‹ anzubieten. Nicht nachhallende Kritik an der Tatsache, dass in besagter Talk-Show Vertreter der Mehrheitskultur verständnis- und geschmacklos über diskriminierungssensible Themen palaverten, sollte es sein. Nein, etwas Konstruktives: ein Gespräch mit profilierten Vertreterinnen und Vertretern von Minderheitskulturen, deren Stimmen an solcher Stelle allererst gefragt sind. Die Sendung wurde, auf diesen Anlass anspielend, kurzerhand und selbstbewusst ›Die beste Instanz‹ betitelt. Wofür dieser Vorgang und diese Sendung ein Exempel bot, das war, ein Feld der Lernerfahrungen und der Bewusstwerdung von Haltungen und Urteilsgewohnheiten zu schaffen, die unsere Mehrheitskultur durchziehen und die besonders sensibel in Schulen, im öffentlichen Leben und in jeder Begegnung zwischen Menschen wirksam sein können.
Zu Anna Seydel: ›Stirb und Werde‹
An die Seite ihres vor zehn Jahren erschienenen spirituell-praktischen Büchleins ›Ich bin du. Kindererkenntnis in pädagogischer Verantwortung‹ (Stuttgart 2009) stellt die erfahrene Klassenlehrerin Anna Seydel nun eine Reihe von Studien vor, die aus ihrer anthroposophischen Grundlagen-Arbeit hervorgegangen sind. Sie vereinigen sich unter dem Gesichtspunkt des von Rudolf Steiner beschriebenen rosenkreuzerischen Schulungs- und Erkenntnisweges.
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