Artikel von Jürgen Raßbach
Die Dichterin Selma Merbaum (geb. am 15. August 1924 in Czernowitz, gest. am 16. Dezember 1942 im Arbeitslager Michailowka am Bug)
Die wahrscheinlich nie bis in ihre letzte Verzweigung ausleuchtbare Rettungsgeschichte dieser 58 Gedichte ist wunderbar und unendlich bitter zugleich, weil sie erst beginnen konnte, nachdem ihrer Schöpferin, einem 18-jährigen Mädchen, auf gnadenlose Weise das Leben genommen worden war. Auch ihr »Tod«, den Paul Celan für alle Zeiten gültig als »Meister aus Deutschland« personifiziert hat, geht auf das Schreckenskonto der SS, die Tausende zur Zwangsarbeit deportierte Czernowitzer Juden ermordete – ein Genozid, der sich zwischen 1941 und 1943 im damaligen Rumänien als Teil des planmäßig vorangetriebenen Vernichtungsfeldzugs gegen die europäischen Juden ereignete. Erst 2014 konnte die Germanistin Marion Tauschwitz – nach akribischen Archivforschungen – diesem Mädchen seinen richtigen Namen zurückgeben: Selma Merbaum.
Zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts
Im Lehrplan der DDR-Schulen, zumindest solange ich Schüler war, kam dieser Name nicht vor. Später dann, als Lehrer, schuf ich den ›Physikern‹ zumindest ein Schlupfloch: Im Zusammenhang mit Bertolt Brechts ›Leben des Galilei‹ durften sie, als sp.tbürgerlicher Gegenentwurf, kurz in Erscheinung treten. Immerhin gab es 1965 eine Ausgabe beim Verlag ›Volk und Welt‹, die vier seiner Komödien enthielt, ein Band mit Erzählungen erschien 1980. Natürlich gab es Aufführungen im Theater, ein ›Besuch der alten Dame‹ in Rostock ist mir noch in Erinnerung. Die unterrichtliche Verbannung Friedrich Dürrenmatts endete für mich 1986, als ich meine Arbeit am nichtstaatlichen Potsdamer Kirchlichen Oberseminar begann. Diese unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen sind nicht unwesentlich, wenn von Dürrenmatts literarischem Einfluss gesprochen wird.
Vor 50 Jahren starben Nelly Sachs und Paul Celan
Sie haben sich Briefe geschrieben, von Stockholm nach Paris, von Paris nach Stockholm, eine bewegende Korrespondenz, ein »Meridian des Schmerzes und des Trostes«.
Erfahrungen mit einer Ballade von Johannes R. Becher
Im Folgenden möchte ich die Umstände beschreiben, die dazu führten, dass Johannes R. Bechers Ballade ›Kinderschuhe aus Lublin‹ sich in ganz besonderer Weise meiner Erinnerung eingeschrieben hat.
Erfahrungen mit Schiller
Wie es dazu kam, dass Schiller, ausgerechnet Schiller und dazu auch noch das zeitferne und nur schwer zugängliche Gedicht ›Das Ideal und das Leben‹1 (15 Strophen zu je 10 Versen) meine Widerstandskraft stärkte, soll hier erzählt werden als Beispiel für die oft beschworene, aber auch bezweifelte Kraft der Dichtung.
Bisweilen stossen wir in unseren eigenen Bücherregalen auf ungehobene Schätze. So erging es mir neulich beim leidigen Staubwischen, als mir Hans Habes (1911-77) historischer Roman ›Die Mission‹ von 1965 in die Hände fiel – eine eher unscheinbare Taschenbuchausgabe aus dem Jahre 1982, erschienen im Heyne-Verlag, die, denke ich, aus dem Nachlass meiner lieben Schwiegermutter auf mich gekommen sein muss. Was ich auf dem Cover las, entschied die sofortige, atemlos-ungläubige Lektüre.
Ein Besuch bei dem Schriftsteller Bernd Wolff (*1940)
Der Harz. Ich nähere mich ihm von Osten, überquere den schmalen Lauf der Bode, gleich zweimal, fahre durch Halberstadt und sehe ihn, nun schon deutlich näher, wieder vor mir, den legendären Gebirgszug. Es ist November, wie damals, als Goethe 1777, vom Süden her, incognito als »Maler Weber«, zur ersten seiner drei Harzreisen aufbrach – ein Ausbruch zu Pferd, ein Schimmelritt ins Ungewisse, Abenteuerliche. Mein Ziel ist Blankenburg, die Kreuzstraße. Dort wohnt, seit Jahrzehnten, wie er mir erzählen wird, der Schriftsteller Bernd Wolff, Verfasser dreier Bücher über Goethes Harzreisen. Ein viertes, über Heinrich Heines Harzreise, rundet diese bemerkenswerte Schöpfung ab: eine Tetralogie, die mehr Beachtung verdient, als ihr bislang zuteil geworden ist: ›Winterströme‹ (Verlag der Nation, Berlin 1986), ›Im Labyrinth der Täler‹ (Verlag Die Pforte, Dornach 2004), ›Die Würde der Steine‹ (Verlag Die Pforte, Dornach, 2008) und ›Klippenwanderer‹ (Futurum Verlag, Dornach, 2012).
Freies Geistesleben in der DDR – Teil II
Bückware. Wer in der DDR aufgewachsen ist, kennt diesen Begriff. Sie war nicht so leicht zu haben, oft eben nur unterm Ladentisch. Dass sich der damit angezeigte Mangel auch auf Bücher bezog, und nicht nur auf Bananen etc., verweist auf einen aus heutiger Sicht nachgerade beneidenswerten Bedarf der Bürger dieses Leselandes (wie es sich, übrigens nicht zu Unrecht, offiziell gern nannte). Die seit den 70er Jahren in regelmäßigen Abständen erscheinenden literarischen Tagebücher Hanns Cibulkas (1920–2004) gehörten zu dieser so begehrten Bückware. Ihre Titel verweisen meist auf ihre landschaftliche Bezogenheit, auf Rügen und Hiddensee sowie die thüringische Wahlheimat des in den Nachkriegswirren aus dem sudetischen Altvatergebirge Ausgesiedelten: ›Sanddornzeit‹, ›Dornburger Blätter‹, ›Seedorn‹, ›Swantow‹ ... Diese schmalen Büchlein haben auf eine stille und konsequente Weise vorbereiten geholfen, was heute mit Recht als friedliche Revolution gerühmt wird. Worin aber bestand die ganz besondere Brisanz dieser Bücher? Was war ihre Botschaft und wie war sie »verpackt«, damit sie im zensierten Buchmarkt der DDR überhaupt erscheinen konnte?
Erfahrungen mit (deutscher?) Unkultur
Ein früher Maienurlaub an der Kieler Föhrde hat mir eine wunderbare Gewohnheit geschenkt: einen Spaziergang in aller Herrgottsfrühe, mitten in die schmetternden Vogelgesänge hinein, ins Buchengrün, in die aufsteigende Helle. Ich habe diese Gewohnheit beibehalten und durchstreife nun auch mein HavelstaÅNdtchen, entdecke es neu, sehe es mit erwachten Sinnen, und vieles sehe ich eigentlich zum ersten Male.