Artikel von Jürgen Raßbach
Kulturtag auf dem Galgenberg am 31. März 2019
Der 105. Todestag Christian Morgensterns war Anlass für die ›Christian-Morgenstern-Gesellschaft e.V.‹, nach ihrer Jahreshauptversammlung in Werder (Havel) ein vielstimmiges kulturelles Programm zu gestalten. Dr. Andreas Hüneke eröffnete die dem Buch ›Palmström als Flieger‹ gewidmete Ausstellung. Diese 1917 von dem Jagdflieger Hellmuth Emil v. Zastrow unter dem Pseudonym »Zarathustra« verfasste Adaption Morgensternscher Gedichte »aus den Säuglings- und Kindertagen der Fliegerei« erfuhr eine nicht unproblematische Neuausgabe durch Paul G. Ehrhardt, der das Buch – um einige Gedichte ergänzt und mit köstlichen Illustrationen von Wolfgang Götze versehen – »im Kriegsjahr 1942« wieder veröffentlichte. Eine Ausstellung, die zum Nachdenken aufruft.
Auf der Suche nach einer ansprechbaren Wirklichkeit
Zu Rolf Henrich: ›Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen‹*
Was da am 24. Februar 1944 im sächsischen Werdau begann, hätte eigentlich eine, wenn schon nicht typische, so doch im Wesentlichen konforme DDR-Biografie werden können, trotz des dunklen Flecks, der die familiäre Erinnerung belastete: der von einem alliierten Henker 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtete Onkel. Der früh vaterlose Rolf Henrich durfte die Erweiterte Oberschule besuchen, blies im FDJ-Fanfarenzug und errang mehrmals Sportmedaillen. Aber da war eben auch (erste geistige Korrektur sozusagen) die so scheinbar aus der Zeit gefallene Lateinlehrerin, die seine tieferen Interessen mit Shakespeare, Seneca, Kant und Nietzsche förderte und ihn auf das Studium der Jurisprudenz lenkte – eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft.
Zum 100. Todestag Christian Morgensterns
Auf dem Meere meiner Seele
Eine Erfahrung
Rilkes berühmtes Sonett ›Archaïscher Torso Apollos‹ endet einigermaßen überraschend mit dem Satz: »Du mußt dein Leben ändern« – eine Konsequenz, die aus der Schönheit der Kunst erwächst. Der Leser sieht sich aufgefordert, seine mehr oder weniger passive Haltung zu verlassen und zu Neuem aufzubrechen.
Zur letzten Phase der Beziehung zwischen Christian Morgenstern und Friedrich Kayssler
Am 5. April 1914, einen Tag nach der Trauerfeier für den am 31. M.rz verstorbenen Christian Morgenstern, schrieb Friedrich Kayssler an die Witwe Margareta: «Es hat mir so wohl getan, daß ich mit ihm [Rudolf Steiner] gesprochen habe [...]. Von dem gestrigen Tage geht ein Licht aus, ein Friede, der unbeschreiblich ist. Wir tragen ihn in uns wie ein seliges Glück, es ist nicht anders zu nennen. Es ist, als hätte alles, unser Leben, eine Weihe bekommen. Aber diese Worte sind arm.« Dem Brief war ein mit ›Meinem hingegangenen Freunde‹ überschriebenes Gedicht beigefügt: »Einst schien der Tod ein Abgrund, uferlos und leer, / daran wir, die Verlassenen, hilflos stehn. / Da sah ich Dich, Geliebtester, hinübergehn. / Nun weiß ich mehr. // Ein Abgrund war. Es stürzte eine Welt. / Doch als Dein Bild in Tränenschleiern schwand – / ward uns das innere Auge sanft erhellt, / und eine neue Gegenwart erstand. // Noch fern dem Tode – früher – sagtest Du, / nicht Trauer zieme uns bei Freundes Tod. / Nun halfst Du selber uns aus aller Not / und strahltest sterbend Gegenwart uns zu. // Du wolltest keine Tränen. Nun hab Dank. / Nicht Trauer ziemt uns, denn wir sehn Dich ja. / Der Abgrund blüht, aus Schweigen steigt Gesang. / Der Tod ward uns ein Gleichnis: Du bist da.«
Ambivalente Erfahrungen eines Lehrers
»DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT,bei der ich zu Gastgewesen sein werde, ein Name,herabgeschwitzt von der Mauer,an der eine Wunde hochleckt.«Paul CelanAus: ›Schneepart‹
Anmerkungen zu Heiner Müller (1929–1995)
Ich habe ihn in der Tat erst in den vorrevolutionären Wochen von 1989 für mich entdeckt; natürlich nicht den ganzen Heiner Müller. Vorerst waren es, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, die Teile I bis III der ›Wolokolamsker Chaussee‹, packend inszeniert vom Ensemble des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, das damals noch im bald für marode erklärten Haus in der Zimmerstraße auftrat. So dicht, so auf uns zugeschnitten – das gilt auch für die zur selben Zeit gezeigten Stücke der Perestroika-Autoren Tschingis Aitmatow und Wladimir Tendrjakow – habe ich Theater nie wieder erlebt, meilenweit entfernt von der nachrevolutionären Beliebigkeitskost, die mich erstmals veranlasste, eine Vorstellung vorzeitig zu verlassen.
Die Vergangenheit ist immer neu
Zum 100. Geburtstag Paul Celans
Er kam als Verfolgter zu uns, auf lebensgefährlichem Fluchtweg, nach Wien, 1947. Von da nach Paris. Deutschen Boden hat er nur besuchsweise betreten, immer auch mit dem unguten Gefühl, Personen zu begegnen, die in die Verbrechen des Dritten Reichs verstrickt waren. Er kam aus dem Osten, aus der Bukowina, das die Österreicher Buchenland nannten, genau aus Czernowitz, dem heute zur Ukraine gehörenden Czernowzy. Er ent-kam: ein Jude. Dass er überlebte, während seine Eltern dem Holocaust zum Opfer fielen, hat sich ihm »schwarz« als Schuld und »Erinnerungswunde« eingebrannt. Aus dieser »phylakterienfarbenen« Düsternis und Trauer ist sein unvergleichbares poetisches Werk erwachsen, dessen Anfänge klangvoll, farbig, langversig, oft auch gereimt, surrealistisch aufwogten, eine »Tonkunst«, die das Publikum verzauberte, ihm selbst aber immer verdächtiger wurde: »EIN KNIRSCHEN von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum. / Aus Helmen schäumt dir der Sommer. Der schwärzliche Kuckuck / malt mit demantenem Spornsein Bild an die Tore des Himmels.«
Die Schriftstellerin Gabriele Eckart (*1954)
Am 17. September 2017 kehrte Gabriele Eckart nach Werder zurück, wo sie vor 37 Jahren als Kulturarbeiterin tätig gewesen war - vorerst aber nur literarisch; die leibhaftige Anwesenheit, geplant für 2021, verhinderte die Corona-Pandemie. Im Rahmen der groß aufgezogenen 700-Jahr-Feier fand damals in der »Comédie Soleih, Werders Kleinkunstbühne, unter dem Titel »Mein schönes Werder< eine Veranstaltung statt, die einen musikalisch-literarischen Streifzug durch die Jahrhunderte bieten sollte. Mir war die Verantwortung für die Suche nach geeigneten Texten übertragen worden - eine Aufgabe, die mich mit Notwendigkeit zu Dr. Baldur .Martin führte, Werders höchst verdienstvollem Chronisten, einem Mitteldeutschen, den es in den 50er Jahren an die Havel gezogen hatte. Er hatte sich auf dem Galgenberg eine bleibende Stätte errichtet, also just dort, wo im Frühling 1895 ein lustiges Sextett um Christian Morgenstern feucht-fröhlich gefeiert und den Bund der Galgenbrüder aus der Taufe gehoben hatte.
Aus dem Leben vertrieben – jäh
Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Borchert (1921–1947)
Dass ein politischer Witz – unvorsichtig genug, wer ihn in den humorlosen Zeiten der Diktatur wagt – zum Verhängnis werden kann, ist eine Erfahrung, die ich mit Wolfgang Borchert teile. Allerdings (und das sei unterstrichen) waren die Konsequenzen, die ihn trafen, unvergleichlich härter, unvergleichlich. Der Krieg hat tief und verheerend in die Biografie des bei Ausbruch der Katastrophe Neunzehnjährigen eingegriffen. Sein Jugendfreund Isot Kilian beschreibt ihn als »voller Ideale, rebellisch und zukunftsgläubig« Er wollte Schauspieler werden und trat 1940 sein erstes Engagement an, bei der Landesbühne Osthannover. Nach wenigen Monaten schon reißt ihn die Einberufung in die 3. Panzer-Nachrichtenersatz- Abteilung und im November an den baldigen Fronteinsatz nach Russland.
»Ich denke an sie wie an ein Mädchen«
Das ›Christian-Morgenstern-Literaturmuseum‹ in Werder (Havel)
Der hier als Titel vorangestellte Aphorismus gilt natürlich auch für den kühnen Entschluss, auf dem bekannten Galgenberg im Havelstädtchen Werder das erste – und immer noch einzige – Museum für Christian Morgenstern zu schaffen. Achim Risch, der rastlose Schöpfer dieser Einrichtung, hat mir am 31. März 2016, dem 102. Todestag des Dichters, symbolisch den Schlüssel überreicht – und nun liegt es an mir, diese »Kulturtat« meines Vorgängers behutsam, aber auch mutig weiter zu gestalten.
Zum 150. Geburtstag Adalbert Stifters. Eine Skizze
»Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten staunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes.« Sie stand, Ria, die kräuterkundige Alte, klein und lebensfroh, im äußersten Winkel unseres lichtdurchfluteten Wohnzimmers und sprach, mit großem Ernst, frei, wie ich das zuvor noch nicht erlebt hatte, schwäbisch eingefärbt, sie rezitierte: Stifter. Es war an einem Sonntag und wenige Stunden zuvor war unsere jüngste Tochter geboren worden, Ende Juli 1979. Sie war, in Erwartung dieses Ereignisses, mit meiner Schwiegermutter angereist, und nun gab es ein Fest, mit Musik, mit Rezitation und, natürlich, mit gutem Essen. Adalbert Stifter also, die Beschreibung der am 8. Juli 1842 stattgefundenen Sonnenfinsternis – ein gewaltiger Text, den ich damals zum ersten Male hörte. Es lag ein großer Zauber über ihrem Sprechen, eine Magie, etwas Auratisches wehte mich an. Später, in der Küche, während sie ein schmackhaftes Körnergericht zubereitete, erzählte sie mir, dass sie Sprachgestalterin sei und dass sie, neben Goethe und Kleist, Stifter besonders mochte, weil er sich so gut sprechen oder auch vorlesen ließe. Ich begann, auf diese Anregung hin, Gedichte frei vorzutragen, später auch Prosatexte, Briefe von Morgenstern etwa.
Versuch einer Selbstrecherche
In meinem thüringisch-dörflichen Elternhaus gab es keine nennenswerten Bücher. Eingeprägt hat sich mir lediglich ein alpiner BildTextband von Luis Trenker, vor allem wegen seiner Schwarz-Weiß-Fotos. Dieses Buch habe ich immer wieder durchblättert, allein und auch mit Frau Dornis, einer Nachbarin, zu der ich manchmal hinüberging, wenn ich allein war. Sie richtete meine Aufmerksamkeit auf die abgebildeten Bergdörfer, genauer gesagt auf die Kirchlein, die niemals fehlten. Immer wieder spornte sie mich an, sie zu suchen. Ich muss offen lassen, was das in meinem Unterbewusstsein bewirkt hat.