Artikel von Claudius Weise
oder: Geistiger Widerstand als Kapitulation
In letzter Zeit wird die Anthroposophie von Kritikern wieder verstärkt in die Nähe rechtsextremistischer Bestrebungen gerückt. Dass das nicht nur mit böswilliger Ignoranz zu tun hat, sondern mit einer echten Herausforderung des Unterscheidungsvermögens, an der auch Anthroposophen scheitern können, zeigt ein symptomatischer Fall, der im Folgenden geschildert werden soll.
Zu ›Das steinerne Herz der Demokratie‹ von Stephan Eisenhut in die Drei 10/2020 // Zu ›Auch eine Sezession‹ von Claudius Weise in die Drei 10/2020
Nächstes Jahr wird diese Zeitschrift hundert Jahre alt. Sie ist damit weltweit das älteste noch existierende Publikationsorgan der anthroposophischen Bewegung – knapp vor der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹, die nur ein halbes Jahr später aus der Taufe gehoben wurde. Ein solches Jubiläum ist ein Anlass, dankbar zurückzublicken – und darüber nachzudenken, wie die Zukunft dieser Zeitschrift möglichst langfristig gesichert werden kann.
In einer anthroposophischen Kulturzeitschrift stellt das Thema der Freiheit naturgemäß ein Leitmotiv dar, das mal im Hintergrund bleibt und mal deutlich hervortritt. Zum einen, weil sie als Kulturzeitschrift für die Freiheit des Geisteslebens einsteht, zum anderen, weil Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ den Quellpunkt der Anthroposophie bildet. Das vorliegende Heft bewegt sich nun vom breiten Strom der Zeitereignisse und der ihn nährenden Ideen zu diesem frischen Quellpunkt hin.
Der anthroposophische Schulungsweg bildet eines der Kernthemen unserer Zeitschrift. Dabei ist es uns ein Anliegen, authentische Erfahrungsberichte und konkrete Übungsvorschläge zu veröffentlichen, die nachvollziehbar machen, wie dieser Weg begangen werden kann. Und auch, dass dieser Weg nicht von der Welt entfremdet, sondern im Gegenteil erst recht mit ihr vertraut macht, indem er eine Begegnung mit ihrem wahren Wesen ermöglicht.
Geschlechtlichkeit ist sicherlich ein Thema, das einer spirituellen Weltsicht eher fernliegt, das von ihr aber auch nicht ignoriert werden darf – dies umso mehr in einer Zeit, in der das immer noch recht neue Fachgebiet der Gender Studies von den Universitäten aus weit in die Gesellschaft ausstrahlt, was viele als fruchtbar und ebenso viele als fragwürdig ansehen.
Der Schwerpunkt des vorliegendes Heftes, nämlich das 100-jährige Jubiläum der Anthroposophischen Medizin, war schon seit Langem geplant, hat aber durch die Corona-Krise unvermutete Dringlichkeit erhalten. Leider konnten wir von den vielen Beiträgen zu diesem bewegenden Thema, die uns in den letzten Wochen erreichten, nur eine Handvoll berücksichtigen. Was gerade die Anthroposophische Medizin in der Behandlung von Covid-19 leisten kann, erläutert einleitend Harald Matthes vom Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, das eine viel beachtete Corona-Ambulanz eingerichtet hat. Zuvor beleuchtet Alain Morau kritisch die Situation bei unseren französischen Nachbarn, vor allem die symptomatische Diskussion um den experimentellen Wirkstoff Chloroquin, und Johannes Roth fügt im Feuilleton anthropologische Gesichtspunkte hinzu.
Die Corona-Pandemie hat im vorliegenden Heft unübersehbare Spuren hinterlassen. Denn eigentlich sollte im Juni das von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland initiierte Kongress-Festival zum Thema ›Soziale Zukunft‹ stattfinden, und wir wollten zu diesem Anlass ein passendes Heft zusammenstellen ...
Die Verbindung von Spiritualität und Naturwissenschaft ist ein wiederkehrendes Thema dieser Zeitschrift. Selten haben wir aber so viele Beiträge dazu in einem Heft vereinen können! Den Anfang macht Martin Wigand, der in ›Der Ursprung aller Dinge ist der Logos‹ eine Einführung in die Grundbegriffe der Quantenphysik und deren Interpretation liefert – ein denkbar anspruchsvoller Text, der überzeugend darlegt, dass das materialistische Weltbild längst überholt ist. Diesen Ansatz vertieft Jürgen Brau in seinem Beitrag über ›Synchronizität‹, der die wegweisende Zusammenarbeit des Physik-Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli mit C.G. Jung betrachtet. Peter Alsted Pedersen wendet sich in ›Der Geist in der Natur – Ørsted und Goethe‹ der Entdeckung des Elektromagnetismus vor 200 Jahren zu, einer wichtigen Grundlage der Quantenphysik. Und Martin Basfeld zeigt mit ›Der Beginn einer Astrologie als soziale Wissenschaft‹ im Anschluss an Elisabeth Vreede und am Beispiel der Himmelsscheibe von Nebra, was mit einer spirituell erneuerten (Natur-) Wissenschaft gemeint sein könnte.
Die Kunst, sich an der Schwelle zur geistigen Welt aufzuhalten und sie nach beiden Seiten hin zu überschreiten, bildet den Schwerpunkt des vorliegenden Heftes. Dabei knüpft Corinna Gleide in ihrem Aufsatz über ›Denken, Meditation und übersinnliche Wahrnehmung‹ zunächst an Rudolf Steiners Grundlagenwerk ›Die Schwelle der geistigen Welt‹ an und legt dann detailliert den Unterschied zwischen »denkendem« und »visionärem« Hellsehen dar. Anschließend erläutert Sivan Karnieli in ›Die Schwelle des Herzens‹ die spirituelle Bedeutung der Eurythmie-Übung »Ich denke die Rede« und insbesondere deren Zusammenhang mit den sogenannten Nebenübungen.
Menschlichkeit und Machenschaft sind das übergreifende Thema dieses Heftes – genauso gut könnte man aber auch sagen: die Macht der Bilder und die Kraft der Gedanken. Diese Begriffe lassen sich einander nicht eindeutig zuordnen. Bilder können Zeugnisse der Menschlichkeit oder der Machenschaft sein – letzteres zeigen die einleitenden Beiträge zum Zeitgeschehen von Ute Hallaschka und Stephan Eisenhut, einmal mehr grundsätzlich, das andere Mal am konkreten Fall des sogenannten »Sturms auf den Reichstag«, dessen politische Hintergründe ebenfalls aufgezeigt werden.
Schwer auf einen Nenner zu bringen sind die Beiträge in diesem Heft – und der Umgang mit einem solchen Problem ist zugleich der rote Faden, der viele von ihnen durchzieht. Das Wort vom »schwimmenden Licht«, mit dem Peer de Smit seine so einfühlsame wie gehaltvolle Studie über Paul Celan überschrieben hat, steht für den Versuch, »sich im Medium dichterischer Sprache erkennend zu bewegen«. Daran mag man sich erinnert fühlen, wenn Irene Diet in ihrem – an die Erfahrungen der Corona-Krise anknüpfenden – Aufsatz über die »wankende Illusion von der Wirklichkeit« zeigt, dass der Verlust des Bodens, auf dem man (ver)steht, eine Vorbedingung des Erwachens für die geistige Welt ist. Wie man hier wieder zu Sicherheit gelangen kann, skizziert Eugen Meier in seinem Artikel über den »Denkblick«, der die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Anthroposophie, insbesondere in ihrer Ausarbeitung durch Herbert Witzenmann, zum Thema hat.
Die Corona-Pandemie lässt uns nicht los. Fast ein Drittel der hier versammelten Beiträge setzen sich mit ihr auseinander. Wie es sich für ein Weihnachtsheft gehört, nehmen Ute Hallaschka, Werner Thiede und Johannes Roth besonders ethische und spirituelle Aspekte in den Blick, während Alain Morau einmal mehr die Debatte um den Wirkstoff Hydroxychloroquin analysiert. Die drei umfangreichsten Beiträge zu diesem Thema gehören eng zusammen: der Bericht von Heinz Mosmann über ein Kolloquium in Berlin und die Aufsätze von Stephan Eisenhut und Andreas Laudert, welche auf Vorträgen basieren, die dort gehalten wurden.