Artikel von Claudius Weise
Während die Corona-Pandemie epidemiologisch betrachtet dieser Tage ausläuft und zur Endemie wird, strebt sie in anderer Hinsicht erst jetzt ihrem Höhepunkt zu. Denn nun entscheidet sich, in welcher Form und Verfassung wir als Gesellschaft daraus hervorgehen. Im Zentrum steht dabei zunächst die Frage nach einer allgemeinen Impfpflicht. Hier droht Deutschland, im Vergleich zu den meisten Ländern Europas und der Welt, einen Sonderweg zu beschreiten, zusammen mit Österreich und Italien – eine alte Schicksalsverbindung, die bis zum Dreibund der wilhelminischen Ära zurückreicht, und die man wohl als unheilvoll bezeichnen muss, wenn man die Entwicklung dieser Länder zu freiheitlichen Demokratien im vergangenen Jahrhundert betrachtet. Doch angesichts der Verwüstungen, die das Pandemie-Management der meisten europäischen Regierungen hinterlassen hat, sei es nun in den Seelen unserer Kinder, im sozialen Miteinander, in der Kulturlandschaft oder in kleinen und mittelständischen Betrieben, stellt sich die Frage, wie es weitergeht, in umfassender Art und Weise. Dazu möchte das vorliegende Heft Impulse geben – und Mut machen, sich der Herausforderung durch das Coronavirus zu stellen.
Der Krieg in der Ukraine lässt niemanden unberührt und hat fast alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt. Das spürt man auch in diesem Heft. Zunächst charakterisiert Ute Hallaschka diesen Krieg als »ein gewaltiges Bild der Frage nach der Zukunft«, die jeder Einzelne von uns aufgefordert ist, zu beantworten. Nach einem kurzen, bewegenden Interview mit einem ukrainischen Waldorfschüler, das Christoph Hueck für uns geführt hat, öffnet Joachim von Königslöw als ausgewiesener Osteuropa-Experte weite historische Perspektiven auf diesen Konflikt und analysiert das eigentümliche Geschichtsbild des russischen Präsidenten. Stephan Eisenhut wiederum legt dar, dass den Berechnungen Russlands – wie denen des Westens – der Geist der Entzweiung zugrunde liegt, und dass noch offen ist, welche Seite sich wirklich verrechnet hat.
Das Schicksal ist ein großer Lehrmeister - allerdings auch ein anspruchsvoller, der es uns nicht leicht macht, in Rätseln oder unverständlich spricht und uns mit Aufgaben konfrontiert, unter deren Last wir schier zusammenbrechen. Um seine Sprüche verstehen zu können, müssen wir das Vertrauen haben, dass darin überhaupt ein Sinn liegt, dass es nicht Zufall ist, was uns begegnet. Der Karma-Gedanke nährt dieses Vertrauen. Indem wir das Schicksal als eine Folge unserer eigenen Taten betrachten, als eine Gelegenheit zum Ausgleich früherer Versäumnisse, als Aufforderung zur Entwicklung, indem wir versuchen, uns selbst in dem zu erkennen, was uns von außen zustößt, beginnen wir, die Lehren zu verstehen, die darin verborgen sind. Das gilt für das individuelle wie für das kollektive Schicksal.
Gut versteckt im Nachtprogramm zeigte das ZDF am 27. Juni 2022 ein bemerkenswertes Interview mit der südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor. Wahrscheinlich war selbst dies allein der Tatsache zu verdanken, dass sie eine alte schwarze Frau ist und kein alter wei©¨er Mann. Geradezu verzweifelt versuchte Wulf Schmiese, der Redaktionsleiter des ›heute journal‹, ihr die westliche Russlandpolitik und das entsprechende Wording nahezubringen. Doch Pandor weigerte sich konsequent, »die Sprache anderer zu sprechen, um uns für eine Seite zu entscheiden«, und forderte Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Schließlich habe man sich auch in Südafrika am Ende des alten Apartheid-Regimes mit seinen Feinden an einen Tisch gesetzt, um eine Lösung zu finden. – Wie lange ist es her, dass deutsche Politiker und Diplomaten ein solches Ethos des Ausgleichs und der Verständigung verkörperten! Heute ist es einem engstirnigen Moralismus gewichen, der mit einer eklatanten Unfähigkeit einhergeht, eine andere Sicht der Dinge zu verstehen, geschweige denn für berechtigt zu halten.
Vor nunmehr 100 Jahren wurde die Christengemeinschaft als Bewegung für religiöse Erneuerung ins Leben gerufen. Das vorliegende Heft wendet sich den Impulsen und geistigen Hintergründen zu, die dabei eine Rolle spielten, und fasst einige Menschen ins Auge, die als Geburtshelfer dieser Bewegung gelten können, aber dann aus dem Blickfeld gerieten.
Am 18. November 2022 fand ein konzertierter Angriff gegen die Anthroposophie in den deutschen Medien statt. Deren Kernstück war eine ›ZDF-Zoom‹-Reportage mit dem manichäisch anmutenden Titel: ›Anthroposophie – gut oder gefährlich?‹, die vor knapp einem Jahr gedreht worden war und deutliche Spuren der damaligen Stimmung trug, in der die Diskriminierung, ja Dämonisierung Andersdenkender in deutschen Redaktionsstuben zum guten Ton gehörte. Der Journalist Jochen Breyer zieht darin das Resümee: »Anthroposophie ist eben auch Karma, kosmische Kräfte und immer wieder die Überzeugung, dass Wissenschaft nicht alles ist, dass Wissenschaft begrenzt ist, und genau das ist gefährlich. In der Pandemie haben wir bemerkt, was es bedeutet, wenn das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt.« Verwundert nimmt man zur Kenntnis, dass Wissenschaft neuerdings »alles« zu sein hat, dass offensichtlich Religion und Kunst nicht mehr neben ihr als gleichberechtigte Ausdrucksformen des menschlichen Geistes stehen dürfen. Stattdessen scheint Wissenschaft für viele Menschen zu einer Art Staatsreligion geworden zu sein, an der Zweifel zu hegen und von deren Grenzen zu sprechen als gemeingefährlich gilt.