Artikel von Claudius Weise
zu Artikeln von Bijan Kafi (2/2023), Frank Steinwachs (4/2023) und Thomas Külken (5/2023)
Erinnern Sie sich an die Zeit, als »Querdenker« ein Ehrentitel war? Noch vor fünf Jahren rief die ›Bertelsmann Stiftung‹, die durch staatsgefährdende Aktivitäten bisher nicht aufgefallen ist, ›Camp Q 2018 – Die Leadership Konferenz für Querdenker‹ ins Leben. Zwei Jahre später musste die Stiftung bereits ihre Wortwahl verteidigen: »Das Q steht bei uns als Symbol für Andersdenken, aber nicht für Verschwörungstheorien oder -gruppen. Wir verlassen gewohnte Pfade, hinterfragen, nehmen neue Perspektiven ein, rütteln wach, machen Dinge anders, denken voraus und erweitern Netzwerke – für all das stehen unsere Projekte und Veranstaltungsformate und damit auch das Querdenken im Kompetenzzentrum Führung und Unternehmenskultur.« Dennoch blieb ›Camp Q 2021‹ die letzte Auflage dieses Formats. Stattdessen gibt es jetzt ›Leadership-Expeditionen‹, wo ausgewählten Führungskräften »die Alternativlosigkeit zu einer beherzten Führung« vermittelt wird.
»Krieg«, so lautet einer der berühmtesten Aussprüche des Heraklit von Ephesos, »ist der Vater aller Dinge.« Rudolf Steiner hat dazu in ›Das Christentum als mystische Tatsache‹ bemerkt: »Gerade Heraklit kann leicht mißverstanden werden. Er läßt den Krieg den Vater der Dinge sein. Aber dieser ist ihm eben nur der Vater der ›Dinge‹, nicht des Ewigen. Wären nicht Gegensätze in der Welt, lebten nicht die mannigfaltigsten einander widerstreitenden Interessen, so wäre die Welt des Werdens, der Vergänglichkeit nicht. Aber was sich in diesem Widerstreit offenbart, was in ihn ausgegossen ist: das ist nicht der Krieg, das ist die Harmonie. Eben weil Krieg in allen Dingen ist, soll der Geist des Weisen wie das Feuer über die Dinge hinziehen und sie in Harmonie wandeln.« Der Krieg gehört zur Welt des Werdens. Aber was letztlich werden soll, ist Harmonie. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem fernen Ziel könnte darin bestehen, dass die Auseinandersetzungen zwischen uns Menschen immer mehr von der physischen Ebene in die geistige verlegt werden, dass der Konflikt zur Konferenz wird, zum Diskurs.
Nicht um Geometrie geht es in diesem Heft – aber wenn man ein durchgehendes Motiv feststellen möchte, dann ist dieses nicht inhaltlicher Natur. Viele, zum Teil sehr verschiedene Themen werden in den hier versammelten Beiträgen behandelt. Doch gehen oft zwei Artikel in dieselbe Richtung – wie Parallelen. Zu allen anderen zeichnen sie sich hingegen nur durch eine mehr oder weniger große Nähe aus – wie Parabeln. Die folgenden Zeilen können deshalb auch als Wegweisung verstanden werden, wie man das Heft am besten kreuz und quer liest.
Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine immer größere und oft äußerst problematische Rolle spielen. Denn diese Bilder sind zunehmend künstlichen und kaum mehr künstlerischen Ursprungs – Ausdruck einer unmenschlichen Intelligenz, nicht eines schöpferischen Individuums. So vermitteln sie auch keine höhere Wahrheit mehr, sondern perfekte Illusionen oder raffinierte Lügen – und über die sogenannten »sozialen« Medien entfalten sie eine verheerende Wirksamkeit. Welche Folgen das insbesondere für die heranwachsenden Menschen hat, zeigt einleitend Heinz Buddemeier in seiner Rezension des Buches ›Wir verlieren unsere Kinder!‹ von Silke Müller.
Dies ist ein Heft für Bibliophile. Nicht nur wegen der zahlreichen Buchbesprechungen, zu deren Verfassern dieses Mal u.a. Peter Selg, Konrad Schily und René Madeleyn gehören. Sondern auch deshalb, weil die Schriftkultur selbst in den Blick genommen wird – sei es in dem Kommentar von Jens Göken über deren Zerstörung durch Künstliche Intelligenz, der düstere Diagnosen mit stiller Zuversicht verbindet; in der Rezension, die Ute Hallaschka dem brandneuen Thriller ›Going Zero‹ von Anthony McCarten gewidmet hat, in dem eine Bibliothekarin die Überwachungsmaschinerien unserer Zeit herausfordert; oder in dem facettenreichen kulturhistorischen Aufsatz von Ruedi Bind, in dem geschildert wird, wie die Literatur der Goethezeit unser Verhältnis zur Natur nachhaltig verwandeln half.
Wie es sich für eine anthroposophische Zeitschrift gehört, hatten wir uns in der Redaktion schon seit langem darauf verständigt, das vorliegende Heft der Weihnachtstagung von 1923/24 zu widmen. In der Tat haben wir so viele Beiträge zu diesem Thema zusammenstellen können, dass es auch den Schwerpunkt des nächsten Heftes bilden wird. Doch wollen wir trotz dieses erhebenden Jubiläums an den oft niederdrückenden Zeitereignissen nicht vorbeigehen. Ich bin János Darvas sehr dankbar dafür, dass er seine Rezension des Buches ›Die Juden im Koran‹ von Abdel-Hakim Ourghi nach dem Überfall der Hamas auf Israel überarbeitet und berührende Worte gefunden hat, die von Versöhnung sprechen, ohne vom muslimischen Antisemitismus zu schweigen. Im Anschluss weist Salvatore Lavecchia auf problematische Aspekte der sogenannten Entkolonialisierung hin, die inzwischen auch dadurch offensichtlich geworden sind, dass mit dieser Idee oft eine beunruhigende Tendenz zur Relativierung terroristischer Gewalt einhergeht. Und Bernd Brackmann denkt über ›Wirklichkeitsverlust und totalitäre Tendenzen‹ als Krisensymptome unserer Demokratie nach.