Zum Umgang mit der Corona-Pandemie in der Türkei
Männer in Ganzkörperschutzanzügen vor einem Tankwagen spritzen menschenleere Straßen ab. Bilder aus den ersten Corona-Tagen in der Türkei – d.h. nach der Meldung des ersten offiziellen Infektionsfalls am 11. März – zeigten so großflächige wie beliebige Desinfizierungsaktionen im öffentlichen Raum, angeordnet mit dem ersten Corona-Erlass vom 13. März. Bilder, die staatliche Fürsorge und Sicherheit suggerierten, wo im Grunde keine war. In der Türkei verschärft die Corona-Pandemie vor allem die Wirtschaftskrise und die Krise des Vertrauens in Staat, Politik und Medien. Lange herrschte die auch staatlicherseits propagierte Auffassung von einer Art nationaler Immunität vor, manche behaupteten gar, Türken seien genetisch weniger anfällig für das Virus. Erinnerungen an die Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl kamen hoch, als Deutschland den Import von Haselnüssen aus der mutmaßlich radioaktiv verseuchten Schwarzmeerregion stoppte, ein türkischer Minister aber vor die Kameras trat, demonstrativ Tee derselben Provenienz trank und sich brüstete: »Uns kann nichts geschehen.«
Welchen Beitrag kann Anthroposophische Medizin in der Versorgung von Covid-19 leisten?
Anfang des Jahres wurde die WHO auf einen neuartigen Virustyp aufmerksam, als plötzlich 41 Personen um den Huanan-Seafood-Markt im chinesischen Wuhan eine schwere Lungenentzündung entwickelten. Der isolierte Erreger stellte sich als ein Coronavirus (SARS-CoV-2) heraus und gilt als neue Zoonose, d.h. ein Virus ist aus dem Tierreich auf den Menschen übergegangen. Solche Zoonosen können ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen, da das Immunsystem des Menschen bisher keine Immunität dagegen aufbauen konnte. Als Zoonosen gelten auch Infektionen wie Ebola, HIV, die Vogelgrippe (SARS-1), Nipah, das West-Nil-Virus, MERS oder das Zika-Virus. Die Letalitätsraten (= Sterberate bei Infektion) betrugen bei Ebola 50-90%, bei HIV ohne Therapie in den ersten Jahren 100%, bei zuletzt aufgetretenen Zoonosenwie dem Nipah-Fieber 40-70% und dem MERS-Coronavirus 20-40%. Somit bestand zu Beginn auch für Covid-19 die Frage nach der Gefährlichkeit für den Menschen.
Frankreich und der »Krieg« gegen Covid-19
»Wir sind im Krieg«, wiederholte Emmanuel Macron sechs Mal in seiner Ansprache zur Corona-Pandemie am 16. März 2020: »Ich rufe alle Akteure in Politik, Wirtschaft, Sozialwesen und Vereinen, das gesamte französische Volk, auf, sich dieser nationalen Union anzuschließen, die es unserem Land in der Vergangenheit ermöglicht hat, so viele Krisen zu überwinden.« Ähnliche Worte hatten die Franzosen schon 2015/16 gehört, als sein Vorgänger François Hollande anlässlich der Attentate in Paris einen »Krieg gegen den Terrorismus« erklärte, was den bis 2017 herrschenden Ausnahmezustand rechtfertigen sollte. Aus dieser und anderen Erfahrungen heraus sollte man besonders wachsam sein, wenn militärische Ausdrücke in Krisen angewendet werden. Sie zielen in der Regel darauf ab, einen »heiligen Bund« mit den Regierenden zu schließen, sodass ihre Politik ohne Widerstand durchgeführt wird.
Impressionen aus Südafrika
In Südafrika kommen Dinge zusammen, die sonst weit auseinanderliegen. Zwischen einem Township, wo Menschen ohne die einfachsten Lebensgrundlagen wohnen, und einer Müllkippe, die sich als langgestreckter Hügel aus der Landschaft erhebt, liegt ein Industriegebiet mit einer Fabrik, in der mit deutschen Maschinen Pflastersteine aus Beton hergestellt werden. Von den insgesamt 400 Beschäftigten sind hier vor Ort etwa die Hälfte tätig. In einer Halle hört der Besucher ein Streichquartett spielen, Arbeiter sitzen auf Paletten und Kanistern zwischen den Maschinen und hören zu. Mozart in Johannesburg – Schwarze spielen, Schwarze hören hingegeben zu, zwei Weiße stehen etwas abseits, der Besuch und seine Begleitung. Die Arbeiter kommen aus dem Township und sind froh, hier Arbeit zu finden. Einmal in 14 Tagen kommen die Musiker und spielen insgesamt drei Stunden lang in den verschiedenen Produktionsstätten und Büros der Fabrik.
Seit Jahren ist die Rede davon, dass das gesellschaftliche Klima rauer und die Art und Weise, diverse Themen und Problemfelder zu diskutieren, weniger von sachlichen Argumenten als von hitzigen Emotionen bestimmt wird. Eine Spielart der politischen Debatten, die immer mehr an Einfluss gewinnt, ist dabei die Frage des Umgangs mit Minderheiten, die sich in identitätspolitischen Diskursen artikuliert. Deren »rechte« und »linke« Varianten nisten sich zunehmend in das Lager einer sich als liberal verstehenden »Mitte« ein. Während nun über »rechte« Identitätspolitiken unzählige kritische Studien und Artikel vorliegen und sich rechte Identitätspolitik in ihrer imaginierten ethnisch-nationalen und kulturellen Identität als atavistisches Konstrukt selbst ad absurdum führt und auch kaum Resonanz erfährt, erfreut sich »linke« Identitätspolitik in ihrem Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten einer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz. Das mag auch daran liegen, dass der mit der linken Identitätspolitik einhergehende Opferdiskurs Mitgefühl evoziert. Aber auch das hat eine Kehrseite. Was nämlich den »linken« mit dem »rechten« Identitätsdiskurs verbindet, ist der Glaube an die Macht der Kollektive – wie auch immer diese benannt und ideologisch aufgeladen werden. Und in dem Ensemble gegebener und unveränderbarer Gruppeneigenschaften, als deren Teil sich das Individuum zu begreifen hat, kommt dessen autonome Selbstbestimmung auf der Basis zu erringender Ideale nicht vor.
als Symptom des materialistischen Intellektualismus
Wieso kann eine in den meisten Fällen relativ milde verlaufende, grippeähnliche Infektionskrankheit die moderne Welt weithin zum kollapsartigen Erliegen bringen? Die allfälligen Antworten sind einfach: »Es gibt keine Impfung oder Therapie«; »Gesundheit ist das Wichtigste«; »Sicherheit geht vor«; »Wir müssen uns um die älteren Risikopatienten kümmern«; »Wir müssen die Krankenhäuser vor Überlastung schützen« etc. Das ist alles richtig, niemand kann und wird es bestreiten, nicht einmal Donald Trump oder die AfD. Doch genauso richtig ist es, dass zwischen 97 und 99,8 Prozent aller Erkrankten nur geringfügige Symptome aufweisen und nach wenigen Tagen wieder genesen. Statistisch gesehen ist das zwar weniger als bei einer üblichen Grippe, doch die Corona-Zahlen sind mit verschiedenen Unsicherheiten bezüglich ihrer Vollständigkeit und Aussagekraft behaftet. Weil man Tote aber nicht gegeneinander aufrechnen kann stellt sich die Frage, ob wir von jetzt an jeden Winter die Welt unter Quarantäne stellen wollen.
Die Wahlen in Israel und ihre deutsche Rezeption
Persönliche Vorbemerkung: Die Niederschrift dieser Worte findet 72 Stunden nach den letzten israelischen Parlamentswahlen statt – in einer Stimmung, die vergleichbar ist mit der Trauer angesichts des Todes einer geschätzten Person aus dem nahen sozialen Umfeld. Etwas in der israelischen Gesellschaft ist nicht mehr da. Ob es in einer fernen Zukunft wiedergeboren wird, ist nicht absehbar. Ein Israeli, der auf Hebräisch denkt, aber seine Gedanken – zwar außerhalb Deutschlands, doch im (»neutralen«, d.h. schweizerischen) deutschsprachigen Raum – auf Deutsch notiert, vermag diesen örtlichen und sprachlichen Kontext nicht zu ignorieren.
›Ekta Parishad‹ als Beispiel einer sozialen Bewegung
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und unsere Eltern glaubten, wir seien nach Ausbombung, Evakuierung und Flucht »angekommen«, wurden uns Kindern kleine Gartenbeete zum Bestellen und Pflegen zugeordnet. Da wir in diesen ersten Nachkriegsjahren oft Hunger hatten, säten wir schnell Wachsendes und direkt Essbares, Radieschen und Möhren. Neugier und Hunger ließen mich beim Hervorsprießen der ersten Blätter die Pflänzchen herausziehen – wenigstens ein kleines bisschen – um zu sehen, ob sich schon etwas Rotes, Essbares zeigte. Ich lernte aus dieser pädagogischen Maßnahme meiner Eltern, dass die Keimblätter, also die allerersten Blätter, stets anders aussehen als die der späteren Pflanze, und ich erlebte, dass unvorsichtiges Hinschauen einen Wachstumsprozess gefährden und abbrechen kann.
Die erweiterte Demokratie – Teil IV
Der moderne Mensch stellt sich der Welt als ein Ich gegenüber. Innerhalb seines Ich erlebt er die Ideenwelt. Was sich demgegenüber vor seinen Sinnen ausbreitet, zählt er zu einer unabhängig von seinem Ich existierenden Außenwelt. Sein Nachdenken über die Sinneswahrnehmungen führt ihn allerdings dazu, in diesen Modifikationen seines Gehirns durch eine Außenwelt zu sehen, die ihrerseits nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Die Wirklichkeit hinter der Farbe Rot etwa stellt er sich als Prozess auf molekularer, photochemischer und elektrischer Ebene vor. Ein solcher Zusammenhang ist nicht den Sinnen als Wahrnehmung, sondern dem Denken als Idee gegeben. Statt dem Inhalt seiner Sinneswahrnehmungen spricht er somit seiner Idee eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz zu. Sie ist für ihn ein unveränderliches »Naturgesetz«. Ganz anders dagegen die Kulturideen, von den religiösen Inhalten bis zu den Menschenrechten: Diese erlebt der Gegenwartsmensch als willkürliche Produkte seines Geistes.
Die erweiterte Demokratie – Teil III
Für den Liberalismus ist Gemeinschaft nicht das Ergebnis eines bewussten gemeinsamen Wollens, sondern in sich absichtsloser Einzeltaten. Dem steht der Demokratismus entgegen, der die Gemeinschaft nach menschlichen Ideen konstruieren will. Für ihn werden die individuellen Handlungen erst mittels der sie verbindenden, gemeinsam beschlossenen Ideen zu Elementen eines sozialen Ganzen. Anstelle des als naturähnlich empfundenen »Marktmechanismus« tritt hier das menschliche Ideal, das mit Hilfe der Staatsgewalt auch gegen sich widersetzende Minderheiten durchgesetzt wird. Beide Lager können sich mit ihrer Meinung auf beobachtbare Tatsachen stützen. Soziale Einrichtungen wie die Menschenrechte, das Eigentum oder die Sozialversicherung sind unzweifelhaft Produkte des menschlichen Geistes und verdanken ihre Wirksamkeit der staatlichen Gewalt. Sobald er sich wirtschaftlichen Zusammenhängen zuwendet, stößt der Demokratismus jedoch an eine natürliche Grenze. Hier stehen seinem Universalanspruch die ökonomischen Instinkte entgegen, welche die Fruchtbarkeit individueller Freiheit notgedrungen anerkennen müssen. Mag der auf Meinungsbildungs- und Abstimmungsverfahren trainierte Verstand auch leugnen, dass ökonomische Prozesse nicht demokratisch geregelt werden können – die leiblichen Bedürfnisse sprechen doch ihre eigene Sprache.
Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.
Anmerkungen zum Literaturnobelpreisträger Peter Handke
Als bekannt wurde, dass der österreichische, nahe Paris lebende Schriftsteller Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis 2019 ausgezeichnet werden sollte, hagelte es Kritik an dieser Entscheidung der Schwedischen Akademie. Der US-amerikanische Autorenverband P.E.N. zeigte sich .sprachlos. über die Auswahl und beklagte, mit Handke werde einem Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen, der »historische Wahrheiten« untergrabe und den »Ausführenden eines Genozids Beistand geleistet« habe. Ähnlich äußerte sich der Preisträger des Deutschen Buchpreises Sasa Stanisić in seiner ›Wut-Dankesrede‹, indem er Handkes Auslassungen in Texten wie ›Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise‹ (1996), ›Unter Tränen fragend‹ (2000) und ›Die Tablas von Daimiel‹ (2005) einen Hang zur Lüge attestierte. Überhaupt kam im Vorfeld der Verleihung des Buchpreises eine Debatte in Gang, die zum einen wie eine Neuauflage und Kopie verschiedenster Handke-Debatten der Vergangenheit anmutete, und zum anderen mehr oder minder unfreiwillig Argumentationsmuster und Diffamierungsstrategien freilegte, auf die Handke in seinen die Jugoslawienfrage tangierenden Schriften immer wieder hingewiesen hat. Denn Handkes Analyse der medialen Berichterstattung über dieses Thema und ihrer suggestiv-manipulativen Mechanismen in Wort und Bild scheint der wahre – und zugleich lässig ignorierte – Grund zu sein, weshalb sich seine Kritiker an ihm abarbeiteten und den alten Vorwurf einer angeblichen Unterstützung des »Schlächters Milosević« reproduzierten.
oder: Das Christliche in der Politik
Im Europawahlkampf wurde einmal mehr beklagt, wie inhaltsleer die Parolen der Volksparteien sind. Dagegen wird eher pflichtschuldig ins Bewusstsein gehoben, wie anachronistisch das C im Parteinamen der christlich-demokratischen (bzw. sozialen) Union ist. In diesem C verschränken sich Kalkül und Sentimentalität. Es geht ja nicht in erster Linie um den Glauben, der immer noch als Privatsache gilt, sondern um eine kulturelle Prägung, um die Wertetradition des Abendlandes – ›Die Christenheit oder Europa‹, um den Titel des 1799 entstandenen Aufsatzes von Novalis heranzuziehen.
Die erweiterte Demokratie – Teil II
ImInternet tobt ein Meinungskampf zwischen Klimaaktivisten und »Klimaleugnern«. Während die einen »mit Augen zu sehen« glauben, wie CO2 die Erde erwärmt, sprechen die anderen von Panikmache im Dienste finanziellerInteressen. Beide Lager vermuten hinter der Meinung des jeweils anderen Manipulationen oder gar Verschwörungen. Nicht wenige »Klimaleugner « behaupten, ›Fridays for Future‹ werde von Finanzinvestoren wie George Soros »gemacht«, während Klimaaktivisten derartige Skepsis wiederum für das Werk von »PRAgentender Reichen und Mächtigen« halten. Interessanterweise sehen also beide Lager irgendwie »den Neoliberalismus« am Werk. Uneinigkeit herrscht nur darüber, was diesem nun eher in die Hände spielt: die von Schülern geforderte CO2-Bepreisung oder die Leugnung der CO2-Problematik. Hier soll keine Partei für die eine oder andere Seite ergriffen, sondern die Aufmerksamkeit auf das gelenkt werden, was beide Seiten verbindet: die Unsicherheit in der Einschätzung der ökonomischen Kräfte. Und außerdem die Tatsache, dass beide dieDemokratie für die einzig mögliche Form der Volksherrschaft halten und deshalb den Staat auch in der Verantwortung für die Wirtschaft sehen. Beide Lager bewegen sich somit im Koordinatensystem derselben Weltanschauung. Der Dualismus zwischen Markt und Staat als selbstverständliche Voraussetzung jeglicher Meinungsbildung ist nämlich seinerseits das Werk des Neoliberalismus. In seiner Überwindung, und nicht etwa in der Beseitigung einzelner Symptome der Welt-Misswirtschaft, liegt die Lösung der Klimafrage.
Ein Jahr Gelbwesten-Proteste
Man stelle sich vor, dass in einem autoritär regierten Land, sagen wir Russland, seit über einem Jahr tausende von Menschen jeden Samstag auf die Straße gehen, um gegen ihre Regierung zu protestieren. Man stelle sich weiter vor, dass die Regierung immer wieder gewaltsam gegen diese Demonstranten vorgeht, mit Tränengas und Gummiknüppeln, aber auch mit Gummigeschossen, die so schwere Verletzungen hervorrufen, dass 24 Menschen ein Auge verloren haben, fünf Menschen eine Hand abgerissen wurde und ein Mann einen Hoden verlor; dass eine 80-jährige Frau starb, weil sie von einer Tränengasgranate ins Gesicht getroffen wurde; und dass Organisationen wie ›Amnesty International‹ und ›Reporter ohne Grenzen‹2 das harte Vorgehen der Polizei kritisieren. Wäre das nicht in unseren Medien ein Thema, das wiederholt behandelt und von moralischen Verurteilungen begleitet würde? Wenn es um Russland ginge, ganz bestimmt. – Aber es geht ja um Frankreich.
oder: Die zwei Quellen verkehrter Menschlichkeit
Dieser Artikel ist aus einem Dialog entstanden. Martin Large gibt zunächst eine bedrückende Beschreibung der politischen und sozialen Situation seines Heimatlandes Großbritannien. Anschließend zeigt Stephan Eisenhut, dass sich hier viele Entsprechungen zu dem finden, was Rudolf Steiner im Dezember 1919 speziell für die aus England angereisten Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft über Niedergangs- und Aufbaukräfte sowie deren Zusammenhang zum alten und zu einem erneuerten Mysterienwesen ausgeführt hat. Dem Dialog zwischen englischem und deutschem Geistesleben kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu.
Das kürzlich vorgelegte Klimaschutzpaket lässt sich nicht anders als ironisch kommentieren. Was als Endziel der CO2-Bepreisung vorgestellt wird, ist eine politische Verhaltenstherapie zur Modifikation der Volksseele. Offenbar soll die Bevölkerung nun mit sanfter Gewalt wie Herdenvieh in die richtige Richtung gelenkt werden. Die zunächst vertagte, aber dann doch irgendwann – wenn’s die Leute vielleicht wieder vergessen haben – kommende Gebührenordnung ist so prozessual eingerichtet wie ein Naturgeschehen: eine allmählich ansteigende finanzielle Belastung, an die man sich gewöhnen wird wie an die zunehmende Hitze. Wirtschaft und Industrie werden ebenso gelenkt. Solange sich der Schaden noch rechnet, wird weiter mit Emissionen gehandelt. Die Kosten-Nutzen-Bilanz soll von selbst dafür sorgen, dass neue und erdfreundliche Technologien hervorgebracht werden. Das ist das Naturgesetz des Marktes, das sich ja schon in der Vergangenheit als so segensreich erwiesen hat.
Die erweiterte Demokratie – Teil I
Der vorliegende Aufsatz skizziert die Grenzen der Wirksamkeit demokratischer Prozesse. In den folgenden Teilen der hiermit beginnenden Serie wird dann aufgezeigt, wie sich das Volk gegenwärtig durch seine Fixierung auf demokratische Abstimmungsverfahren selbst entmachtet und der Herrschaft durch Finanz- und Politeliten unterwirft. Vor dem Hintergrund der Klimadebatte und der Enteignungs-Forderungen des Juso-Chefs Kevin Kühnert sollen demgegenüber praktische Wege beschrieben werden, wie »alle Macht« tatsächlich vom Volk ausgehen könnte.
Zu einer verantwortungsethischen Streitschrift des deutschsyrischen Politologen Bassam Tibi
Die Terroranschläge in Christchurch und Halle sowie der Mord an dem CDU-Abgeordneten Walter Lübcke führen auf verstörende Weise vor Augen, dass an den Rändern unserer Gesellschaft eine Radikalisierung stattfindet, die nicht zuletzt auch ein Ausdruck der wachsenden Polarisierung in diesem Land ist. Es hat den Anschein, als ob die Bereitschaft, einander zuzuhören und das Berechtigte in der Anschauung des jeweils anderen wahrzunehmen, gegenwärtig im Sinkflug begriffen ist. Indes streiten Experten darüber, ob der Antisemitismus, der in dem zwei Todesopfer fordernden Anschlag auf die Hallenser Synagoge eine neue Dimension der Gewalt erfuhr, in den letzten Jahren zugenommen habe. Wolfgang Benz, der frühere Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, geht von einem weitgehend unveränderten Bodensatz an judenfeindlichen Gesinnungen seit den 60er Jahren aus, der dank der Anonymität der »sozialen Medien« sowie des Erfolges rechtspopulistischer Parteien im In- und Ausland heute nur unverfrorener zutage trete.
oder: Perversion des Auserwähltseins
Die zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten abgehaltenen Wahlen in Israel sind ein Anlass, den Blick auf bestimmte Aspekte der aktuellen gesellschaftlichen Lage dieses Landes zu lenken. Davon, diese Lage umfassend zu verstehen oder zu erklären, kann kaum die Rede sein. Eher geht es um eine möglichst genaue Beobachtung der Phänomene – und um eine Schilderung von Bildern und Gedanken, die im Bewusstsein eines von weitem beobachtenden Einheimischen aufsteigen. Keine verborgenen Wahrheiten oder Enthüllungen, sondern ein besorgter Blick auf den offensichtlichen Zerfall von Werten und sozialer Kohärenz.
Auch ein Beitrag zur anthroposophischen Diskussion über Verschwörungstheorien
Die Leserbriefe von Jens Heisterkamp und Johannes Denger zu Ralf Sonnenbergs Artikel ›Die offene Gesellschaft und ihre Anthroposophen‹ lassen vermuten, dass wir mit dem Thema »Verschwörungstheorien« – auch aus anthroposophischer Perspektive – noch nicht an ein Ende gekommen sind. Daher sollte man überlegen, wie weitere Diskussionen konstruktiv zu führen wären. Ihre Grundlage sollten Sachkenntnis sein sowie Einsicht in Haltungen, Arbeitsmethoden und Argumente der Befürworter von Verschwörungstheorien (im Folgenden »Skeptiker« genannt) und ihrer Kritiker.
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika IV
Die 7-jährigen Zwillinge Fynn und Orin aus unserer kleinen Reisegruppe wissen immer, wie alt die hinterlassenen Bollen der Elefanten sind. Je dunkler, feuchter und verbackener, desto jünger; je heller, trockener und auseinandergefallener, desto älter. Trotz vieler Mopane-Bäume – der Hauptnahrung der Wüstenelefanten – und der Losungen, denen wir fast überall begegnen, bekommen wir aber keine Elefanten zu Gesicht. Das Flussbett weitet sich, größere Bäume gesellen sich dazu und der Mopane weicht dichtem, struppigem Gebüsch.
Zu Theodor W. Adorno: ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹
Gleichsam als Vorgeschmack auf die Gesamtausgabe der Nachkriegsvortr.ge Theodor W. Adornos hat der Suhrkamp-Verlag den Vortrag ›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‹ herausgebracht, den der große Philosoph am 6. April 1967 vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in Wien hielt. Adorno verfolgte damit, wie er einleitend kundgab, nicht die Absicht, »eine Theorie des Rechtsradikalismus zu geben, sondern in losen Bemerkungen einige Dinge hervorzuheben, die vielleicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig sind.« (S. 9). Dass sich die Lektüre dennoch lohnt, liegt daran, dass dem heutigen Leser die meisten dieser Dinge erst recht nicht gegenwärtig sind.
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika III
Markus, bei dem ich zwei Wochen in einer kleinen Lodge im Orongo-Gebirge wohne, hat die Vorliebe, seine Gäste zum Sonnenuntergang auf einen Berg zu führen. Kein Afrika-Urlaub ohne spektakuläre Fotos von Sonnenuntergängen! So komme ich in den Genuss, immer wieder den Farbenzauber des Abendhimmels zu bestaunen. Morgens verschlafe ich meist die Dämmerungsfarben, geht hier die Sonne doch früh auf. Allerdings geht sie auch früh wieder unter. Markus ruft Kimbra den Hund, schultert eine Kühltruhe, und wir laufen auf einen dieser langsam in der Gluthitze Afrikas abplatzenden runden Granithügel, von denen aus man die Savanne bis zum Horizont überblickt. Der Zauber beginnt schon, als wir ankommen: Aus dem Blau des Himmels neigt sich die blendende Kugel langsam hinab zu einem dunstigen Horizont, an dem es farbig zu werden beginnt. Dies ist ein Augenblick, der Sonne zu gedenken. Sie ist es letztlich, die hier alles beherrscht.
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika II
Auf einem Hügel im Norden Namibias stehend, bin ich umgeben von der großen Arena eines Tales. »Tal« ist allerdings ein völlig falsch geprägter Begriff für das, was ich hier als ein solches empfinde. Denn »Tal« hat für mich immer etwas Längliches, und das passt hier nicht. Besser wäre »Schale«, »Schüssel« oder »Senke«. Aber zum Begdlf des Tales gehört, dass es Berge sind, die es begrenzen, und dass sich unten Wasser sammelt, vielleicht ein Bach oder ein Fluss fließt oder es dort zumindest grüne Matten gibt. All das gehört hier auch dazu, nur ist das Tal viel weiter, größer, ruhiger und runder. Ich erlebte mich bisher in Afrika immer von die Sicht einfassenden Bergen umgeben. Berge bilden jeweils eine Grenze für das Auge. Sie wirken wie eine letzte Haut, die mich in der Ferne umgibt, als gehörten sie noch zu mir selbst oder zu meiner unmittelbaren Umgebung und ich könnte sie mit den Fingerspitzen berühren. Sie haben ein menschliches Maß, mein Erleben erreicht sie, weshalb sie nicht fremd oder gar fenseitig wirken, sondern vertraut, mich wie von Weitem umarmend.
Zur Abwesenheit eines öffentlichen Diskurses über die Ziele der Digitalisierung in Deutschland
»Die Digitalisierung«, so heißt es in einem Merkblatt des ›Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen‹, »wird vielfach als unaufhaltsamer, sich beschleunigender Prozess erlebt und dargestellt. Sie ist aber keine ›Naturgewalt‹, sondern eine von Menschen vorangetriebene Entwicklung. Sie kann und sollte daher gestaltet werden. Damit dies gelingen kann, müssen die Prozesse und Auswirkungen dieser technischen Revolution von den gesellschaftlichen Akteuren verstanden und ihre Verursacher*innen und Treiber transparent gemacht werden. Wir brauchen Räume für die Diskussion darüber, wie die Digitalisierung mit gesellschaftlichen Zielen verbunden werden kann und welche Rollen öffentliche und private sowie lokale und globale Akteure dabei spielen sollten.«
Beobachtungen vor den Neuwahlen in Istanbul
»In Şişli herrscht Aufstand, die Leute pfeifen und schlagen auf Töpfe und Pfannen«, twitterte die türkische Schriftstellerin Aslı Tohumcu am 6. Mai 2019, gut anderthalb Stunden, nachdem die türkische Wahlbehörde die Kommunalwahlen in Istanbul annulliert hatte. Bald waren auch in anderen zentralen Bezirken der Metropole unzählige Menschen auf der Straße. Die spontane Empörung erinnerte an die Gezi-Proteste des Jahres 2013. Der frisch gekürte Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu von der sozialdemokratischen CHP gab sich indes gelassen, als der Protest losbrach, und verkündete über Twitter: »Wir alle gemeinsam tragen die Hoffnung, das Schöne und Gute. Macht euch keine Sorgen, alles wird sehr gut.«
Hintergründe eines Desasters
Anfang Mai, während ihres Besuchs in den sogenannten Sahel-Staaten, machte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine geradezu sensationelle Bemerkung über das von andauerndem Bürgerkrieg gezeichnete Libyen, die in den deutschen Medien allerdings kaum Beachtung erfuhr. »Deutschland fühle eine Mitverantwortung für die Lage in dem afrikanischen Staat,« berichtete die Agentur Reuters, »weil es sich im UN-Sicherheitsrat 2011 bei der Abstimmung über die westlichen Militärintervention trotz Zweifeln enthalten habe. ›Immer wenn man etwas nicht verhindern kann, hat man auch eine Verantwortung dafür‹, sagte Merkel.«
Goetheanistische Betrachtungen aus Afrika I
Als mein Zelt steht und ich die lange Fahrt abgeduscht habe, verstaue ich vertrauensvoll meine Siebensachen im Zelt und laufe wieder in die Stadt Livingstone zum Markt, wo die Sammeltaxis abfahren. Ich werde freundlich zum richtigen Minibus geleitet und muss nur kurz warten, bis der alte Toyota bis unters Dach mit Menschen gefüllt ist, sodass wir – mit federlosen Achsen und fast auf dem Asphalt aufliegend – losfahren. Eine junge Dame mit fantastisch geflochtener Haarpracht pflegt Smalltalk und unterhält mich mit Neuigkeiten. Ihr Englisch ist weit besser als meines. Der Fluss führe für diese Jahreszeit noch ungewöhnlich viel Wasser, sagt sie. Der Winter, der jetzt bald komme, wenn die Trockenzeit eingesetzt habe, wenn Niedrigwasser sei, dann sei eigentlich die beste Zeit für einen Besuch der Wasserfälle.
Eine Betrachtung zu den Parlamentswahlen in Israel
Als gebürtiger Israeli in deutscher Sprache über Entwicklungen im Land seiner Herkunft zu sinnieren, lässt – wenn nicht beim Autor, dann beim Leser – noch manches andere mitschwingen. Denn das Ende des Großdeutschen WahnundAlbtraums mündete nach dem Zweiten Weltkrieg zeitnah in den Anfang einer israelischen Realität, die inzwischen ebenfalls für viele Menschen inner- und außerhalb Israels einen Albwachtraum bedeutet.