Renate Riemeck und das passive Wahlrecht
Am 12. November 1918 rief der Rat der Volksbeauftragten das Wahlrecht für Frauen in Deutschland aus. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs am Ende des Ersten Weltkriegs und die Novemberrevolution machten es möglich. Am 30. November 1918 wurde das neue Wahlrecht mit einer Verordnung gesetzlich fixiert. Bereits am 19. Januar 1919 konnten Frauen die Deutsche Nationalversammlung mitwählen, was über 90% wahrnahmen. 37 Frauen erhielten einen Sitz im Parlament. Aber die von den Feministinnen erhoffte Gewichtsverlagerung zugunsten jener Parteien, die für die Gleichberechtigung der Frau eintraten, blieb aus: Das Wahlverhalten der Frauen war überwiegend gemäßigt bis konservativ ausgerichtet. Die Machtverteilung blieb beim Alten.
Zukunftsbilder junger Ägypter
»Träume mit mir von einem Morgen, das kommen wird, und wenn es nicht kommt, werden wir es uns selbst holen. Wir versuchen die ersten Schritte auf unserem Weg, viele Schritte führen uns schließlich zu unserem Traum. Wie oft wir auch fallen, wir werden wieder aufstehen können.« Dieser schlichte, naiv anmutende Liedtext wurde nach seiner ersten Veröffentlichung 2008 rasch zum Inbegriff der Zukunftssehnsüchte der jungen, gebildeten Generation in Ägypten. Während der Revolutionswochen 2011 gehörte das Lied mit der sanft schwingenden Melodie auf dem Tahrirplatz in Kairo zu einem der am meisten gespielten Musikstücke und machte seinen Schöpfer Hamza Namira zur Stimme der Protestbewegung. Seit einigen Jahren in den staatlichen Medien verboten, kann man es heute nur noch gelegentlich im öffentlichen Raum hören, nostalgische Erinnerungen auslösend. »Träume mit mir von einem Morgen …« – was bedeutet das im Jahr 2017?
Eine Zeitbetrachtung
Rudolf Steiners Hinweis auf Ahrimans Instrument, dem Menschen das Gedruckte in Form kleiner schwarzer Dämonen – den Buchstaben – anzubieten, zeigt, wie im sechzehnten Jahrhundert Ahriman sich noch um den Zugang zum Menschen bemühen musste. Er bot Nützliches an, das Konservieren und Verbreiten von Informationen, um so dem Menschen Wissen leichter zugänglich zu machen und die Weiterentwicklung nicht nur Einzelner, sondern vieler zu ermöglichen. Dies führte aber nicht nur zur Emanzipation von natürlichen Zwängen durch wachsendes Wissen, das schnell verbreitet werden kann, sondern auch zu einer Förderung seiner Macht. Gedrucktes Schrifttum ist Studienmaterial mit großer Reichweite und allgemeiner Zugänglichkeit, weit über elitäre Kreise hinaus. Die alte Ordnung der Lehrer-Schülerbeziehung war jetzt nicht mehr zwingend gegeben. Der Mensch wurde mit Ahrimans Hilfe in die Freiheit entlassen, sich das Wissen zu beschaffen, das er sucht.
Wie unbemerkt – durch unsere Mithilfe – ein neues totalitäres Herrschaftssystem entstehen könnte
Zugegeben, es wirkt zunächst befremdlich, den Aufstieg, den bisherigen Verlauf und die Struktur der aktuellen Debatte um »Künstliche Intelligenz«, die »Digitale Revolution« und die »Gesellschaft 4.0« einmal durch eine ganz spezielle Brille, nämlich unter faschismustheroretischen Vorzeichen, zu betrachten – es ist aber dringend geboten. Denn es geht um nichts geringeres als den Schutz unserer Demokratie, unserer Freiheit, und unserer Rechtsstaatlichkeit. Die anwachsende Herrschaft »intelligenter«Maschinen, die uns zunehmend abschaffen, gängeln und kontrollieren, bedroht alles, was unsere Gesellschaft menschlich macht.
Beobachtungen vor den Neuwahlen in Istanbul
»In Şişli herrscht Aufstand, die Leute pfeifen und schlagen auf Töpfe und Pfannen«, twitterte die türkische Schriftstellerin Aslı Tohumcu am 6. Mai 2019, gut anderthalb Stunden, nachdem die türkische Wahlbehörde die Kommunalwahlen in Istanbul annulliert hatte. Bald waren auch in anderen zentralen Bezirken der Metropole unzählige Menschen auf der Straße. Die spontane Empörung erinnerte an die Gezi-Proteste des Jahres 2013. Der frisch gekürte Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu von der sozialdemokratischen CHP gab sich indes gelassen, als der Protest losbrach, und verkündete über Twitter: »Wir alle gemeinsam tragen die Hoffnung, das Schöne und Gute. Macht euch keine Sorgen, alles wird sehr gut.«
Die Wahlen in Israel und ihre deutsche Rezeption
Persönliche Vorbemerkung: Die Niederschrift dieser Worte findet 72 Stunden nach den letzten israelischen Parlamentswahlen statt – in einer Stimmung, die vergleichbar ist mit der Trauer angesichts des Todes einer geschätzten Person aus dem nahen sozialen Umfeld. Etwas in der israelischen Gesellschaft ist nicht mehr da. Ob es in einer fernen Zukunft wiedergeboren wird, ist nicht absehbar. Ein Israeli, der auf Hebräisch denkt, aber seine Gedanken – zwar außerhalb Deutschlands, doch im (»neutralen«, d.h. schweizerischen) deutschsprachigen Raum – auf Deutsch notiert, vermag diesen örtlichen und sprachlichen Kontext nicht zu ignorieren.
Es ist erstaunlich, dass sich die Menschen in ihrer Einschätzung der Corona-Krise und der Sinnhaftigkeit der Schutzmaßnahmen immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Im Widerspruch zur Mehrheit der Bevölkerung und zur Meinung sämtlicher Leitmedien gehen Hunderttausende gegen die gesundheitspolitischen Maßnahmen auf die Straßen, während die zum weit überwiegenden Teil bürgerlichen Demonstranten von einer führenden Politikerin als »Covidioten« beschimpft wurden. Warum prallen die Gegensätze so scharf aufeinander?
Notizen einer Krakau-Reise
Besuch der Wawel-Kathedrale; der Wawel-Hügel war schon vor Jahrtausenden besiedelt, das Schloss in langen Jahrhunderten polnischer Geschichte Königssitz, später nur noch Krönungsort. Wir betreten die Kathedrale durch das Haupttor; der prunkvolle silberne Sarg des Stanisław von Krakau (11. Jahrhundert) zieht den Blick auf sich, mehr noch: blockiert die Aussicht durch das Kirchenschiff zum eigentlichen Zielort, dem Altar … Eine Chronik aus dem 12. Jahrhundert berichtet, der Bischof Stanisław habe den seinerzeit herrschenden König Bolesław II. des Ehebruchs geziehen, dieser habe freilich alle Ermahnungen ignoriert und im Gegenzug kirchliche Besitzungen beschlagnahmt. Daraufhin habe Stanisław ihn von der Kommunion ausgeschlossen, wodurch der Streit eskaliert sei; Bolesław II. habe das Todesurteil über den Bischof verhängt und schließlich sogar persönlich vollzogen, indem er während einer Messe erschienen sei und den Bischof am Altar hingerichtet habe.
Eine Zwischenbilanz zum Brexit
In normalen Zeiten hätte Großbritannien nach den Ereignissen der letzten Wochen und Monate eine neue Regierung und die Premierministerin Theresa May wäre schon längst nicht mehr im Amt. Wie weit die üblichen Regeln der Politik in diesem Land nicht mehr greifen, oder anders ausgedrückt: Wie sehr seine politische Kultur verkommen ist, zeigt sich daran, dass May trotz einer verheerenden Niederlage im Parlament für ihren Brexit-Plan stur mit einer Politik fortfahren kann, die – wäre dieses Land eine Person – einem Akt der Selbstverletzung gleichkäme. Oder, wie es der EU-Ratspräsident Donald Tusk – offensichtlich am Ende seiner Geduld – Anfang Februar ausdrückte: »Ich habe mich gefragt, wie der besondere Platz in der Hölle für diejenigen aussieht, die den Brexit vorangetrieben haben, ohne auch nur einen Schimmer von einem Plan zu haben, ihn sicher durchzuführen.« Der irische Premierminister Leo Varadkar drückte eine ähnliche Meinung aus – worauf mancher, nur halb im Scherz, meinte, dass wir Briten schon wissen, wie es in der Hölle aussieht, denn das ganze Land werde gerade dorthin geschleppt.
Fortgesetzte Betrachtungen zu einem ununterbrochenem Krieg
Dem Schweizer Waldorflehrer und Anthroposophen Peter Lüthi, einem Kenner Russlands und der Ukraine, ist es im vorigen Jahr gelungen, beide Länder – in denen er seit den 90er-Jahren Kurse und Seminare abgehalten hat – mehrere Wochen lang zu bereisen. So etwas geht also. In der Zeitschrift ›Gegenwart‹ berichtet er darüber und schreibt: «Es kann mir gar nicht einfallen, den Lesern mitzuteilen, was ›Russland‹, ,›die Ukraine‹ oder ›das russische Volk‹ denken, fühlen und wollen. – Und jede eigene Wahrnehmung und Begegnung vermindert ein wenig meine Abhängigkeit von dem, was westliche, ukrainische oder russische Medien und Experten beweisen wollen. Ich glaube weder dem Spiegel noch dem Antispiegel, weder dem Mainstream noch dem Antimainstream [...]. Von beiden Seiten werde ich mit Eindeutigkeiten bearbeitet, die so wenig der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gerecht werden, die ich in jeder wahrgenommenen Wirklichkeit finde. Meine Sympathie oder Antipathie gegenüber Russland, den USA oder der Ukraine kann nicht das Kriterium sein, ob eine Information wahr ist. Da ich mir eingestehen muss, sowohl für ›Russland‹ wie für ›die Ukraine‹ Sympathien zu haben, komme ich um diese Einsicht nicht herum.« Mir geht es ebenso! Deshalb habe ich mir seinen Vorbehalt sehr zu Herzen genommen.
Betrachtungen einer Reservatsbewohnerin
Als die Welt noch jünger war – wie lange ist das her? Dieses Gefühl der Unbefangenheit dem Leben gegenüber, erst recht im Bewusstsein. Im Willen, der sich, kaum gefasst, nicht sogleich bedroht fühlte von Platzangst oder Erstickungsempfindung. Vielleicht ist das erst rund 25 Jahre her. Das klingt kurz – oder ein Vierteljahrhundert, das scheint etwas länger, obwohl es sich um denselben Zeitraum handelt, nur die Bezugsgröße ist eine andere. Auf kosmische Zeitverläufe bezogen ein Tropfen im Meer, und doch zugleich wieder im menschlichen Maßstab: Aktuell liegt rund ein Drittel der fünften nachatlantischen Entwicklungsperiode hinter uns. Wie dringend müssten wir uns verjüngen im zwischenmenschlichen Leben? Wie könnte sie aussehen, die Jugendlichkeit der Weisheit? Denn das ist ja die kulturelle Zukünftigkeit. Was hereinkommt ins Leben mit der Geburt und der Gebürtlichkeit, an übersinnlichen Impulsen und Energien, ist das eine – das andere ist die Verfasstheit unserer Zivilisation.
Man könnte neuerdings jeden Tag mit einem persönlichen Wahrspruch beginnen – jetzt, wo der Zusammenbruch, ob privat oder weltpolitisch, nahezu Normalität geworden ist.Wer nicht zusammenbrechen will, muss sich aufrecht erhalten! Das wäre so ein Spruch, ohne den man kaum noch durch den Tag bis zum Abend kommt. Aber es geht auch kleiner, konkreter, bescheidener. Sich zu sagen: Bleib ein Stündchen auf dem Sofa liegen und schone aktiv deine Nerven – oder: Iss ein Häppchen und tröste deine Galle, dass sie nicht überläuft. Sich um den eigenen Körper kümmern als Seelenwächter, damit der Geist weiter darin leben kann – oder anders herum? Wie auch immer: Es ist in diesen Zeiten zur Arbeit geworden, am Leben zu bleiben. Als ein halbwegs intaktes, integres Lebewesen. Geschweige denn als schöpferisches Geschöpf. Wer das sein, bleiben und werden will, hat genug damit zu tun.
Die politischen Parteien vor und nach der Corona-Krise
Durch die Corona-Krise hat sich nicht nur das gesellschaftliche Leben, sondern auch unser parlamentarisches System verändert. Denn die weitreichende Übertragung von Kompetenzen auf die Exekutive, insbesondere die deutlich ausgeweiteten Befugnisse des Bundesgesundheitsministers (der gegenwärtige ist ein gelernter Bankkaufmann), und die verfassungsrechtlich fragwürdigen Entscheidungen, welche die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer getroffen hat, haben eher zur Erosion als zur Konsolidierung des Systems beigetragen. Die Bevölkerung scheint diese quasi-monarchische Herrschaft aber größtenteils akzeptiert zu haben, nur ein kleiner Teil sieht das kritisch und rebelliert dagegen. Die CDU/CSU als Hauptregierungspartei mit Kanzlerbonus hat in den Umfragen deutlich gewonnen, während die Oppositionsparteien tendenziell eher verloren haben, nachdem sie sich teils ablehnend, teils zustimmend zu den Regierungsmaßnahmen positionierten. Welche weiteren Entwicklungen zeichnen sich ab?
Zu Silke Müller: ›Wir verlieren unsere Kinder‹
Dieses Buch handelt von einer Welt, welche durch die elektronischen Medien und die entsprechenden Empfangsgeräte entstanden ist. Solange die Medien analog waren, haben sie – zumindest überwiegend – über die Welt und die Ereignisse in ihr berichtet. Es kam gelegentlich vor, dass Ereignisse so arrangiert wurden, dass gute Bilder entstanden. Das war aber doch eher die Ausnahme. Für die Inhalte des vorliegenden Buchs gilt ausschließlich: Sie würden gar nicht existieren, gäbe es die durch die elektronischen Medien entstandenen Möglichkeiten und Bedürfnisse nicht. (Wenn ich hier von »Medien« spreche, ist das ein irreführender Notbehelf. Es fehlt ein passendes Wort.)
Zu Abdel-Hakim Ourghi: ›Die Juden im Koran‹
Diese Rezension hatte ich fast fertig geschrieben, als am Morgen des 7. Oktober – einem Schabbat, an dem das jüdische Fest Simchat Tora (Freude der Tora) gefeiert wurde – die radikal-islamistische Hamas vom Gazastreifen her in den Süden Israels einfiel, über tausend Israelis tötete und über hundert als Geisel nach Gaza verschleppte. Der Anlass ist bedeutend genug. Ich füge meinem Text deshalb nun einige Ergänzungen hinzu, die das Thema von Abdel-Hakim Ourghis Buch über Antisemitismus im Islam unmittelbar betreffen. Während ich dies schreibe, befinden sich Menschen allen Alters – Kinder, Mütter, Jugendliche, Greise – noch in der Gewalt der terroristischen Organisation. Sie sind offensichtlich nicht nur ein Unterpfand für einen eventuellen Austausch mit palästinensischen Gefangenen, sondern in erster Linie menschliche Schutzschilde, um die unausbleiblichen Vergeltungsmaßnahmen durch die israelische Armee zu erschweren. Der Schock ist groß in Israel und weltweit.
Vom Stehen in apokalyptischer Zeit
Wo stehen wir gerade? Wie stehen wir gerade? Das für eine innere und äußere Haltung verlangt die derzeitige Weltlage? Umgehend mit solchen Fragen stieß ich vor einiger Zeit auf den Schriftsteller Hans Erich Nossack. Er wurde 1901 in Hamburg geboren und starb dort im Jahre 1977. Selbst seit 1998 in dieser schönsten Stadt Deutschlands lebend, wurde Nossack mir zu einem Zeugen und Begleiter in apokalyptischer Zeit, auf den es sich zu hören lohnt.
Erscheinungsformen des Materialismus heute und vor 100 Jahren
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen zwei Vorträge aus dem Zyklus ›Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha‹ (GA 175). Rudolf Steiner hat diese Vorträge am 27. Februar 1917 und am 6. März 1917 in Berlin gehalten. In dem Vortrag vom 27. Februar spricht Steiner am Schluss über den Kinematographen (was wir heute Film nennen). Da heißt es: »Ein besonders hervorragendes Mittel, den Menschen in den Materialismus hinein zu jagen, ist das, was von diesem Gesichtspunkte aus kaum bemerkt wird: der Kinematograph. Es gibt kein besseres Erziehungsmittel zum Materialismus als den Kinematographen.«
Die Vertiefung der sozialen Spaltung fordert die Gesellschaft heraus
Es war nicht anders zu erwarten: Die Pandemie mitsamt ihren Folgen und den umstrittenen Regelungen zu ihrer Eindämmung lässt die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen. So prognostizierte David Nabarro von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich den Staats- und Regierungschefs dieser Erde, das Ausmaß der Armut und Unterernährung von Kindern werde sich weltweit bis zum nächsten Jahr verdoppeln. Namentlich die Abriegelungsmaßnahmen ließen »arme Menschen um ein Vielfaches ärmer« werden: »Schauen Sie sich an, was mit dem Armutsniveau passiert – es scheint, dass wir bis zum nächsten Jahr eine Verdoppelung der weltweiten Armut haben könnten. Es kann gut sein, dass sich die Unterernährung von Kindern mindestens verdoppeln wird, weil die Kinder in der Schule keine Mahlzeiten bekommen und ihre Eltern in armen Familien nicht in der Lage sind, sich das zu leisten.«
Welchen Beitrag kann Anthroposophische Medizin in der Versorgung von Covid-19 leisten?
Anfang des Jahres wurde die WHO auf einen neuartigen Virustyp aufmerksam, als plötzlich 41 Personen um den Huanan-Seafood-Markt im chinesischen Wuhan eine schwere Lungenentzündung entwickelten. Der isolierte Erreger stellte sich als ein Coronavirus (SARS-CoV-2) heraus und gilt als neue Zoonose, d.h. ein Virus ist aus dem Tierreich auf den Menschen übergegangen. Solche Zoonosen können ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen, da das Immunsystem des Menschen bisher keine Immunität dagegen aufbauen konnte. Als Zoonosen gelten auch Infektionen wie Ebola, HIV, die Vogelgrippe (SARS-1), Nipah, das West-Nil-Virus, MERS oder das Zika-Virus. Die Letalitätsraten (= Sterberate bei Infektion) betrugen bei Ebola 50-90%, bei HIV ohne Therapie in den ersten Jahren 100%, bei zuletzt aufgetretenen Zoonosenwie dem Nipah-Fieber 40-70% und dem MERS-Coronavirus 20-40%. Somit bestand zu Beginn auch für Covid-19 die Frage nach der Gefährlichkeit für den Menschen.
Wladimir Putin und sein Krieg
Ich hatte Wladimir Putins Invasion der Ukraine befürchtet und erwartet; doch als sie am 24. Februar 2022 in der Morgenfrühe tatsächlich begann, war ich, wie wohl die meisten meiner Zeitgenossen, zutiefst schockiert; weil das, was nicht geschehen durfte, eben doch geschah – und ich meine tiefe Ohnmacht spürte. Schon am Vortag hatte die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ ein Prosa-Gedicht (sozusagen ein ›Gedicht in Prosa‹ à la Turgeniew) von Uwe Kolbe veröffentlicht. Ich zitiere die ersten fünf Zeilen (wobei die erste Zeile auch die Überschrift ist): »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. / Der ehemalige Sowjetrepubliken beherrschende / vermutlich ehemalige Geheimdienstoffizier tut es / erneut: Angrenzende Gebiete werden angrenzende / Staaten, werden anerkannt, besetzt, einverleibt.«3 Dazu kontrastierend schildert Kolbe Reminiszenzen des inneren, kultivierten, »eigentlichen« Russland und endet wieder mit: »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.« Mit der Anfangszeile wird der Bogen zurück zu einem anderen, allgemein bekannten Ereignis geschlagen; denn vor 83 Jahren (das ist genau meine Lebenszeit!), verkündete Adolf Hitler mit diesen Worten, dieser Lüge den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Ein Faktencheck zum ›Digital Service Act‹
Im Juni 2022 stimmte der EU-Binnenmarktausschuss der ›Verordnung über digitale Dienste‹ zu, die weitreichende Folgen für die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung hat. Unverblümt sprechen die EU-Funktionäre nun auch das zugrunde liegende Weltbild aus: Unwahrheiten verhalten sich wie Viren, weshalb eine gute Regierung die Wahrheit ebenso pflegen muss wie die Volksgesundheit. Und zwar mit denselben Methoden: Verhinderung des Erstkontakts mit Unwahrheiten, Isolierung der infizierten Träger und perspektivisch Impfungen gegen falsche Meinungen. Der folgende Essay erläutert das neue Gesetz und seine Hintergründe.
Donald Trump als Präsident
In dem angeblich schmutzigsten Wahlkampf der US-amerikanischen Geschichte hat entgegen allen Voraussagen ein milliardenschwerer politischer Aussenseiter und Quereinsteiger die Wahl zum Präsidentenamt gewonnen. Dieser Wahlsieg dürfte weder alleine der populistischen Stimmungsmache Trumps noch manipulativer russischer Einmischung von außen zu verdanken sein. Dennoch gilt: Mit dem Versprechen, Amerika »wieder groß« zu machen und der operettenhaften Selbstinszenierung als Volkstribun im unermüdlichen Kampf gegen die moralische und politische Verkommenheit des Washingtoner Polit- und Medienestablishments konnte Trump Stimmen bei genau jenen Wählerschichten gewinnen, die einmal das klassische Klientel der Demokratischen Partei gewesen waren.
Zu Ulrike Guérot: ›Wer schweigt, stimmt zu‹
»In diesen ersten Märztagen 2020, als man in Österreich eine Stunde legal joggen durfte, fand ich mich einmal am Donaukanal in Wien, weit und breit allein auf weiter Flur, auf einer Parkbank, den Kopf wie Diogenes gen Frühlingssonne gerichtet, als vier bewaffnete Polizisten mich baten, den öffentlichen Raum zu räumen. Der Vorgang war so bizarr, dass ich ab da der Überzeugung war, dass ein Großteil der der Gesellschaft kollektiv in eine Übersprungshandlung getreten ist. Viele trugen etwa noch im eigenen Auto Masken. Alle drängten voller Panik in einen Zug, der immer schneller an Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Corona-Maßnahmen. Wer, wie ich, nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte aus beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet.« (S. 9f.) Von einer solchen anderen Warte aus hat Ulrike Guérot dieses Buch über die Corona-Zeit geschrieben, das ihr eigener österreichischer Verlag sich weigerte zu drucken, und das jetzt im Frankfurter Westend-Verlag erschienen ist.
Wie mediale Inszenierungen unser Urteilsvermögen beeinflussen
Seit etwa einem Jahr leben wir in einer »neuen Normalität«. Vieles ist anders geworden und ungewohnt – besonders für Anthroposophen. Man hatte es sich gut eingerichtet in der bürgerlichen Welt. Und die bürgerliche Welt hatte die Anthroposophen akzeptiert. Sicher, Kritik gab es immer. Nichtsdestotrotz wurden ›Demeter‹-Produkte immer beliebter, wer etwas auf sich hielt, benutzte ›Dr. Hauschka‹-Kosmetik oder ›Weleda‹-Produkte, und auch die Waldorfschule wurde in gut situierten Haushalten en vogue. Es war zwar immer noch ein bisschen ungewöhnlich, wenn man erwähnte, dass die eigenen Kinder auf die Waldorfschule gehen, aber auch etwas Besonderes. Und jetzt das: Gewissermaßen über Nacht ist man wider Willen zum »Querdenker« geworden, aus der Mitte der Gesellschaft an ihren rechten Rand katapultiert – also dahin, wo es so richtig dunkel wird.
Die erweiterte Demokratie – Teil V
Weil sie sich von einer Obrigkeit befreien und an ihren eigenen Ideen orientieren möchten, streben Menschen nach Demokratie. Zu diesem Zweck erobern sie das Gewaltmonopol, das zuvor in den Händen einiger weniger lag. Nicht der Wille eines Alleinherrschers, sondern der gemeinsame Beschluss einer Mehrheit solldurchgesetzt werden. »Partizipation« im demokratischen Sinn bedeutet daher zunächst Teilhabe an der Macht, soweit sich diese auf das Gewaltmonopol stützt. In den Worten Rainer Mausfelds: »Demokratie ist die Vergesellschaftung von Herrschaft und die Unterwerfung der Staatsapparate unter den Willen der Bürger.« Mit dem Übergang der Staatsgewalt von den ehemaligen Herrschern auf das Volk ist das demokratische Ideal allerdings noch nicht realisiert. Vielmehr muss das Volk die Wirkungsrichtung der Staatsgewalt umkehren, sobald es ihrer habhaft geworden ist. Eine echte Demokratie definiert nicht, was der Einzelne tut oder wie er es tut, sondern sie schützt sein Recht, dies selbst zu entscheiden. Gewalt wird nur dann angewandt, wenn die freie Entfaltung des einen das Recht des anderen verletzt, dasselbe zu tun – also stets zur Wiederherstellung individueller Gestaltungsräume. Das ist die eigentliche Idee der Menschenrechte. Diese und alle anderen Rechte, die mit ihnen in Einklang stehen, sind eine noch unbestimmte Möglichkeit individuellen Urteilens und Handelns und haben somit die Zurückweisung jedes demokratischen Urteils über das konkrete Handeln des Einzelnen zum Inhalt.
Gedanken zur Identitätspolitik
»Was sind Sie?« fragte mich einmal kopfschüttelnd ein Prüfer vom Schulamt, als er für eine provisorische Unterrichtsgenehmigung meine Lehrprobe zu beurteilen hatte und mit offenbar wachsendem Erstaunen in meinem Lebenslauf blätterte. Die Frage, »was« jemand ist oder werden will, betrifft seine äußere Stellung in der Welt, wie sich der Mensch in die Gesellschaft inkarniert und was er beruflich verkörpert, was ihn ausweist wie die identity card. Doch wie ist es mit der seelischen Ebene? Auch dort erscheint man so oder so, und es kann zu Problemen kommen, wenn es darum geht, diese Ausprägungen sensibel einzuordnen. Die gegenwärtige Bewusstseinsveränderung auf dem Feld von Identität und Diskriminierung zeigt uns, dass gerade das Gutgemeinte nicht automatisch als etwas Gutes erlebt wird.
Warum die Demokratie an ihren eigenen Kräften zugrunde gehen muss
Am 29. August 2020 ist laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein »ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie« verübt worden: Eine laut grölende Menge hatte am Abend die Absperrungen des Reichstagsgebäudes durchbrochen, um die Treppe dieses »symbolischen Zentrums für unsere freiheitliche Demokratie« (Horst Seehofer) für Selfies zu nutzen. Zudem waren, neben einer Reihe anderer Fahnen, viele nagelneue Flaggen mit den Farben des Deutschen Kaiserreichs zu sehen. Glaubt man den Medien, so konnte nur durch den heldenhaften Einsatz dreier Polizisten Schlimmeres verhindert werden.
Anmerkungen zum Zustand unseres Staatswesens
Mancher friedliebende und werteorientierte Mensch dürfte nach der Gründung der Bundesrepublik gewünscht haben, Deutschland als Vermittler zwischen den Machtblöcken Ost und West und als ein Land zu sehen, das nicht nur für materiellen Wohlstand, sondern auch für ein qualitativ zu bestimmendes Wohlergehen seiner Bürger und letztlich aller Lebewesen auf der ganzen Welt einträte. Dieser Wunsch prägte zum großen Teil auch die Parteiprogramme der Anfangsjahre. Auf die aktuelle Situation und viele inzwischen hinzugekommene Probleme und Erfahrungen übertragen, wären Sozialität, Frieden, Ökologie, Freiheitlichkeit (nicht wirtschaftliche Ellbogenfreiheit) und Fortentwicklung der Demokratie zu nennen, die das gesellschaftliche Leben vorrangig prägen sollten. Der Garant dafür kann nur ein funktionierender Rechtsstaat mit konsequenter Gewaltenteilung sein. Das scheint das deutsche Grundgesetz auch zu gewährleisten, doch hat Marcus Andries an dieser Stelle unlängst dargelegt, wie sehr durch das Regierungshandeln während der Coronazeit die Rechtsstaatlichkeit untergraben wurde. War das eine absolut nicht zu erwartende Wendung zum Negativen? Leider sehen wir hier zwar ein in dieser Form extremes, aber nicht absolut neues Phänomen. Denn es gibt und gab immer schon eine Reihe allgemein wenig bekannte, aber grundlegende Defizite des Rechtsstaats und der Demokratie in Deutschland. Hier nur einige Aspekte:
Teil 1: Zur Bedeutung der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017
Alain Morau hatte im Sommer der Redaktion seine Beobachtungen zu den französischen Wahlen und seine Einschätzung von deren Hintergründen vorgelegt. Daraus ist mit Stephan Eisenhut ein deutsch-französicher Dialog entstanden, dessen Ergebnis wir in zwei Teilen vorstellen wollen. Der erste Teil lenkt den Blick auf die Umstände der Präsidentschaftswahl und die dahinter stehenden Netzwerke. Am Beispiel einer vollkommen unbekannten Partei wird gezeigt, dass politische Strömungen, welche die Souveränität Frankreichs gegenüber einer langfristig angelegen Europa-Strategie bestimmter Kreise verteidigen, keine Chance haben, ihre Positionen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der zweite Teil wird anhand des Gegensatzes zwischen Charles de Gaulle und Jean Monnet aufzeigen, wie diese EU-Politik von langer Hand angelegt wurde und systematisch die Auflösung der souveränen Staaten anstrebt.
Teil II: ›Europa der Staaten‹ oder ›Europa der Eliten‹?
Wie in Teil I gezeigt, war Emmanuel Macrons Wahl zum französischen Staatspräsidenten möglich, weil bestimmte Netzwerke im Hintergrund die entsprechenden Fäden gezogen haben. Der II. Teil beleuchtet anhand des Gegensatzes zwischen Charles de Gaulle und Jean Monnet die historischen Hintergründe dieser Netzwerke. De Gaulle hatte ein sehr gutes Gespür für die Intention Franklin D. Roosevelts und der mit ihm verbundenen Kreise. Nachdem es zunächst nicht gelang Frankreich zu einem amerikanischen Protektorat zu machen – der Widerstand de Gaulles war zu stark –, wurde diese Intention auf dem Weg der Schaffung transatlantischer Netzwerke verfolgt. Das Europa Jean Monnets ist das Europa dieser Netzwerke. Die Zukunft Europas wird davon abhängen, ob es gelingt, Geistesleben und Rechtsleben so zu trennen, dass die europäischen Staaten nicht unter den Einfluss wirtschaftlicher Gruppeninteressen gelangen können.