Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521
Im Jahr 2021 begehen wir das 500. Jubiläum des Reichstags zu Worms, auf dem Martin Luther seine in Thesen und Büchern geäußerten Gedanken vor dem jungen, neugewählten Kaiser Karl V. verteidigen sollte. Eigentlich legte der Kaiser keinen Wert darauf und würde ihn auch ungehört mit der Reichsacht belegt haben. Da er aber Luthers Landesvater, Kurfürst Friedrich den Weisen, sehr schätzte, konnte dieser ihn überzeugen, dass Luther vor einer Verurteilung wenigstens angehört werden müsse. In Worms nahe dem Dom befindet sich eine Lutherstatue im Gedenken an dieses historische Datum. An und für sich war meine Reise 1993 dorthin eine Spurensuche zum Nibelungenlied: Worms als Stadt der Nibelungen und Burgunder! 401 n. Chr. hatten letztere, von Osten kommend, den Rhein überschritten. Die Römer erlaubten ihnen, zeitweise hier zu siedeln, aber im Jahre 436 mussten sie weiterziehen, bis in die Gegend des heutigen Frankreich.1 Mehr als 1.000 Jahre später kam nun der mächtigste Kaiser des Abendlandes nach Worms: Karl V. – ein Burgunder! Und gleichzeitig trat Luther auf, um die Freiheit des Gewissens anzumahnen.
Zu Julia Selg & Christiaan Struelens: ›Der Johannes-Altar von Hans Memling‹
»Weißt du ein therapeutisches Kunstwerk?« frage ich meine Frau, und dann suche ich in meinem Bestand, bis ich Rembrandts ›Hundertguldenblatt‹ finde, die um 1649 entstandene Radierung, für die er angeblich hundert Gulden pro Abzug bekam. Da sehen wir Christus lehrend, tröstend, segnend und heilend. Zu ihm kommen die Kranken, auch im Karren geschoben, die um Hilfe Flehenden, die Mütter mit ihren Kindern und, ganz links, die Satten, die Lauen, die Misstrauischen und Zweifler. Das ist das Motiv, mit dem ich auch in Hans Memlings ›Johannes-Altar‹ einsteigen kann (den ich schon zweimal besucht habe, voll Bewunderung). Ein ganz anderes Eindringen verlangt aber, was die Kunsthistorikerin Julia Selg an Bezügen von Linien und Farben vorlegt, ergänzt von Christiaan Struelens, Priester der Christengemeinschaft, der das geistesgeschichtliche Umfeld beschreibt.
Zu Hans-Peter Riegel: ›Beuys – Verborgenes Reden‹
Nachdem der Autor des hier zu besprechenden Buches bereits mit einer Monografie zum Maler Jörg Immendorf hervorgetreten war, publizierte er 2013 eine dreibändige Beuys-Biografie, die vor allem durch zwei Aspekte auffiel und für zum Teil heftige Kontroversen sorgte. Der erste bestand in einer auf den Recherchen von Jörg Herold fußenden Prüfung der bereits zum autobiografisch-künstlerischen Gründungsmythos avancierten Erzählung, Joseph Beuys sei im Zweiten Weltkrieg nach dem Absturz seines Flugzeugs auf der Krim von Tartaren geborgen und von diesen unter Einsatz von Fett und Filz wiederhergestellt worden – mit dem nicht eben ganz neuen Ergebnis, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Der zweite Aspekt betraf Beuys’ angebliche Nähe zu rechtsgerichteten Persönlichkeiten, nicht zuletzt aus dem Umfeld des sogenannten Achberger Kreises, der in den 70er Jahren durch seinen Einsatz für die soziale Dreigliederung bekannt geworden ist.
Zu Wilfried Sommer: ›Resonanzfiguren des verkörperten Selbst‹
Der Physikdidaktiker und Waldorflehrer Wilfried Sommer hat ein schmales Bändchen mit Untersuchungen zu anthropologischen Perspektiven der Waldorfpädagogik vorgelegt, die in ihrem besonderen Ansatz und im Duktus der Gedankenführung neue Wege einschlagen. Neu ist die Radikalität, mit der er darauf verzichtet, seine Überlegungen aus den mannigfachen Darstellungen Rudolf Steiners abzuleiten, zu erläutern und daraus wiederum zu erklären. Er vermeidet diesen Zirkel und setzt vielmehr anderswo an. Da ist vor allem der Bereich schulpädagogischer Diskussionen zu dem von Hartmut Rosa eingeführten Paradigma der Resonanz. Da ist im engeren Sinn die Anthropologie der Verkörperung, wie sie in den letzten Jahren der Arzt und Philosoph Thomas Fuchs ausgearbeitet hat. Sommer verankert seine Studien in jenem akademischen Feld aktueller Diskurse, das in der Methode nicht reduktionistisch ansetzt, sondern im Blick auf den Menschen sorgsam differenziert die Reichhaltigkeit gegebener Gesichtspunkte im Blick behält.
Please. Was für ein schönes, was für ein liebenswürdiges und zugleich starkes Wort! So viele Male habe ich das Wort gehört und gesagt und bin ihm doch nie wirklich begegnet. Es beginnt mit einer Explosion und endet inständig und leise. Es besteht nur aus einer einzigen Silbe, und doch sagt diese alles, was es zu sagen gibt. Das Wort hat etwas Unausweichliches, Eindringliches, vielleicht sogar Forderndes, aber es sagt es auf die sanfte Art. Ohne Umschweife wendet es sich an das angesprochene Du.
Anmerkungen zu Heiner Müller (1929–1995)
Ich habe ihn in der Tat erst in den vorrevolutionären Wochen von 1989 für mich entdeckt; natürlich nicht den ganzen Heiner Müller. Vorerst waren es, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, die Teile I bis III der ›Wolokolamsker Chaussee‹, packend inszeniert vom Ensemble des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, das damals noch im bald für marode erklärten Haus in der Zimmerstraße auftrat. So dicht, so auf uns zugeschnitten – das gilt auch für die zur selben Zeit gezeigten Stücke der Perestroika-Autoren Tschingis Aitmatow und Wladimir Tendrjakow – habe ich Theater nie wieder erlebt, meilenweit entfernt von der nachrevolutionären Beliebigkeitskost, die mich erstmals veranlasste, eine Vorstellung vorzeitig zu verlassen.
Zu Agnes Hirschi & Charlotte Schallié (Hrsg.): ›Unter Schweizer Schutz‹
Dramatische Umstände bringen es bisweilen mit sich, dass durch ein bestimmtes Ereignis oder an einem bestimmten Ort Schicksalsfäden wie durch einen Knoten verbunden werden. Solch ein Ort war 1944 in Budapest das sogenannte »Glashaus«, in dem damals die Auswanderungsabteilung der Schweizer Gesandtschaft residierte und wo seit 1942 Carl Lutz (1895– 1975) als Vizekonsul tätig war. Zu dieser Zeit wurden die Juden in Ungarn durch eine Vielzahl von Gesetzen drangsaliert, die durchaus ähnlich den Nürnberger Rassegesetzen waren. Innerhalb von zwei Jahren organisierte Lutz die legale Ausreise von ca. 10.000 jüdischen Kindern nach Palästina. Mit der Besetzung durch die Deutschen im März 1944 wurde die Lage der ungarischen Juden vollends prekär: Adolf Eichmann reiste persönlich an, und binnen Wochen wurden Hunderttausende deportiert. Schon Ende Juli existierte lediglich in Budapest noch eine jüdische Gemeinde.
Zu Max Brod: ›Heidentum – Christentum – Judentum‹
Wenn wir versuchen wollen, Max Brod (1884– 1968) und sein vor 100 Jahren erschienenes Buch ›Heidentum – Christentum – Judentum‹ zu verstehen und zu bewerten, müssen wir uns in die damalige Zeit hineinversetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel 1918 die österreichisch-ungarische Monarchie auseinander und Prag, Brods Heimat, wurde Hauptstadt der Tschechoslowakei. Brod bemühte sich um die Rechte der jüdischen Minderheit, indem er im neugegründeten Jüdischen Nationalrat mitarbeitete, einige Zeit lang als Vizepräsident. Es fragt sich, ob die Reihenfolge der Weltanschauungen im Titel bereits eine Wertung enthält, denn man ist geneigt, ›Heidentum – Christentum – Judentum‹ als eine Steigerung anzusehen. Das war bei Brod nicht der Fall, wie dieses kämpferische Werk deutlich macht.
Die Texte, zu denen diese Einleitung gehört und die in Folge an dieser Stelle erscheinen sollen, sind aus Begegnungen mit Worten entstanden. Solche Begegnungen verdanken sich Umständen, die in der täglichen Verständigung mit Worten kaum vorgesehen sind. Denn Worte verwendend und vernehmend zielt unsere Aufmerksamkeit auf das, was sie bedeuten und nicht auf sie selbst. Das ist weitgehend auch in diesem Text der Fall. Schreibend bin ich mit dem befasst, was ich beschreiben und mitteilen will. Selbst wenn ich hin und wieder eine Formulierung prüfe oder ändere, selbst wenn ich beim Reden abwäge, was ich sage, kommt es zu keiner wirklichen Begegnung mit den Worten.
Zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts
Im Lehrplan der DDR-Schulen, zumindest solange ich Schüler war, kam dieser Name nicht vor. Später dann, als Lehrer, schuf ich den ›Physikern‹ zumindest ein Schlupfloch: Im Zusammenhang mit Bertolt Brechts ›Leben des Galilei‹ durften sie, als sp.tbürgerlicher Gegenentwurf, kurz in Erscheinung treten. Immerhin gab es 1965 eine Ausgabe beim Verlag ›Volk und Welt‹, die vier seiner Komödien enthielt, ein Band mit Erzählungen erschien 1980. Natürlich gab es Aufführungen im Theater, ein ›Besuch der alten Dame‹ in Rostock ist mir noch in Erinnerung. Die unterrichtliche Verbannung Friedrich Dürrenmatts endete für mich 1986, als ich meine Arbeit am nichtstaatlichen Potsdamer Kirchlichen Oberseminar begann. Diese unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen sind nicht unwesentlich, wenn von Dürrenmatts literarischem Einfluss gesprochen wird.
Zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Louise Glück
Seit 28 Jahren schreibe ich nun für diese Zeitschrift – aber noch niemals fiel mir ein Beitrag so schwer wie der folgende. Es lässt sich nicht beschreiben, was ich zu sagen versuche. Man müsste es singen, malen, aufführen … Über ein Bild kann man sprechen mit Worten, auch über Musik. Doch wie spricht man von einem Gedicht – oder gar mehreren – so, dass es ihm gerecht wird? Kann man es nicht eigentlich nur dichterisch besprechen?
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Zum 100. Geburtstag von Erika Beltle (19. Februar 1921 – 21. Juni 2013)
Im Februar 2021 feiert die Zeitschrift die Drei ihr hundertjähriges Bestehen, und auch Erika Beltle geb. Wagner, mit der Drei durch etliche Beiträge eng verbunden, wäre am 19. Februar 2021 hundert Jahre alt geworden. Das Mädchen wuchs in den ersten Jahren bei Verwandten auf dem Lande auf, in Kesselfeld/ Hohenlohe. Den Vater lernte sie erst später kennen. Die Mutter arbeitete als Damenschneiderin in Stuttgart, hatte dort die Anthroposophie kennengelernt und sogar Vorträge Rudolf Steiners gehört. Mit sieben Jahren kam Erika in die 1919 von Emil Molt gegründete Waldorfschule in Stuttgart, die sie von 1928 bis 1935 besuchte. Als 14-jährige begann sie die anthroposophische Literatur ihrer Mutter zu lesen. Später besuchte sie die Handelsschule und wurde Stenotypistin bei einer Versicherungsgesellschaft.
Wie Nietzsches Schwester sich an Rudolf Steiner erinnerte
Der elsässische Schriftsteller Friedrich Lienhard (1865–1929), der eine Zeit lang der anthroposophischen Bewegung nahestand, lebte seit 1916 in Weimar, wo er auch Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935), kennenlernte. Kurz nach Rudolf Steiners Tod ließ er ihr Teile aus dessen Autobiografie zukommen, die bis 5. April 1925 in Fortsetzungen in der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹ erschienen war. Das unvollendete Werk erschien erst im September in Buchform. Wie Steiner rückblickend seine Beziehung zum Nietzsche-Archiv sah, dürfte Förster-Nietzsche besonders interessiert haben.
Ein Exemplar von ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ und seine Geschichte
Im Sommer 2020 kam eine neue Schenkung ins Archiv: ein Exemplar von Rudolf Steiners Schrift ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ in der vierten Auflage von 1910. Von dieser frühen Auflage der zuerst als Aufsatzfolge in der Zeitschrift ›Lucifer – Gnosis‹ erschienenen Abhandlung besitzt das Rudolf Steiner Archiv zwar bereits zwei weit besser erhaltene Exemplare, aber das nun eingegangene, heftig zerlesene und annotierte Buch hat eine besondere Geschichte.
Zur Tagung ›Die Wahrheit tun – Der Meditationsimpuls im Werk von Georg Kühlewind (1924-2006)‹ vom 9. bis 11. Oktober 2020 in Stuttgart
An den Impuls Georg Kühlewinds anzuknüpfen, ihn wieder bekannter zu machen und das Meditieren in seinem Sinne zu fördern, das war der Impuls der diesjährigen Meditationstagung der Akanthos Akademie, die im Oktober 2020 im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart stattfand. In diesem Sinne begrü.te Andreas Neider – der zusammen mit Laurence Godard die Veranstaltung organisiert hatte – die Teilnehmer. Die produktive eigene Beschäftigung mit Kühlewinds Werk könne die Brücke bilden zwischen Anthroposophie, akademischer Wissenschaft und der Bewusstseinsforschung im buddhistischen Umfeld und sei so eine mögliche Voraussetzung für ein Gespräch zwischen verschiedenen Weltanschauungen und Disziplinen.
Zum Umgang mit einem problematischen Denkmal
In Heidenheim an der Brenz steht auf einer Anhöhe ein gemauerter Steinblock aus hellem Muschelkalk. Er bildet den Abschluss einer niedrigen Mauer, die einen Viertelkreisbogen um eine weit ausladende Buche schlägt. Der Steinblock trägt in reliefartigen Lettern den Namen eines Mannes, der von 1941 bis 1943 das deutsche Afrikakorps befehligte. Es wurden infolge dieses Feldzuges 220.000 Gefallene auf alliierter Seite gezählt sowie etwa 62.0000 auf der Deutschlands und Italiens. Zudem wurden etwa 20 Mio. Sprengminen in einem Küstenstreifen zwischen Libyen und Ägypten ausgelegt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind hier etwa 3.300 Menschen durch Minenexplosionen umgekommen. Mehr als 7.000 wurden verletzt.
August Macke zu Pandemie-Zeiten im Museum Wiesbaden
August Macke, am 3. Januar 1887 geboren, war in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmekünstler, der zu Unrecht oft im Schatten von Franz Marc, Wassily Kandinsky oder Paul Klee steht. Zum einen hat er schnell die akademische Kunst seiner Zeit überwunden und gehörte nach einem kurzen impressionistischen Zwischenspiel zur Speerspitze der Avantgarde. Er hat sich durch seine Pariser und Münchener Kollegen anregen lassen, aber bald seinen eigenen Stil gefunden – nicht zuletzt durch den räumlichen Abstand, den er gesucht hat: Nach nur zehn Monaten in der Gegend von München ist er im November 1910 in seine Heimatstadt Bonn zurückgekehrt, ohne jedoch seine Beziehungen zu den Freunden des ›Blauen Reiters‹, insbesondere zu Franz Marc, aufzugeben. Und vor allem: Er hat sich bis zu seinem frühen Soldatentod am 26. September 1914 einen weitgehenden Optimismus bewahrt, von dem sein nur zehnjähriges künstlerisches Schaffen getragen ist.
Zu ›Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft‹ in der Bundeskunsthalle Bonn
Max Klinger (1857-1920), herausragender Vertreter des Symbolismus, zu seiner Zeit so hoch verehrt wie heftig angegriffen, wurde dieses Jahr anlässlich seines 100. Todestages vom Museum der bildenden Künste seiner Geburtsstadt Leipzig mit der umfangreichen Sonderausstellung ›Klinger und Europa‹ geehrt. Das Museum besitzt die weltweit größte Klinger-Sammlung. Dazu gehören neben Gemälden, Skulpturen sowie Entwurfsgipsen sämtliche grafischen Zyklen und ein umfangreicher Bestand an Zeichnungen, Druckplatten und zeitgenössischen Fotografien. Auch monumentale Werke befinden sich hier, so das Beethoven-Denkmal (1886-1902) und die wandfüllenden Gemälde ›Christus im Olymp‹ (1889-1897) und ›Die Kreuzigung Christi‹ (1888-1891). Das gleichzeitige Jubiläum des in Bonn geborenen Ludwig van Beethoven (1770-1820) veranlasste eine kluge Kooperation der Leipziger mit der Bundeskunsthalle. Internationale Leihgaben anderer zeitgenössischer Künstler erweitern die Sicht auf Klinger durch Vergleiche, darunter mehrere Werke von Auguste Rodin, Max Klimt oder die berühmte, 1895 geschaffene polychrome Büste der Sarah Bernhardt (ca. 1895) von Jean-Léon Gérôme aus dem Pariser Musée d’Orsay.
Zu ›In aller Munde. Von Pieter Breugel bis Cindy Sherman‹ – im Kunstmuseum Wolfsburg
Noch nie wurden Mund und Zähne in den Mittelpunkt einer Schau gestellt, so wie es jetzt die in Zeiten des zweiten Corona-Lockdowns fallende Ausstellung ›In aller Munde‹ tut. Allein der Titel ist doppelsinnig, denn nicht nur das aktuelle »infektiöse Desaster« konzentriert sich auf den Mund- und Rachenraum, vielmehr handelt es sich dabei um eine »reizvolle Körperzone«, die für emotionale, sprachliche und soziale Bekundungen steht und je nach Äußerungsart empathische bis ekelerregende Wirkungen zeigt. Vor zweieinhalb Jahren, berichtet die Kuratorin Uta Ruhkamp, unterbreiteten der Philosoph Prof. Dr. Hartmut Böhme und die Zahnmedizinerin Beate Slominski dem Kunstmuseum den Vorschlag, künstlerischen Positionen zu Mund und Zähnen eine Ausstellung zu widmen. Entstanden ist eine ungeheuer vielfältige, die ganze Kunst- und Kulturgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein durchstreifende Präsentation.
Zur Verleihung des Büchner-Preises 2020 an Elke Erb
Ich lese: »Wenn der Mensch / ans letzte Ende seines Weges kommt, / blickt er sich um nach der Erde / und, erfüllt von allem Menschlichen, / sagt er:/ Einmal lebten hier Vögel, / die Menschen waren.« An anderer Stelle lese ich: »Ich weiß, dass ich sterben werde beim Himmelsrot! / Bei welchem, mit welchem – das ist nicht auf Wunsch zu entscheiden. / Ach, käm meine Fackel löschen doch zweimal der Tod, / Beim Morgenrot und beim Abendrot ging ich mit beiden!« Die Verse sind nicht von Elke Erb – und ein bisschen doch. Das erste Zitat stammt von dem Weißrussen Ales Rasanaŭ (*1947), das zweite von der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941). Elke Erb (*1938) hat die Verse ins Deutsche übertragen oder besser: nachgedichtet. Wieviel Elke Erb in den deutschsprachigen Zeilen steckt, kann ich nicht beurteilen, da ich die Originalsprache nicht lesen kann – eine Verwandtschaft empfinde ich jedoch, besonders mit Rasanaus Kurzgedichten, die er »Punktierungen« nennt. Auch Elke Erb schreibt teilweise sehr knappe Gedichte – eines der kürzesten lautet: »Das Aus hat (wie / der Laut sagt) // keinen Garten.«3 Elke Erb hat zahllose Übersetzungen geschrieben, die Liste ist imponierend lang – vielleicht, weil das auch eine Ausweichmöglichkeit in DDR-Zeiten war? Wie viele Gedichte mag sie selbst seit etwa 1968 bis heute geschrieben haben?
Vor 100 Jahren erschienen Manfred Kybers ›Märchen‹
»… und auf waldwilden Wegen / das Märchen lautlos geht: // Blauaugen, kinderreine, / Blauaugen, lieb und fremd, / aus Spinnweb und Mondenscheine / ein Königshemd. // Ihr Haar von Gold gesponnen, / bis auf die Hüften rollt, / wie tausend sinkender Sonnen / verträumtes Dämmergold. // Blauaugen, kinderweiche, / sie tragen ein heilig Mal / aus heiligem Rätselreiche: / es war einmal …« Es muss ein beglückender Augenblick für den jungen Lyriker gewesen sein: Sein erstes Buch war gedruckt! Carl Manfred Kyber: ›Gedichte‹ (1902) hieß es, verlegt im Verlag von Hermann Seemann Nachfolger in Leipzig. Das oben zitierte Eingangsgedicht war ihm so wichtig, dass er es auch in seine zweite Gedichteausgabe ›Der Schmied vom Eiland‹ (1908) übernahm.
Zum Gedenken an Bertil Ekman (22. Juni 1894 – 3. August 1920)
Der schwedische Dichter und Mystiker Bertil Ekman war von geistiger Bedeutung für den UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, worauf der schwedische Schriftsteller Sven Stolpe in dessen Biografie hinweist. Nachdem 1923 ein schmales Heft aus Ekmans Nachlass mit dem Titel: ›Strödda Bladur. Bertil Ekmans Efterlade Papper‹ herausgegeben worden war, blieb dieses über mehrere Jahrzehnte unauffindbar, bis es 1999 in der Königlichen Bibliothek in Stockholm wieder auftauchte. Schon lange bestand das Bedürfnis, Ekmans Gedanken auch in deutscher Sprache kennenzulernen. Die von Lars-Åke Karlsson besorgte Übersetzung: ›Verstreute Blätter. Bertil Ekmans nachgelassene Papiere‹ erschien 2018 als Heft 15 der ›Beiträge für religiöse Erneuerung‹. Das Heft enthält Aphorismen, Gedichte und unveröffentlichte Texte, darunter Tagebucheintragungen sowie ein Foto Ekmans: ein junger Mann voll Ernst und Traurigkeit, mit einem geraden, eindringlichen Blick. Er trägt die weiße Studentenmütze von Uppsala mit der gelb-blauen Kokarde.
Drei Kolloquien und eine Woche der Inspiration und Begegnung
Der Klimawandel – aufgrund seines schnellen Verlaufs auch »Klimabruch« genannt – ist ein brennendes Problem, nicht nur für die junge Generation, die sich ihrer Zukunft beraubt fühlt, sondern für jeden Menschen, den die Not der Erde und ihrer Bewohner aufrüttelt. Die naturwissenschaftlichen Fakten sind in vereinfachter Form in aller Munde, die »Feinde« identifiziert. Und so wird einerseits radikaler Verzicht gefordert, oder man hofft auf technische Lösungen, die das Desaster wieder richten sollen. In beiden Fällen bleiben viele ungelöste Probleme. Es ist spürbar, dass sich etwas verändern muss, aber wie kommt das in Gang? Und wo bleibt die geistig-spirituelle Perspektive?
Zur Ausstellung ›Max Beckmann. weiblich-männlich‹ in der Hamburger Kunsthalle
Oft sind es Kleinigkeiten, die bei einem Kunstwerk viel aussagen. Es empfiehlt sich, genau hinzuschauen, mit einem zweiten und dritten Blick dem Werk noch näher zu kommen, vielleicht gefördert von hilfreichen Hintergrundinformationen. Das wurde mir einmal mehr bei dieser Ausstellung klar, besonders an einem Beispiel: dem ›Bildnis Ludwig Berger‹ (Abb. 1), das Max Beckmann (1884-1950) im Jahre 1945 geschaffen hat. Auf den ersten Blick scheint das Ölgemälde zu der üblichen Vorstellung zu passen, die sich zu Beckmann herausgebildet hat: betont männlich, tatmenschenhaft. Der berühmte Theater- und Filmregisseur pflegte im Amsterdamer Exil engen freundschaftlichen Kontakt zum Ehepaar Beckmann. Berger hatte das Porträt selbst veranlasst, aber es gefiel ihm nicht. Warum? Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Berger in der rechten Hand eine Blume hält, mit der er offenbar sanft über den linken Handrücken streift. Die Beigabe von Blumen ist in Beckmanns Porträts sonst Frauen vorbehalten. Bei Berger ist es ausgerechnet eine Lotusblüte, Symbol der Fruchtbarkeit, der Weisheit und spirituellen Erleuchtung – und des göttlichen wie menschlichen Hermaphroditen (laut Helena Petrovna Blavatskys ›Geheimlehre‹, die der Katalog auf S. 121f. zitiert). Berger war (verdeckt) homosexuell und hat die weiblich anmutende Geste vielleicht als Anspielung darauf empfunden. Dass Beckmann davon wusste, ist aber nicht nachweisbar; vielleicht wollte er nur auf den feinen Kunstsinn des Freundes anspielen. Die Gestaltung der Hände spricht auch dafür. Als Berger Beckmann fragte, ob er sich mit der Blume über ihn habe lustig machen wollen, antwortete der: »Nee-nee ... So SIND Sie!« (Zitiert im Katalog auf S. 122)
Zur Ausstellung ›Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa‹ im Landesmuseum Mainz
Eine Ausstellung, in der die Leihgaben aus so verschiedenen Orten wie dem Pariser Louvre und Limburg an der Lahn stammen, wäre mir bisher unvorstellbar gewesen. Nun ist eben dies im Landesmuseum Mainz in der Ausstellung: ›Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa‹ zu sehen. Es empfiehlt sich, ein Zeitfenster-Ticket im Voraus online zu erwerben. Die Herrschaftsbasis der großen Dynastien des Mittelalters war der Mittelrhein, eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrallandschaft Europas. Die Mainzer Ausstellung vermittelt eine einzigartige zeitlich-räumliche Perspektive auf dieses Gebiet. Sie behandelt Fragestellungen, die anhand ausgewählter Kaiserpersönlichkeiten aus den vier großen Herrschergeschlechtern – Karolinger, Ottonen, Salier und Staufer – durch fünf Jahrhunderte verfolgt werden, flankiert von sogenannten Korrespondenzstädten. Diese in der Umgebung gelegenen Städte veranstalten nicht nur Programme parallel zur Mainzer Ausstellung, sondern sind jeweils auch Originalschauplätze – hier finden sich Schlösser, Dome, Burgen und andere architektonische Zeugnisse in großer Zahl.
Wolfram von Eschenbach (* um 1170; † um 1220) und sein ›Parzival‹
In das Jahr 2020 fallen der mutmaßlich 850. Geburtstag und der 800. Todestag des großen höfischen Dichters Wolfram von Eschenbach. Sehr wahrscheinlich wurde er im fränkischen Ober-Eschenbach geboren (1917 in Wolframs-Eschenbach umbenannt), und im Eschenbacher Liebfrauenmünster wurde er einst begraben. Außer zu Leben und Werk des Dichters soll im Folgenden auf zwei Neuerscheinungen eingegangen werden: das neue Prosabuch ›Parzival‹ von Richard Baumann und auf das »Kyot-Problem« in dem Buch ›Parzifal‹ von Jochen Bertheau.
Ein norwegischer Gymnasiast interviewt Rudolf Steiner
In seinen Ansprachen für die Jugend wies Rudolf Steiner mehrfach darauf hin, dass diese seit der Jahrhundertwende unbewusst den Beginn einer neuen Epoche fühle. »Da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwicklung der Menschheit«, sagte er dazu am 20. Juli 1924. Als nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt Angehörige der Jugendbewegung zur Anthroposophie fanden, hielt er das für einen Glücksfall, denn das gemeinsame Ziel beider Bewegungen war die fundamentale Erneuerung aller Lebensbereiche. Das unbewusste Jugenderlebnis sollte Steiner zufolge durch das Zusammenwachsen mit der Anthroposophie zu einem bewussten werden. 1924 wurde am Goetheanum eine ›Sektion für das Geistesstreben der Jugend‹ gegründet. Auch Kirchen und Parteien, die der Anthroposophie zum Teil ablehnend gegenüberstanden, versuchten damals, die Jugend in eigenen Bünden zusammenzuschließen.
Zu ›Ernst Barlach zum 150. Geburtstag. Eine Retrospektive‹ im Albertinum zu Dresden
Zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs (1870–1938) wird in enger Zusammenarbeit des Dresdener Albertinums mit dem ›Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma‹ in Hamburg und der ›Ernst Barlach Stiftung‹ Güstrow eine repräsentative Werkschau mit rund 230 Exponaten gezeigt. Das Dresdener Kupferstichkabinett selbst kann auf einen umfangreichen Bestand an Lithografien und Holzschnitten des Künstlers zurückgreifen. Die Ausstellung umfasst dadurch die verschiedensten Genres: Holzskulpturen, Bronzeplastiken, Druckgrafiken, Zeichnungen, Skizzenbücher, einige Gemälde und Kunsthandwerk.
Stanislas Stückgold in der Galerie Uwe Opper bei Kronberg
Betritt man die Galerie von Uwe Opper in den historischen Räumen der (nie geweihten) Streitkirche in dem Städtchen Kronberg am Taunusrand, so ist der Eindruck überwältigend: An roten Wänden hängen stark farbige, teils großformatige Bilder mit menschlichen Figuren, Blumen oder geheimnisvollen Arabesken auf blauem Grund. Sie wirken mit ihren klaren Farben und einfachen Formen monumental und zart zugleich, sind Ausdruck von Sinnlichkeit ebenso wie von Askese, von Sehnsucht wie von Erfüllung, und zeugen von einer tiefen jüdisch-christlichen Religiosität. Wie aus der Zeit gefallen und doch nicht unzeitgemäß.
Rüdiger Sünner: ›Wildes Denken – Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt‹
Wer an einer Universität studiert, muss lernen, logisch nachvollziehbar zu denken, und sich Methoden aneignen, die reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen. Bei diesem Vorgehen bleiben aber weite Bereiche der menschlichen Fähigkeiten unberücksichtigt und ungenutzt. Alles Künstlerische, Imaginative, Bildhafte oder Erzählerische würde nur stören und muss deshalb, wie Rüdiger Sünner als Student empfand, »zusammen mit dem Mantel an der Garderobe abgegeben werden«. Im der Freien Universität Berlin in Dahlem benachbarten Ethnologischen Museum, das er zwischendurch aufsuchte, fand er eine andere Welt vor: Die Masken der nordwestamerikanischen Kwakiutl-Indianer, die steinernen, präkolumbianischen Götterbilder Südamerikas oder die hölzernen Statuen Westafrikas sind perfekt gearbeitete Kunstwerke. Sie scheinen von alten Mythen und Geschichten zu berichten und sind keinesfalls mit rein logisch-abstrakten Mitteln vollständig zu ergründen. Sünner erlebte beide Welten jahrelang als völlig voneinander getrennt. Erst das Buch ›Das wilde Denken‹ (1962) des berühmten französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zeigte ihm eine Brücke, die diese Welten miteinander verbinden konnte. Lévi-Strauss rehabilitiert das den Mythen, Erzählungen und figürlichen Darstellungen solcher frühen Kulturen zugrunde liegende bildhafte, assoziative und vielschichtige Denken und beschreibt es nicht als primitiv und dem logischen Denken nur vorausgehend, sondern als in dem jeweiligen Kulturzusammenhang vollkommen berechtigt. Und es ist keineswegs vergangen: »Das Denken im wilden Zustand blüht in jedem menschlichen Geist – zeitgenössisch oder alt, nah oder fern.« (S. 227) In jahrzehntelanger Beschäftigung mit indigenen Kulturen auf mehreren Kontinenten vertiefte Sünner sich in den Prozess des »wilden Denkens«, den er in seinem neuen Buch und seinem gleichnamigen Film in großer Breite vorstellt.