Betrachtungen zum Lebensgang Rudolf Steiners V
In den Betrachtungen des vorangegangenen Essays ›Einsame Fragen‹ wurde das erwachende Geisterleben des neunjährigen Rudolf Steiner durch verschiedene Zugänge erschlossen. Die Richtung, in welcher der Knabe einen weiteren Schritt auf diesem Weg suchte, folgte dem Bedürfnis nach einer Rechtfertigung der inneren Erlebnisse und einer Aufhellung von deren innerem Zusammenhang. Der Knabe war in einer durch die Sinneswahrnehmungen geleiteten, vom Verstand erschlossenen und für ihn damit keineswegs befriedigend erklärten Umwelt auf der Suche nach etwas, das in eine sachgerechte Beziehung zu seinem geistigen Erleben gebracht werden konnte und, sollte dies glücken, jene Legitimation geistigen Wahrnehmens leistete, welche der Knabe suchte.
Erinnerungen an Louis Werbeck (1879–1928)
Die nachstehenden Ausführungen erinnern an den Musiker, Schriftsteller, engagierten Philanthropen und Anthroposophen Louis Werbeck, der mit einer 1924 erschienenen zweibändigen Schrift über die Gegner Rudolf Steiners vorübergehend Aufsehen erregte. Diesem Werk, das Rudolf Steiner für genial hielt, war – wie übrigens auch seinem Verfasser – nur ein kurzes Leben beschieden, weil es noch in seinem Erscheinungsjahr konfisziert wurde. Erst 2003 erfolgte aus gegebenem Anlass ein Nachdruck. Während wir mittlerweile über Kritiker und Gegner der Anthroposophie zu Lebzeiten Rudolf Steiners relativ gut informiert sind, nicht zuletzt durch einen eigenen Band innerhalb der Gesamtausgabe, scheint unsere Kenntnis über seine damaligen Verteidiger (Apologeten) nur spärlich zu sein. Kein »externer Wissenschaftler« scheint sich näher mit ihnen befasst zu haben, wenn man einmal von der Dissertation des katholischen Theologen Richard Geisen absieht.
Eine Suche nach dem Geist der Heilkraft des Wortes
Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit der Wesenheit Widars. Der Edda zufolge ist er ein Sohn des Odin, der als schweigender Gott auf den richtigen Moment für seine rettende Tat wartet; mit besonderem Schuhwerk, das aus den beim Herstellen menschlicher Schuhe anfallenden Resten angefertigt wird, blockiert er den Rachen des alles verschlingen wollenden Fenris-Wolfes und überwindet ihn; danach wirkt er als Herr des weiten Landes Widi in der neu sich gestaltenden Welt.
Zum offenbaren Geheimnis des Menschlichen
Ich als Mensch bin nicht nur Ichhaftigkeit, sondern auch – wenn nicht vor allem – Ichsamkeit. Ichhaftigkeit weist nämlich nur auf das Begabtsein mit dem Ich hin, und dies offenbart sich nicht unbedingt in allen Dimensionen des Lebens; Ichsamkeit will dagegen das aktive, mit dem wachen Bewusstsein verbundene Wirken des Ich bedeuten – wie Achtsamkeit das aktive Wirken des (Be-)Achtens meint –, das alle seine geistigen, seelischen und leiblichen Dimensionen durchdringen soll, wenn der Mensch wahrhaftig als Mensch leben will.
Versuch einer Menschenkunde des volkswirtschaftlichen Preisbildungsprozesses – Teil II: Die Schopenhauer-Falle
Die Volkswirtschaftslehre ist eine sehr junge Wissenschaft. Als eigenständige Disziplin hat sie sich erst im 18. Jahrhundert in England herausgebildet. Der klassische Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834), der mit seiner 1798 verfassten Bevölkerungstheorie maßgebliche Anregungen zur Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) gegeben hat, erklärt darin, dass das Bevölkerungswachstum exponenziell erfolge, während die Nahrungsmittelproduktion nur linear wachsen könne. Da die Natur somit den Tisch nicht für alle gedeckt habe, komme es zu einem «Kampf ums Dasein», bei dem sich die oberen Bevölkerungsschichten gegenüber den Ärmeren durchsetzen müssten, was entsprechende Maßnahmen erfordere. Malthus denkt in völlig veräußerlichten, abstrakten Denkformen. Dass das Denken zu Beginn der Neuzeit lebensfremd geworden ist, wurde im ersten Teil dieser Abhandlung als notwendiges Stadium der menschlichen Entwicklung aufgezeigt. Aus dieser Lebensfremdheit des Denkens können sich nur inhumane soziale Verhältnisse herausbilden.
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Zu Leben und Werk von Conrad Ferdinand Meyer aus Anlass seines 200. Geburtstags am 11. Oktober 2025
In der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ vom 5. Januar 2018 fand ich vor mehreren Jahren einen Artikel mit dem Titel ›C.F. Meyer: Plädoyer für einen Unzeitgemässen‹. Darunter steht: »Conrad Ferdinand Meyer, der ewige Antipode Gottfried Kellers, wird heute nicht mehr viel gelesen.« Und dann folgt, sozusagen als Trostpflaster, der Hinweis, dass alle seine Werke jetzt auf 46 CDs mit prominenten Sprechern zu haben sind. Da wird zunächst also schlicht akzeptiert, dass dieser Dichter ein »Unzeitgemäßer« ist, dem aber ein »Plädoyer« gebührt.
Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) und die Anthroposophie
Rudolf Steiner hat als Erster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Troxlers philosophisches Werk der Vergessenheit entrissen und wiederholt, mit eindringlichen Worten, auf das Prophetische seiner Ideen zum tieferen Erfassen des Menschenwesens hingewiesen. Er bezeichnete und charakterisierte den Schweizer Philosophen als Vorboten der Anthroposophie.Gleichermaßen gilt, dass es erst durch Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Sicht auf Troxler möglich wurde, dessen philosophische Gedankengänge in ihrer wahren Tiefe und Tragweite auszuloten, jenseits der sich das Geistige als bloß Gedanklich-Ideelles vorstellenden akademischen Hermeneutik sowie deren zukünftige Bedeutung als vergessene Strömung innerhalb des mitteleuropäischen Geistesstrebens zu würdigen. In seinen Büchern ›Vom Menschenrätsel‹ und ›Die Rätsel der Philosophie‹ sowie in mehreren Vorträgen – die allermeisten davon während dessen 50. Todesjahr 1916 – spricht Rudolf Steiner über Ignaz Troxler und sein geistiges Erbe.
Eine Betrachtung des Bildes ›Juno und Argus‹ von Peter Paul Rubens
Mythen, Sagen und Märchen können oft als Schilderungen der Entwicklung des menschlichen Wesensgliedergefüges aufgefasst werden. Ein Beispiel dafür ist Argos (lat. Argus), dessen Empfindungsleib mit seinen hundert Augen riesig war. Seine Seelenglieder waren hingegen erst rudimentär vorhanden und wenig differenziert. Es wurde bereits gezeigt, wie der Riese hoffte, mit Hilfe von Hermes die Gemütsseele zu entfalten, und dafür auch Neues wagte. Doch Hera (lat. Juno) stellte sich entschieden dazwischen. Mit Hilfe des Bildes ›Juno und Argus‹ von Peter Paul Rubens wird im Folgenden den Absichten der Götterkönigin nachgespürt. Dabei entpuppt sich die Botin Iris als Schlüsselfigur. Die Vertiefung in das Kunstwerk kann zu einem erweiterten Verständnis des Imaginierens führen.
Ödön von Horváths Schlüsseldrama ›Pompeji‹
Wir leben auf einem Vulkan. Besonders in Süditalien, der Mitte des Mittelmeers, wo die Erde außerordentlich fruchtbar ist – durch frühere Katastrophen. Am Golf von Neapel, einer griechischen Kolonie (altgr.: nea polis = neue Stadt), verbrachten im ersten Jahrhundert n. Chr. – nachdem die Republikaner Roms die Oberhand über die Demokraten Athens gewonnen, den Senat entmachtet und unter Kaiser Augustus ein West und Ost umschließendes, autokratisch-bürokratisch regiertes Weltreich errichtet hatten – die vermögenden Römer ihren Urlaub. Unter ihnen auch Nero, der letzte Kaiser der von Augustus begründeten julisch-claudischen Dynastie, der nach dem Brand Roms eines seiner Feste mit Christen als lebenden Fackeln illuminierte. Der Ausbruch des Vesuv kurz nach seinem Tod im Jahre 79 n. Chr. ist bis heute im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig. Der Todesmoment von Menschen und Tieren, durch die Lava als Hohlraum konserviert, fasziniert wie die ägyptischen Mumien. Die Grabungen gehen weiter; 2023 ging das Bild eines Freskos um die Welt, das einen antiken Vorläufer der Pizza zeigt.
Das einhundertste Todesjahr Rudolf Steiners
Mit dem Jahr 2025 schließt sich endgültig der Reigen der 100-Jahresfeiern, an die wir uns schon so richtig gewöhnt hatten. Denken wir an 2002: einhundert Jahre nach dem Beitritt Rudolf Steiners zur Theosophischen Gesellschaft; oder 2013: einhundert Jahre nach der Gründung der Anthroposophische Gesellschaft und der Grundsteinlegung des Goetheanum; oder 2019: einhundert Jahre Dreigliederungsbewegung und Gründung der Waldorfschulen. Und so ging es weiter, sich steigernd, bis zur Jahreswende 2022/23, der Feier zum 100. Jahrestag des Goetheanum-Brandes, gefolgt von 2023/24: der Weihnachtstagung.
Nun aber sind wir an einem Ende angekommen: mit dem Jahr 2025, dem Todesjahr Rudolf Steiners. Von nun an werden wir keine 100-Jahres-Gedenken mehr feiern können, von nun an fällt der Rückblick auf eine 100-jährige Vergangenheit ins Leere. Dort, wo sich, Jahr für Jahr eine sich steigernde Fülle gezeigt hatte, ist nun – nichts mehr. Gleichsam wie ein leises Echo kann das Erleben der Zeitgenossen Rudolf Steiners, das für diese mit dem 30. März 1925 begann, auch in unsere Gegenwart hineinklingen. »Ein sonniger Frühlingstag war heraufgezogen, die Vögel jubilierten, die Natur feierte, aber wir waren in tiefem Schmerz und konnten nicht fassen, dass Rudolf Steiner gestorben war«, erinnerte sich Margarete Kirchner-Bockholt noch neununddreißig Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners. Die Natur jubilierte, für die Rudolf Steiner Nahestehenden aber begannen die dunkelsten und schwersten Jahre ihres Lebens. Kämpfe in einer unvorstellbaren Härte und Schärfe brachen in die Leere hinein, die Rudolf Steiner hinterlassen hatte. Es begann eine kollektive »Höllenfahrt«.
Die Gegenwart der Jugend
»Welches Bild oder welchen Begriff verbindest Du augenblicklich – ohne darüber auch nur wenige Sekunde zu reflektieren – mit Deiner Erfahrung ›Ich bin Ich‹/›Ich Ich‹?«Diese Frage stelle ich seit mehreren Jahren möglichst jedes Mal am Beginn meiner Ausführungen, wenn ich in einer Schule – in Italien ist Philosophie in vielen Richtungen der Oberstufe Pflichtfach, und die Kollegien der Schulen kooperieren gerne und fruchtbar mit den Universitäten – oder in einem Anfängerkurs an der Universität mit den jungen Zuhörenden ein Thema vertiefen will, das mit der Philosophie des Bewusstseins, des Ich, des Selbst zusammenhängt. Und ich widme den Antworten stets mindestens 15 Minuten.Eine erfreulich schöne Überraschung sind, vom Anfang dieses »Experimentes« an, die mir geschenkten Antworten. Denn bisher hat in der Tat niemand mit der eigenen Ich-Erfahrung jenes Bild verbunden, das in herkömmlichen akademischen und außerakademischen Diskursen das Ich/Selbst betreffend vorausgesetzt wird. Niemand hat nämlich augenblicklich auf einen verortbaren Punkt innerhalb der eigenen leiblichen Gestalt hingewiesen, der sich als von der äußeren Welt abgegrenzt und in einer ausschließlich eigenen Erste-Person-Perspektive, gleichsam wie in einem Tunnel eingekapselt, empfinden würde; niemand hat bisher, anders gesagt, das Bild des Ich/Selbst als atomistisch verortbaren Punkt evoziert, von dem ausgehend so viele mehr oder weniger populäre wissenschaftliche, philosophische und spirituelle Ansätze der Ich-Erfahrung einen beschränkten Wert zuschreiben, sie mit einer zu überwindenden Perspektive verbindend. Als Beispiele der Bilder und Begriffe, die von den jungen Zuhörenden evoziert wurden, seien hier genannt: Ein Gesicht; eine warme und lichtvolle Leere; eine ungreifbare, jedoch positiv gegenwärtige Leere; Stille; ein (positives) Nichts; ein Kreis; eine Erfahrung des Innen und Außen zugleich. Das bisher interessanteste, komplexeste Bild wurde erst vor wenigen Wochen von einer Schülerin wirklich blitzartig wie folgt charakterisiert: »Eine leuchtende Sphäre!« – wobei die Schülerin diese Formulierung durch eine pulsierende Gebärde des Ballens und Spreizens mit den beiden Händen begleitete, mithin das Bild einer pulsierend leuchtenden, intrinsisch dynamischen Sphäre hervorrufend.
Betrachtungen zum Lebensgang Rudolf Steiners II
Steiner beginnt den Blick auf seine Kindheit mit der Herkunft seiner Eltern. Beide. Mutter und Vater, stammten aus der gleichen Gegend.2 Darin waren sie sich ähnlich. Der Bezug zu Landschaft und Milieu prägte und bestimmte sie. Im österreichischen Waldviertel waren sie verwurzelt. Als ihr Leben sich rundete, kehrten sie wieder dorthin zurück.Das Verhältnis zwischen einem durch irdische Bedingungen und geistige Intentionen bestimmten Lebensweg, die Spannung zwischen physischer und geistiger Biografie, ist für die menschliche Existenz ein Leben lang thematisch. Ob man sich gedrängt fühlt, dort zu leben und zu arbeiten, wo man auch zur Welt kam. oder ob die Tätigkeit einen an die unterschiedlichsten Orte auf der Welt führt, ob innere oder äußere Beweggründe den Anlass geben zur Führung des eigenen Lebensweges, sagt immer auch etwas aus über das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Existenz. Ist mit der Herkunft das Vertraute. Bekannte und Gewohnte verbunden, ein Lebenszusammenhang, der Sicherheit verheißt und der in diesem Sinne für das Alte und das Vergangene steht, so verheißt Fremde das Neue. Seine Unvorhersehbarkeit zielt auf die inneren Gestaltungskräfte der Seele und deren Wirksamkeit. Freilich handelt es sich dabei nicht um normative Aspekte biografischer Entfaltung. Die entscheidende und im eigentlichen Sinn ortsunabhängige Frage zielt letztlich auf das Maß der Verursachung einer eigenständigen Lebensführung durch das eigene Ich. Wird es vom Gegebenen, sei dies innerer oder äußerer Natur, überformt oder gibt es sich selbst und dem Leben Form und bildet auf diese Weise in der Zeit eine zweite Natur?
Wie sind sie zu verstehen?
Aus der Zeit vor der Jahrhundertwende gibt es mehrere Äußerungen Rudolf Steiners, die - in zum Teil recht heftiger Weise - gegen das Christentum gerichtet zu sein scheinen. In seiner Autobiografie erklärt er, was für ihn der Anlass dazu war: »Im Widerspruch mit den Darstellungen, die ich später vom Christentum gegeben habe, scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals niedergeschrieben und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei kommt das Folgende in Betracht. Ich hatte, wenn ich in dieser Zeit das Wort »Christentum« schrieb, die Jenseitslehre im Sinne, die in den christlichen Bekenntnissen wirkte. Aller Inhalt des religiösen Lebens verwies auf eine Geistwelt, die für den Menschen in der Entfaltung seiner Geisteskräfte nicht zu erreichen sein soll. Was Religion zu sagen habe, was sie als sittliche Gebote zu geben habe, stammt aus Offenbarungen, die von außen zum Menschen kommen. Dagegen wendete sich meine Geistesanschauung, die die Geistwelt genau wie die sinnenfällige im Wahrnehmbaren am Menschen und in der Natur erleben wollte.« Es gibt Autoren, die diese Erklärung Rudolf Steiners nicht für alle seine Aussagen gelten lassen wollen: Einzelne Formulierungen, so wird behauptet, ließen sich nicht anders verstehen, als dass er doch das Christentum als solches damals gemeint habe.
und die Inspirationsquellen der Anthroposophie
Martin Basfeld, der am 12. Oktober 2020 überraschend verstarb, arbeitete in den letzten Monaten seines Lebens intensiv an einem bedeutenden Artikel zu den fünf >lnspirations-quellen der Anthroposophie^ Angeregt von dem gleichnamigen Büchlein Sigismund von Gleichs wollte er zeigen, dass es einen geradezu spiegelbildlichen Zusammenhang zwischen der Baconschen Lehre von den Idolen und den fünf Inspirationsquellen gibt, und zwar in der Weise, dass diese Idole heute in verwandelter Form in Einrichtungen - auch in anthroposophischen - wieder Einzug gehalten haben. Das Anliegen dieses Artikels ist zweierlei: Zum einen mithilfe der Erkenntnisintention seines bislang unveröffentlichten Aufsatzes Martin Basfeld noch einmal »zu Wort kommen zu lassen«. Zum anderen auf der Grundlage seiner Ausführungen zu entwickeln, wie das Erkennen dieser Gegenimpulse dazu führen kann, einen neuen Zugang zu den Impulsen der Michael-Schule zu finden, die zu realisieren mit der Weihnachtstagung I923 angestrebt wurde.
Ein geistesgeschichtlicher Bogen von Aristoteles über Francis Bacon zu Rudolf Steiner
In einem Vortrag von 1910 entwickelte Rudolf Steiner eine eigentümliche, viergliedrige, symbolische Darstellung der menschlichen Seele: Zwei aufeinander zulaufende Pfeile in der Horizontalen, zwei in der Vertikalen, das Ganze umschlossen von einem Kreis. Dabei repräsentiert der eine der beiden horizontalen Pfeile (von links) die Erinnerung, durch welche die vergangenen Eindrücke in das gegenwärtige Seelenleben hereingetragen werden, der andere (von rechts) das »Begehren«, womit Rudolf Steiner das Gefühlsleben meinte, das sich auf Zukünftiges bezieht (Angst. Hoffnung. Vorfreude, im weiteren Sinne Sympathien und Antipathien). Senkrecht von oben wirkt in der Seele die Aktivität des Ich, welcher die Sinneseindrücke senkrecht von unten entgegenstehen. Die beiden horizontalen Pfeile zeigen die zeitliche Einbettung der Seele zwischen Vergangenem (Erinnertem) und Zukünftigem (»Begehrtem«), während das Ich gleichsam von »oberhalb« des Zeitstroms, aus dem Geistigen in die Seele hineinwirkt, und die Sinneseindrücke immer (nur) im Hier und Jetzt auftreten, also ebenfalls keine eigene Zeitlichkeit an sich tragen.
Christliche Ursprünge moderner Demokratie. Zugleich ein Blick auf Theo Kobusch: ›Die Entdeckung der Person‹
Seit gut 75 Jahren hat anthroposophisches Leben in den meisten deutschsprachigen Gebieten innerhalb von Gemeinwesen sich entwickeln und prosperieren können, die es in seinem Bestehen sichern, eingebettet in freiheitliche, demokratische Staatswesen. Wo sich aber, wie neuerlich zunehmend zu bemerken ist, durch Anthroposophie angeregte Weltsichten mit Ansätzen eines wieder stärker aufstoßenden völkischen Nationalismus durchmischen, ist es oftmals die Demokratie selbst, die skeptisch ins Visier genommen wird. Daraus ergeben sich Fragen an das anthroposophische Selbstverständnis, zumal diese Kritik an der Demokratie sich auf bestimmte Äußerungen Rudolf Steiners beruft, wie etwa im ersten ›Memorandum‹ von 1917.
Zur Gegenwart der Zukunft
Anthroposophie ist »die Weisheit, die der Mensch spricht«. - Der Mensch ist aber das Ich: »Und dieses ›Ich‹ ist der Mensch selbst. Das berechtigt ihn. dieses ›Ich‹ als seine wahre Wesenheit anzusehen«. Wiederum: »Das Ich ist alle Wesen / Alle Wesen sind das Ich«. - Diese wenigen, knappen Formulierungen Rudolf Steiners könnten dazu helfen, die häufig auftauchende Frage nach dem Spezifischen der Anthroposophie eindeutig und fruchtbar zu beantworten. In Zusammenklang mit ihnen könnte sie lauten: Das Spezifische der Anthroposophie ist ihr Wesen - hier verbal verstanden! - und Wirken als Ichosophie!
Zu Rudolf Steiners 100. Todestag am 30. März 2025
Mich beschäftigte eine bestimmte Frage in der Zeit der 80er- und 90er-Jahre. Ich war damals dabei, meinen Weg und mich selbst zu finden. Innerlich voller Fragen, stieß ich um mich herum auf eine Reihe älterer Menschen, meine Eltern und auch ehemalige Lehrer, die alle Anthroposophen waren und die irgendwie genau wussten oder zu wissen meinten, was aus mir werden sollte. Sie beurteilten mich aufgrund festgelegter Begriffe und Vorerfahrungen und planten mein Leben. Daraus entstand die folgende Frage: Kann man einen anderen Menschen aufgrund von festgelegten Begriffen und Vorerfahrungen wirklich beurteilen und verstehen? Ich erlebte, wie das völlig selbstverständlich so gehandhabt wurde, und merkte bei mir selber ein Unwohlsein demgegenüber. Denn diese Begriffe und Urteile hatten etwas an sich, als ob ihnen die Organe für das fehlten, was wirklich im Tieferen und auch in der Wahrnehmung geschah. Sie blieben bei sich. Reichten gar nicht zu mir hin. Ich fühlte mich in meinem inneren und äußeren Leben nicht gesehen.
Liebe Anthroposophie der Zukunft, ich schreibe Dir einen Brief. Einmal, um mich Deiner zu vergewissern im Nachsinnen und Vordenken. Dann auch, weil ich gefragt wurde, was ich zu Deinem Wesen sagen könnte, im Angesicht des 100. Todestages Rudolf Steiners am 30. März 2025. Dieses Datum hat sicher auch für Dich eine Bedeutung. Ich empfinde es als Einschnitt, durch den vieles neu werden kann - wenn es Menschen gibt, die das wollen. Da hier noch andere mitlesen, versuche ich. diesen intimen Brief so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen mitdenken und mitfühlen können.
Ihre Bewahrung und Erneuerung als Existenzfrage für Gegenwart und Zukunft
Es ist nun über hundert Jahre her, dass Rudolf Steiner die biologisch-dynamische Landwirtschaft auf Schloss Koberwitz bei Breslau im heutigen Polen begründet hat. Diese Form der Landwirtschaft ist nicht nur für unsere Zeit, sondern für die ganze Zukunft der Erde etwas ungeheuer Wichtiges. Aber nicht minder wichtig ist es, und zwar als Vorbereitung, um die Bedeutung der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise überhaupt verstehen zu können, die Frage nach dem Wesen der Kulturlandschaft, nach ihrer Entstehung, ihrer Gefährdung und ihrer Zukunft zu stellen. Dafür muss ich zunächst weit ausholen.
Was ist das Paradies? Das muss man eigentlich niemandem erklären: Es gibt Ferienparadiese, Gartenparadiese, Schokoladen- oder Gurkenparadiese. Hunderte Ortsteile weltweit sind nach dem Paradies benannt. Es gibt Filme, Romane, selbst ein Asteroid trägt den Namen des Paradieses. Das Paradies ist eines der zentralen Urbilder im Christentum, im Judentum und im Islam. Auch wenn das Nirvana des Buddhismus und des Hinduismus auf einer etwas anderen Vorstellung dieses Paradieses beruhen, ist doch das Grundgefühl dasselbe: »Es ging uns einst sehr gut, jetzt geht es uns viel, viel schlechter, aber eines Tages wird es wieder …«
Die respirativen Funktionsträger Gaias
Wie viele Menschen liebe auch ich die Berge. Neben ihrer unbegreiflichen Schönheit und Majestät nehme ich sie als hohe geistige Wesen wahr. Ihre Lebensäußerungen empfinde ich, gemessen an menschlichem Sein, als so titanenhaft dimensioniert, dass sie das um Verstehen bemühte Bewusstsein mit ihrer Seinswucht gleichsam betäuben oder zumindest herabdämpfen. Zu diesem Problem tritt die Fremdartigkeit des Bergbewusstseins gegenüber menschlichem Bewusstsein hinzu. Entsprechend schwer fällt es mir, zu einem dialogischen Verstehen vorzudringen. Bei einem Phänomen, das ich die »Bergatmung« nenne, blieb mir, über die unmittelbare Wahrnehmung hinaus, ein tieferes Verständnis lange verwehrt. Erst durch die Sichtweise einer anthroposophisch erweiterten Physiologie wurden mir die inneren Zusammenhänge erkennbar. Für mich ist es eine der schönsten Arten, mit der von Rudolf Steiner eröffneten Anthroposophie zu leben, wenn sich deren Weisheitsgüter (die uns zunächst in verschriftlichter Buchform begegnen) völlig zwanglos in der Erfahrungswirklichkeit auf ungeahnte Weise bestätigen und zur lebendigen Anwendung bringen lassen. Darin liegt eine tiefe Glücksempfindung. Hiervon will der folgende Artikel (als einem möglichen Zugang) berichten.
Anmerkungen zu Daniel Nicol Dunlop
100 Jahre nach der Weihnachtstagung, also in dem Rhythmus, in welchem gewichtige Impulse erneut weltwirksam werden können, scheint ein gesteigertes Interesse an der rätselhaften Gestalt Dunlop aufzukommen. In dieser Lebensskizze liegt der Aspekt darauf, Dunlops Wesen und Wirken insbesondere im Zusammenhang mit Rudolf Steiner und der Anthroposophischen Bewegung als in Verbindung mit den Westlichen Mysterien und damit mit dem Mysteriengeschehen insgesamt stehend, zu verstehen. Die Tragik von Dunlops Schicksalsweg innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, aber auch das Zukunftspotenzial dieser Konstellation können heute besser erkannt werden.
Daniel Nicol Dunlop und die Mysterien der Erde
Der vorliegende Beitrag ist die Ausarbeitung eines Vortrags zur Tagung des D. N. Dunlop Instituts ›Die Mysterien der Freiheit und der Gemeinschaft – Daniel Nicol Dunlops Wirken als Esoteriker und Wirtschaftspraktiker‹ in Frankfurt am Main. Da die besonderen wirtschaftlichen Organisationsfähigkeiten Dunlops sich nicht aus seiner Biografie erklären lassen, wird untersucht, wie diese in einer früheren Inkarnation veranlagt worden sein könnten. In der Wirtschaftsorganisation des Templerordens tauchen viele Elemente auf, die von Dunlop aufgegriffen und an die Anforderungen seiner Zeit angepasst wurden.
Zum 100. Geburtstag des ›Heilpädagogischen Kurses‹
Ausgehend von einer Rudolf Steiner besonders befriedigenden Tafelzeichnung zum Heilpädagogischen Kurs entwickelt G. Alfred Kon im folgenden Beitrag, wie ein tieferes Verständnis der Sinnesorganisation zum Begreifen des Karma-Gedankens führen kann.
Brücken für die Bewusstseinsseele bauen
Der vorliegende Artikel soll die Bedeutung eines vertieften Verständnisses der menschlichen Beziehungsfähigkeit für die zukünftige Entwicklung der Geisteswissenschaft hervorheben. Diese Aufgabe wird immer dringlicher, zumal sich die Dynamik der menschlichen Beziehungsfähigkeit seit Steiners Zeiten stark verändert hat, insbesondere in den letzten Jahren mit dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien.
Psychologie in der Anthroposophie
Wer bin ich, was kann ich, was will ich? Alle Antworten auf diese Fragen zusammengenommen drücken unsere Identität aus. Sie zu finden ist Grundlage eines erfüllten Lebens. Durch die seelischen Wirkungen des Schwellenübertrittes finden wir sie oft noch schwerer. Dass dieser Schwellenübertritt in unserer Kulturepoche auch unbewusst erfolgt, ist ein wichtiger Grund, warum wir die Anthroposophie brauchen. Die Antworten auf oben genannte Fragen zu finden, ist eines der Ziele der Waldorfpädagogik und des anthroposophischen Erkenntnisweges. Sie nicht zu finden kann in Krisen führen. Kann Psychotherapie in solchen Krisen auch für Anthroposophen ein Gewinn sein? Wie stehen Psychotherapie und Schulungsweg zueinander?
Die Bedeutung der Psychologie für eine soziale Heilkunst
Die Krisen der Gegenwart können nur gemeistert werden, wenn genügend Menschen einen bewussten Zugang zum Gebiet der moralischen Impulse finden. Das setzt voraus, dass die Schwelle zur geistigen Welt richtig überschritten wird. Der vorliegende Beitrag zeigt, warum Rudolf Steiner sich bei seiner ersten öffentlichen Beschreibung der drei Glieder des sozialen Organismus zunächst intensiv mit der damals aufkommenden Psychoanalyse auseinandersetzte. Wenn mit falschen Erkenntnismitteln in den Bereich des Unbewussten eingedrungen wird, entsteht eine Gefahr für das gesamte soziale Zusammenleben.
Gedanken zur geistigen Forschung
Zur Bedeutung der »charakterologischen Veranlagung« in Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹
»Michael muß uns durchdringen als die starke Kraft, die das Materielle durchschauen kann, indem sie im Materiellen zugleich das Geistige sieht«1 - Rudolf SteinerMit Eduard von Hartmanns Hinweis auf die determinierende Kraft charakterlicher Verschiedenheiten der Menschen führt Rudolf Steiner im I. Kapitel der »Philosophie der Freiheit« einen Freiheitsgegner an, der sich von den Auffassungen der großen Masse ihrer Gegner unterscheidet. Denn diese halten es für prinzipiell unmöglich, die Naturkausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns unterbrochen zu denken. ...