Anmerkungen zum Literaturnobelpreisträger Peter Handke
Als bekannt wurde, dass der österreichische, nahe Paris lebende Schriftsteller Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis 2019 ausgezeichnet werden sollte, hagelte es Kritik an dieser Entscheidung der Schwedischen Akademie. Der US-amerikanische Autorenverband P.E.N. zeigte sich .sprachlos. über die Auswahl und beklagte, mit Handke werde einem Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen, der »historische Wahrheiten« untergrabe und den »Ausführenden eines Genozids Beistand geleistet« habe. Ähnlich äußerte sich der Preisträger des Deutschen Buchpreises Sasa Stanisić in seiner ›Wut-Dankesrede‹, indem er Handkes Auslassungen in Texten wie ›Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise‹ (1996), ›Unter Tränen fragend‹ (2000) und ›Die Tablas von Daimiel‹ (2005) einen Hang zur Lüge attestierte. Überhaupt kam im Vorfeld der Verleihung des Buchpreises eine Debatte in Gang, die zum einen wie eine Neuauflage und Kopie verschiedenster Handke-Debatten der Vergangenheit anmutete, und zum anderen mehr oder minder unfreiwillig Argumentationsmuster und Diffamierungsstrategien freilegte, auf die Handke in seinen die Jugoslawienfrage tangierenden Schriften immer wieder hingewiesen hat. Denn Handkes Analyse der medialen Berichterstattung über dieses Thema und ihrer suggestiv-manipulativen Mechanismen in Wort und Bild scheint der wahre – und zugleich lässig ignorierte – Grund zu sein, weshalb sich seine Kritiker an ihm abarbeiteten und den alten Vorwurf einer angeblichen Unterstützung des »Schlächters Milosević« reproduzierten.
Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.
Die erweiterte Demokratie – Teil III
Für den Liberalismus ist Gemeinschaft nicht das Ergebnis eines bewussten gemeinsamen Wollens, sondern in sich absichtsloser Einzeltaten. Dem steht der Demokratismus entgegen, der die Gemeinschaft nach menschlichen Ideen konstruieren will. Für ihn werden die individuellen Handlungen erst mittels der sie verbindenden, gemeinsam beschlossenen Ideen zu Elementen eines sozialen Ganzen. Anstelle des als naturähnlich empfundenen »Marktmechanismus« tritt hier das menschliche Ideal, das mit Hilfe der Staatsgewalt auch gegen sich widersetzende Minderheiten durchgesetzt wird. Beide Lager können sich mit ihrer Meinung auf beobachtbare Tatsachen stützen. Soziale Einrichtungen wie die Menschenrechte, das Eigentum oder die Sozialversicherung sind unzweifelhaft Produkte des menschlichen Geistes und verdanken ihre Wirksamkeit der staatlichen Gewalt. Sobald er sich wirtschaftlichen Zusammenhängen zuwendet, stößt der Demokratismus jedoch an eine natürliche Grenze. Hier stehen seinem Universalanspruch die ökonomischen Instinkte entgegen, welche die Fruchtbarkeit individueller Freiheit notgedrungen anerkennen müssen. Mag der auf Meinungsbildungs- und Abstimmungsverfahren trainierte Verstand auch leugnen, dass ökonomische Prozesse nicht demokratisch geregelt werden können – die leiblichen Bedürfnisse sprechen doch ihre eigene Sprache.
Die erweiterte Demokratie – Teil IV
Der moderne Mensch stellt sich der Welt als ein Ich gegenüber. Innerhalb seines Ich erlebt er die Ideenwelt. Was sich demgegenüber vor seinen Sinnen ausbreitet, zählt er zu einer unabhängig von seinem Ich existierenden Außenwelt. Sein Nachdenken über die Sinneswahrnehmungen führt ihn allerdings dazu, in diesen Modifikationen seines Gehirns durch eine Außenwelt zu sehen, die ihrerseits nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Die Wirklichkeit hinter der Farbe Rot etwa stellt er sich als Prozess auf molekularer, photochemischer und elektrischer Ebene vor. Ein solcher Zusammenhang ist nicht den Sinnen als Wahrnehmung, sondern dem Denken als Idee gegeben. Statt dem Inhalt seiner Sinneswahrnehmungen spricht er somit seiner Idee eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz zu. Sie ist für ihn ein unveränderliches »Naturgesetz«. Ganz anders dagegen die Kulturideen, von den religiösen Inhalten bis zu den Menschenrechten: Diese erlebt der Gegenwartsmensch als willkürliche Produkte seines Geistes.
›Ekta Parishad‹ als Beispiel einer sozialen Bewegung
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und unsere Eltern glaubten, wir seien nach Ausbombung, Evakuierung und Flucht »angekommen«, wurden uns Kindern kleine Gartenbeete zum Bestellen und Pflegen zugeordnet. Da wir in diesen ersten Nachkriegsjahren oft Hunger hatten, säten wir schnell Wachsendes und direkt Essbares, Radieschen und Möhren. Neugier und Hunger ließen mich beim Hervorsprießen der ersten Blätter die Pflänzchen herausziehen – wenigstens ein kleines bisschen – um zu sehen, ob sich schon etwas Rotes, Essbares zeigte. Ich lernte aus dieser pädagogischen Maßnahme meiner Eltern, dass die Keimblätter, also die allerersten Blätter, stets anders aussehen als die der späteren Pflanze, und ich erlebte, dass unvorsichtiges Hinschauen einen Wachstumsprozess gefährden und abbrechen kann.
Die Wahlen in Israel und ihre deutsche Rezeption
Persönliche Vorbemerkung: Die Niederschrift dieser Worte findet 72 Stunden nach den letzten israelischen Parlamentswahlen statt – in einer Stimmung, die vergleichbar ist mit der Trauer angesichts des Todes einer geschätzten Person aus dem nahen sozialen Umfeld. Etwas in der israelischen Gesellschaft ist nicht mehr da. Ob es in einer fernen Zukunft wiedergeboren wird, ist nicht absehbar. Ein Israeli, der auf Hebräisch denkt, aber seine Gedanken – zwar außerhalb Deutschlands, doch im (»neutralen«, d.h. schweizerischen) deutschsprachigen Raum – auf Deutsch notiert, vermag diesen örtlichen und sprachlichen Kontext nicht zu ignorieren.
als Symptom des materialistischen Intellektualismus
Wieso kann eine in den meisten Fällen relativ milde verlaufende, grippeähnliche Infektionskrankheit die moderne Welt weithin zum kollapsartigen Erliegen bringen? Die allfälligen Antworten sind einfach: »Es gibt keine Impfung oder Therapie«; »Gesundheit ist das Wichtigste«; »Sicherheit geht vor«; »Wir müssen uns um die älteren Risikopatienten kümmern«; »Wir müssen die Krankenhäuser vor Überlastung schützen« etc. Das ist alles richtig, niemand kann und wird es bestreiten, nicht einmal Donald Trump oder die AfD. Doch genauso richtig ist es, dass zwischen 97 und 99,8 Prozent aller Erkrankten nur geringfügige Symptome aufweisen und nach wenigen Tagen wieder genesen. Statistisch gesehen ist das zwar weniger als bei einer üblichen Grippe, doch die Corona-Zahlen sind mit verschiedenen Unsicherheiten bezüglich ihrer Vollständigkeit und Aussagekraft behaftet. Weil man Tote aber nicht gegeneinander aufrechnen kann stellt sich die Frage, ob wir von jetzt an jeden Winter die Welt unter Quarantäne stellen wollen.
Seit Jahren ist die Rede davon, dass das gesellschaftliche Klima rauer und die Art und Weise, diverse Themen und Problemfelder zu diskutieren, weniger von sachlichen Argumenten als von hitzigen Emotionen bestimmt wird. Eine Spielart der politischen Debatten, die immer mehr an Einfluss gewinnt, ist dabei die Frage des Umgangs mit Minderheiten, die sich in identitätspolitischen Diskursen artikuliert. Deren »rechte« und »linke« Varianten nisten sich zunehmend in das Lager einer sich als liberal verstehenden »Mitte« ein. Während nun über »rechte« Identitätspolitiken unzählige kritische Studien und Artikel vorliegen und sich rechte Identitätspolitik in ihrer imaginierten ethnisch-nationalen und kulturellen Identität als atavistisches Konstrukt selbst ad absurdum führt und auch kaum Resonanz erfährt, erfreut sich »linke« Identitätspolitik in ihrem Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten einer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz. Das mag auch daran liegen, dass der mit der linken Identitätspolitik einhergehende Opferdiskurs Mitgefühl evoziert. Aber auch das hat eine Kehrseite. Was nämlich den »linken« mit dem »rechten« Identitätsdiskurs verbindet, ist der Glaube an die Macht der Kollektive – wie auch immer diese benannt und ideologisch aufgeladen werden. Und in dem Ensemble gegebener und unveränderbarer Gruppeneigenschaften, als deren Teil sich das Individuum zu begreifen hat, kommt dessen autonome Selbstbestimmung auf der Basis zu erringender Ideale nicht vor.
Impressionen aus Südafrika
In Südafrika kommen Dinge zusammen, die sonst weit auseinanderliegen. Zwischen einem Township, wo Menschen ohne die einfachsten Lebensgrundlagen wohnen, und einer Müllkippe, die sich als langgestreckter Hügel aus der Landschaft erhebt, liegt ein Industriegebiet mit einer Fabrik, in der mit deutschen Maschinen Pflastersteine aus Beton hergestellt werden. Von den insgesamt 400 Beschäftigten sind hier vor Ort etwa die Hälfte tätig. In einer Halle hört der Besucher ein Streichquartett spielen, Arbeiter sitzen auf Paletten und Kanistern zwischen den Maschinen und hören zu. Mozart in Johannesburg – Schwarze spielen, Schwarze hören hingegeben zu, zwei Weiße stehen etwas abseits, der Besuch und seine Begleitung. Die Arbeiter kommen aus dem Township und sind froh, hier Arbeit zu finden. Einmal in 14 Tagen kommen die Musiker und spielen insgesamt drei Stunden lang in den verschiedenen Produktionsstätten und Büros der Fabrik.
Frankreich und der »Krieg« gegen Covid-19
»Wir sind im Krieg«, wiederholte Emmanuel Macron sechs Mal in seiner Ansprache zur Corona-Pandemie am 16. März 2020: »Ich rufe alle Akteure in Politik, Wirtschaft, Sozialwesen und Vereinen, das gesamte französische Volk, auf, sich dieser nationalen Union anzuschließen, die es unserem Land in der Vergangenheit ermöglicht hat, so viele Krisen zu überwinden.« Ähnliche Worte hatten die Franzosen schon 2015/16 gehört, als sein Vorgänger François Hollande anlässlich der Attentate in Paris einen »Krieg gegen den Terrorismus« erklärte, was den bis 2017 herrschenden Ausnahmezustand rechtfertigen sollte. Aus dieser und anderen Erfahrungen heraus sollte man besonders wachsam sein, wenn militärische Ausdrücke in Krisen angewendet werden. Sie zielen in der Regel darauf ab, einen »heiligen Bund« mit den Regierenden zu schließen, sodass ihre Politik ohne Widerstand durchgeführt wird.
Welchen Beitrag kann Anthroposophische Medizin in der Versorgung von Covid-19 leisten?
Anfang des Jahres wurde die WHO auf einen neuartigen Virustyp aufmerksam, als plötzlich 41 Personen um den Huanan-Seafood-Markt im chinesischen Wuhan eine schwere Lungenentzündung entwickelten. Der isolierte Erreger stellte sich als ein Coronavirus (SARS-CoV-2) heraus und gilt als neue Zoonose, d.h. ein Virus ist aus dem Tierreich auf den Menschen übergegangen. Solche Zoonosen können ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen, da das Immunsystem des Menschen bisher keine Immunität dagegen aufbauen konnte. Als Zoonosen gelten auch Infektionen wie Ebola, HIV, die Vogelgrippe (SARS-1), Nipah, das West-Nil-Virus, MERS oder das Zika-Virus. Die Letalitätsraten (= Sterberate bei Infektion) betrugen bei Ebola 50-90%, bei HIV ohne Therapie in den ersten Jahren 100%, bei zuletzt aufgetretenen Zoonosenwie dem Nipah-Fieber 40-70% und dem MERS-Coronavirus 20-40%. Somit bestand zu Beginn auch für Covid-19 die Frage nach der Gefährlichkeit für den Menschen.
Zum Umgang mit der Corona-Pandemie in der Türkei
Männer in Ganzkörperschutzanzügen vor einem Tankwagen spritzen menschenleere Straßen ab. Bilder aus den ersten Corona-Tagen in der Türkei – d.h. nach der Meldung des ersten offiziellen Infektionsfalls am 11. März – zeigten so großflächige wie beliebige Desinfizierungsaktionen im öffentlichen Raum, angeordnet mit dem ersten Corona-Erlass vom 13. März. Bilder, die staatliche Fürsorge und Sicherheit suggerierten, wo im Grunde keine war. In der Türkei verschärft die Corona-Pandemie vor allem die Wirtschaftskrise und die Krise des Vertrauens in Staat, Politik und Medien. Lange herrschte die auch staatlicherseits propagierte Auffassung von einer Art nationaler Immunität vor, manche behaupteten gar, Türken seien genetisch weniger anfällig für das Virus. Erinnerungen an die Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl kamen hoch, als Deutschland den Import von Haselnüssen aus der mutmaßlich radioaktiv verseuchten Schwarzmeerregion stoppte, ein türkischer Minister aber vor die Kameras trat, demonstrativ Tee derselben Provenienz trank und sich brüstete: »Uns kann nichts geschehen.«
Lebensbedingungen eines Virus
Im Schweizer ›Tagesanzeiger‹ vom 17. April schreibt Kia Vahland, dass es hinsichtlich der kulturellen Bedeutung der Maske – ›Stoff der Zukunft‹ ist der Artikel überschrieben – eines ideologischen Abrüstens bedürfe. Das Tragen von Masken sei ein Zeichen der Hoffnung, die Maske eine »Vorbotin eines möglichen Sieges über die Seuche«. Doch wer Dankbarkeit für ein offenes menschliches Gesicht zu empfinden vermag, wer Ehrfurcht hat vor dem Antlitz des Individuums, wer Freude und Freiheit erlebt unter einander freundlich anlächelnden Mitmenschen – der kann eigentlich nichts Zukünftiges in der gegenwärtigen Entwicklung erkennen, auch wenn die Verordnung oder Empfehlung, eine Maske zu tragen, vom Kopf her als solidarische und der allgemeinen Sicherheit dienende Tat verstanden wird. Das unmittelbare Erlebnis von maskierten Bürgern, von Gleichschaltung und Anonymität, spielt der guten Absicht indes fortwährend einen Streich. Wer muss sich nicht einen Ruck geben, um sich in solch einer Umgebung, in solch einer Art Alltag mit seinen Nächsten wirklich frei und wohlzufühlen? Es strahlt unwillkürlich etwas Unangenehmes und Negatives aus, das zuallererst Kinder spüren und intuitiv als Verstörung und als angstmachend erleben. Was mag es in ihrem Innerem anrichten, wenn sie die Welt als maskiert erfahren, die Maske als das kühl Normale und nicht das spielerisch Verzaubernde? Vor allem, wenn sie auch selbst eine solche Maske aufsetzen müssen.
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Am 9. Mai (dem 99. Geburtstag von Sophie Scholl) war ich zum dritten Mal auf der Stuttgarter Demonstration für die Aufhebung der Corona-Maßnahmen und die Wiederherstellung der Grundrechte. Trotzdem bin ich kein Verschwörungstheoretiker. Ich bin auch kein kategorischer Impfgegner, trage keinen Aluhut, rechne mich weder zum rechten noch zum linken Rand des politischen Spektrums, bezeichne mich im üblichen Sinne nicht als »Esoteriker« und bin auch kein Antisemit.
Die erweiterte Demokratie – Teil V
Weil sie sich von einer Obrigkeit befreien und an ihren eigenen Ideen orientieren möchten, streben Menschen nach Demokratie. Zu diesem Zweck erobern sie das Gewaltmonopol, das zuvor in den Händen einiger weniger lag. Nicht der Wille eines Alleinherrschers, sondern der gemeinsame Beschluss einer Mehrheit solldurchgesetzt werden. »Partizipation« im demokratischen Sinn bedeutet daher zunächst Teilhabe an der Macht, soweit sich diese auf das Gewaltmonopol stützt. In den Worten Rainer Mausfelds: »Demokratie ist die Vergesellschaftung von Herrschaft und die Unterwerfung der Staatsapparate unter den Willen der Bürger.« Mit dem Übergang der Staatsgewalt von den ehemaligen Herrschern auf das Volk ist das demokratische Ideal allerdings noch nicht realisiert. Vielmehr muss das Volk die Wirkungsrichtung der Staatsgewalt umkehren, sobald es ihrer habhaft geworden ist. Eine echte Demokratie definiert nicht, was der Einzelne tut oder wie er es tut, sondern sie schützt sein Recht, dies selbst zu entscheiden. Gewalt wird nur dann angewandt, wenn die freie Entfaltung des einen das Recht des anderen verletzt, dasselbe zu tun – also stets zur Wiederherstellung individueller Gestaltungsräume. Das ist die eigentliche Idee der Menschenrechte. Diese und alle anderen Rechte, die mit ihnen in Einklang stehen, sind eine noch unbestimmte Möglichkeit individuellen Urteilens und Handelns und haben somit die Zurückweisung jedes demokratischen Urteils über das konkrete Handeln des Einzelnen zum Inhalt.
Wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist – was ist dann Politik? Ein »schmutziges Geschäft«? Wir unterlegen »Politik« wohl eher mit negativen Vorstellungen, vor allem sehen wir das taktierende Durchsetzen von »Interessen« und den polemischen Kampf um Mehrheiten. Parteien suchen im Wettbewerb um »Stimmen« einen »Markenkern« zu profilieren. Ihre Vertreter sprechen weitgehend in feststehenden Wortgebilden. Als »Bürger« üben wir die »Macht, die vom Volke ausgeht« dadurch aus, dass wir ein Parteiprogramm wählen, in dem Gesetzesvorhaben angekündigt werden. Sie werden dann in der Regel so gar nicht realisiert, weil sie nicht durchsetzbar sind oder in einem mehrheitsfähigen Kompromiss münden. Wir erleben deutlich, dass drängende gesellschaftliche Fragen nicht mit Parteimeinungen und -denkweisen beantwortet werden können. Eine »Antwort« auf diese Verhältnisse ist die zunehmende, auch unterschwellige Staats- und Politikverdrossenheit. Dessenungeachtet erfährt die staatlich gewährleistete Rechtssicherheit in der Verankerung durch das Grundgesetz und dessen Sicherung durch das Bundesverfassungsgericht unsere Wertschätzung (oder sollte es jedenfalls).
Russische Oster-Impressionen
Ein Grundklang in der russischen Seele ist der Reflex gegen die Invasoren aus dem Westen, genährt von traumatischen Erlebnissen der letzten zwei Jahrhunderte. In diesem Jahr fiel das orthodoxe Osterfest (19. April) in die Zeit des Lockdown. Das unsichtbare, scheinbar allgegenwärtige Virus macht nicht Halt vor dem, was das russische Volk immer wieder am Abgrund hat aushalten lassen: der Zusammenhalt in der Opferkraft und die johanneische Spiritualität der Ostkirche. Der folgende Beitrag stellt Eindrücke vom russischen Osterfest in einen größeren historischen Zusammenhang.
Im Gespräch mit einer Rose
Vor mir steht eine Rose und schaut mich an. Das ist eine längere Geschichte, die Beziehung zwischen uns. Um sie abzukürzen: Die Rose stammt von einem Strauch, der mir früher zugänglich war. Die Menschen, denen der Grund und Boden gehört, auf dem sie wächst, hassen Rosen. Bevor ich diese Menschen kannte, wusste ich nicht, dass es so etwas überhaupt gibt in der Welt. Es war mir also erlaubt, die edlen, wundervollen Blüten ins Haus zu holen, ganze Sommer lang – gedecktes Rot, mit einer feinen Pfirsichnote der Duft – ihre Schönheit genießend. Damit ist es jetzt vorbei. Die Rosenhasser hassen nun auch mich. Das ist eine noch längere Geschichte.
Belgische Impressionen zur Corona-Epidemie
Belgien, ein Land mit 11,5 Mio. Einwohnern, zählte Mitte Juni offiziell 9.661 Opfer von Covid-19. Pro eine Million Einwohner gab es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland 106 Tote, in Belgien dagegen 834 – das war weltweit die höchste Zahl! Darüber, wie diese und andere Zahlen ermittelt wurden, gibt es natürlich Diskussionen. Zwischen dem 16. März und dem 26. April sind aber auf jeden Fall in Belgien über 7.397 Menschen mehr als erwartet gestorben. Der April 2020 war der tödlichste Monat seit dem Zweiten Weltkrieg, sowohl absolut wie im Verhältnis zur Bevölkerungszahl.
Ein Pfingstgeschehen
Am 4. Juni 2020 zogen die medizinischen Fachzeitschriften ›The Lancet‹ und ›The New England Journal of Medicine‹ (NEJM) zwei Artikel zurück. Beide gehören zu den angesehensten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt, insbesondere ›The Lancet‹ hat Generationen von Ärzten geprägt und übt starken Einfluss auf das Gesundheitswesen aus. Nur äußerst selten werden Artikel von diesen Zeitschriften zurückgezogen. Deswegen ist diese doppelte Rücknahme ein Donnerschlag, der eine weitreichende Wende des wissenschaftlichen Diskurses ankündigen könnte. Bedeutungsvoll ist allerdings weniger das Ergebnis an sich, sondern vor allem der Prozess, der dazu geführt hat.
Die politischen Parteien vor und nach der Corona-Krise
Durch die Corona-Krise hat sich nicht nur das gesellschaftliche Leben, sondern auch unser parlamentarisches System verändert. Denn die weitreichende Übertragung von Kompetenzen auf die Exekutive, insbesondere die deutlich ausgeweiteten Befugnisse des Bundesgesundheitsministers (der gegenwärtige ist ein gelernter Bankkaufmann), und die verfassungsrechtlich fragwürdigen Entscheidungen, welche die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer getroffen hat, haben eher zur Erosion als zur Konsolidierung des Systems beigetragen. Die Bevölkerung scheint diese quasi-monarchische Herrschaft aber größtenteils akzeptiert zu haben, nur ein kleiner Teil sieht das kritisch und rebelliert dagegen. Die CDU/CSU als Hauptregierungspartei mit Kanzlerbonus hat in den Umfragen deutlich gewonnen, während die Oppositionsparteien tendenziell eher verloren haben, nachdem sie sich teils ablehnend, teils zustimmend zu den Regierungsmaßnahmen positionierten. Welche weiteren Entwicklungen zeichnen sich ab?
Es ist erstaunlich, dass sich die Menschen in ihrer Einschätzung der Corona-Krise und der Sinnhaftigkeit der Schutzmaßnahmen immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Im Widerspruch zur Mehrheit der Bevölkerung und zur Meinung sämtlicher Leitmedien gehen Hunderttausende gegen die gesundheitspolitischen Maßnahmen auf die Straßen, während die zum weit überwiegenden Teil bürgerlichen Demonstranten von einer führenden Politikerin als »Covidioten« beschimpft wurden. Warum prallen die Gegensätze so scharf aufeinander?
Impressionen vom schwedischen Sonderweg
Kann man allen Ernstes in diesen Zeiten nach Schweden in den Urlaub fahren? Soll man das gebuchte Ferienhaus stornieren, nur weil einige Wochen vor Abfahrt im Raum stand, dass jeder Schwedenurlaub-Heimkehrer in vierzehntägige Quarantäne muss, da die Fallzahlen dort angeblich stark angestiegen seien?
Zu Katharina Nocun & Pia Lamberty: ›Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen‹
Um die wievielte Publikation über Verschwörungstheorien und deren Widerlegung es sich bei den vorliegenden Ausführungen handelt, lässt sich kaum noch ermitteln. Finden sich hier überhaupt neue Aspekte? Neu ist die Ausschließlichkeit der Blickrichtung, mit der Katharina Nocun und Pia Lamberty arbeiten. Sie vollziehen den Schwenk in die völlige Psychologisierung des Themas. Dahinter mag die gute Absicht stehen, eine zunehmende Prägung der Gesellschaft durch extreme und zugespitzte Meinungen und Haltungen abzuschwächen. Die Einsicht in mögliche Abwege menschlichen Denkens, Wünschens, Hoffens usw. soll vor wachsender Irrationalität bewahren, die Kenntnis und Erkenntnis psychologisch erforschter Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster soll Fehler in der Interpretation der Wirklichkeit aufdecken. Unter diesen Aspekten werden hier mehrere Verschwörungsthemen behandelt.
Ich glaube nicht an die Macht der Bilder. Bilder, die keine Originale sind. Originale sind immer selbsterzeugt. Auch wenn sie an der Wand hängen – scheinbar. Man muss zwar hingehen, um sie zu sehen, aber verwirklicht werden sie im Auge des Betrachters. Nirgendwo sonst. Insofern sind Originale immer Eigenwerk, ob nun stofflich als Vorlage für das schöpferische Nachbild oder gänzlich imaginativ in der eigenen Einsichtskraft erschaffen. Die Kraft der Einsicht ins Offene – nur wenn sie angesprochen wird, auf Augenhöhe, bildet sich Werk.
Warum die Demokratie an ihren eigenen Kräften zugrunde gehen muss
Am 29. August 2020 ist laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein »ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie« verübt worden: Eine laut grölende Menge hatte am Abend die Absperrungen des Reichstagsgebäudes durchbrochen, um die Treppe dieses »symbolischen Zentrums für unsere freiheitliche Demokratie« (Horst Seehofer) für Selfies zu nutzen. Zudem waren, neben einer Reihe anderer Fahnen, viele nagelneue Flaggen mit den Farben des Deutschen Kaiserreichs zu sehen. Glaubt man den Medien, so konnte nur durch den heldenhaften Einsatz dreier Polizisten Schlimmeres verhindert werden.
Was die Digitalisierung des Geldes bedrohlich macht
Am 12. Oktober wurde von der Europäischen Zentralbank (EZB) das sogenannte Konsultationsverfahren über die Einführung des Digital-Euro eingeleitet. Dass dieser Schritt der Abschaffung des Bargelds dient, davon ist auszugehen. So weiß der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch: »Mit jedem Schlag gegen das Bargeld wird zeitgleich suggeriert, dass niemand die Absicht habe, das Bargeld gänzlich abzuschaffen. Dabei ist genau dies das langfristige Ziel. Die Pläne der Kommission sind somit auch der Einstieg in die Abschaffung der Freiheit.«
Impressionen von den ›Sommerwochen spirituelle Ökologie‹ 2019 in Russland
Ikonen seien Fenster zu einer anderen Wirklichkeit, heißt es. Als Bausteine einer Ikonostase verbinden sie die Gefühle der Gläubigen im Kirchenraum mit dem Mysteriengeschehen hinter der Altarwand. Einzelnen, herausgehobenen Ikonen darf man auch seine Ehrerbietung mit einer Verneigung und einem Kuss erweisen, um sich mit der Präsenz des Heiligen zu verbinden. So vermitteln die Ikonen das Erlebnis der Durchsichtigkeit (Diaphanie) für das Geistgebiet. Sie sind Fenster zur Wirklichkeit der werdenden Christussubstanz.
Vielleicht ist es so, dass das gemeinsame Leiden an unserer Verschiedenheit so stark geworden ist, dass wir letztere nicht länger als Quell der Humanität nutzen können, sondern ausbaden in tödlicher Zersetzung. Von der Virusentzweiungsdiskussion mit einem Freund bis hin zur großen Weltpolitik: Blöcke! Überall Blöcke. Fraktionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Wer das nicht will, steht ganz im Abseits, allein auf sich gestellt. Das ist auch kein menschenwürdiger Zustand. Ich suche Hilfe dort, wo ich sie immer suche, in der einigenden Ideenwelt. Diese Formulierung stammt aus der ›Philosophie der Freiheit‹.
Die Vertiefung der sozialen Spaltung fordert die Gesellschaft heraus
Es war nicht anders zu erwarten: Die Pandemie mitsamt ihren Folgen und den umstrittenen Regelungen zu ihrer Eindämmung lässt die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen. So prognostizierte David Nabarro von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich den Staats- und Regierungschefs dieser Erde, das Ausmaß der Armut und Unterernährung von Kindern werde sich weltweit bis zum nächsten Jahr verdoppeln. Namentlich die Abriegelungsmaßnahmen ließen »arme Menschen um ein Vielfaches ärmer« werden: »Schauen Sie sich an, was mit dem Armutsniveau passiert – es scheint, dass wir bis zum nächsten Jahr eine Verdoppelung der weltweiten Armut haben könnten. Es kann gut sein, dass sich die Unterernährung von Kindern mindestens verdoppeln wird, weil die Kinder in der Schule keine Mahlzeiten bekommen und ihre Eltern in armen Familien nicht in der Lage sind, sich das zu leisten.«