Zur Ausstellung ›Max Beckmann. weiblich-männlich‹ in der Hamburger Kunsthalle
Oft sind es Kleinigkeiten, die bei einem Kunstwerk viel aussagen. Es empfiehlt sich, genau hinzuschauen, mit einem zweiten und dritten Blick dem Werk noch näher zu kommen, vielleicht gefördert von hilfreichen Hintergrundinformationen. Das wurde mir einmal mehr bei dieser Ausstellung klar, besonders an einem Beispiel: dem ›Bildnis Ludwig Berger‹ (Abb. 1), das Max Beckmann (1884-1950) im Jahre 1945 geschaffen hat. Auf den ersten Blick scheint das Ölgemälde zu der üblichen Vorstellung zu passen, die sich zu Beckmann herausgebildet hat: betont männlich, tatmenschenhaft. Der berühmte Theater- und Filmregisseur pflegte im Amsterdamer Exil engen freundschaftlichen Kontakt zum Ehepaar Beckmann. Berger hatte das Porträt selbst veranlasst, aber es gefiel ihm nicht. Warum? Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Berger in der rechten Hand eine Blume hält, mit der er offenbar sanft über den linken Handrücken streift. Die Beigabe von Blumen ist in Beckmanns Porträts sonst Frauen vorbehalten. Bei Berger ist es ausgerechnet eine Lotusblüte, Symbol der Fruchtbarkeit, der Weisheit und spirituellen Erleuchtung – und des göttlichen wie menschlichen Hermaphroditen (laut Helena Petrovna Blavatskys ›Geheimlehre‹, die der Katalog auf S. 121f. zitiert). Berger war (verdeckt) homosexuell und hat die weiblich anmutende Geste vielleicht als Anspielung darauf empfunden. Dass Beckmann davon wusste, ist aber nicht nachweisbar; vielleicht wollte er nur auf den feinen Kunstsinn des Freundes anspielen. Die Gestaltung der Hände spricht auch dafür. Als Berger Beckmann fragte, ob er sich mit der Blume über ihn habe lustig machen wollen, antwortete der: »Nee-nee ... So SIND Sie!« (Zitiert im Katalog auf S. 122)
Hymne einer neuen Naturanschauung
Zum 50. Todestag von Nelly Sachs (1891 – 1970) und zum Andenken an Kurt Kehrwieder (1928 – 2020)
Der vorliegende Essay ist zum einen ein Nachruf auf den am 25. Februar gestorbenen Kurt Kehrwieder, der dem Werk von Nelly Sachs auf ungewöhnliche Weise gedient hat. Zum anderen mag er ein Aufruf sein, diese – wie es Kehrwieder ein Anliegen war – nicht nur als eine Dichterin des jüdischen Schicksals im letzten Jahrhundert zu sehen, sondern sie auch als eine tief Eingeweihte in unser Menschheits-Schicksal lesen zu lernen, welche die »lebendig flutende Bilderwelt des ätherischen Raumes bewegen und […] in das Gewand der Erdensprache hüllen« konnte.
Zu Katharina Nocun & Pia Lamberty: ›Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen‹
Um die wievielte Publikation über Verschwörungstheorien und deren Widerlegung es sich bei den vorliegenden Ausführungen handelt, lässt sich kaum noch ermitteln. Finden sich hier überhaupt neue Aspekte? Neu ist die Ausschließlichkeit der Blickrichtung, mit der Katharina Nocun und Pia Lamberty arbeiten. Sie vollziehen den Schwenk in die völlige Psychologisierung des Themas. Dahinter mag die gute Absicht stehen, eine zunehmende Prägung der Gesellschaft durch extreme und zugespitzte Meinungen und Haltungen abzuschwächen. Die Einsicht in mögliche Abwege menschlichen Denkens, Wünschens, Hoffens usw. soll vor wachsender Irrationalität bewahren, die Kenntnis und Erkenntnis psychologisch erforschter Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster soll Fehler in der Interpretation der Wirklichkeit aufdecken. Unter diesen Aspekten werden hier mehrere Verschwörungsthemen behandelt.
Russische Oster-Impressionen
Ein Grundklang in der russischen Seele ist der Reflex gegen die Invasoren aus dem Westen, genährt von traumatischen Erlebnissen der letzten zwei Jahrhunderte. In diesem Jahr fiel das orthodoxe Osterfest (19. April) in die Zeit des Lockdown. Das unsichtbare, scheinbar allgegenwärtige Virus macht nicht Halt vor dem, was das russische Volk immer wieder am Abgrund hat aushalten lassen: der Zusammenhalt in der Opferkraft und die johanneische Spiritualität der Ostkirche. Der folgende Beitrag stellt Eindrücke vom russischen Osterfest in einen größeren historischen Zusammenhang.
Anthroposophische Formensprache
August Macke zu Pandemie-Zeiten im Museum Wiesbaden
August Macke, am 3. Januar 1887 geboren, war in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmekünstler, der zu Unrecht oft im Schatten von Franz Marc, Wassily Kandinsky oder Paul Klee steht. Zum einen hat er schnell die akademische Kunst seiner Zeit überwunden und gehörte nach einem kurzen impressionistischen Zwischenspiel zur Speerspitze der Avantgarde. Er hat sich durch seine Pariser und Münchener Kollegen anregen lassen, aber bald seinen eigenen Stil gefunden – nicht zuletzt durch den räumlichen Abstand, den er gesucht hat: Nach nur zehn Monaten in der Gegend von München ist er im November 1910 in seine Heimatstadt Bonn zurückgekehrt, ohne jedoch seine Beziehungen zu den Freunden des ›Blauen Reiters‹, insbesondere zu Franz Marc, aufzugeben. Und vor allem: Er hat sich bis zu seinem frühen Soldatentod am 26. September 1914 einen weitgehenden Optimismus bewahrt, von dem sein nur zehnjähriges künstlerisches Schaffen getragen ist.
In seiner ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ weist Rudolf Steiner darauf hin, dass der Christus den Menschen nicht als Angehörigen seines Volkszusammenhanges ansprechen will, als der er sich bis zu Seinem Erscheinen empfand, sondern in seinem tiefsten Wesen als Individualität. »Noch das israelitische Volk fühlte sich als Volk, der Mensch als Glied dieses Volkes. Indem zunächst in dem bloßen Gedanken erfaßt wurde, daß in Christus Jesus der Idealmensch lebt, zu dem die Bedingungen der Sonderung nicht dringen, wurde das Christentum das Ideal der umfassenden Brüderlichkeit. Über alle Sonderinteressen und Sonderverwandtschaften hinweg trat das Gefühl auf, daß des Menschen innerstes Ich bei jedem den gleichen Ursprung hat.« Den Schritt über die einschränkenden Volkszusammenhänge hinaus, der mit dem Christus vollzogen wurde, ist in Seiner Nachfolge keiner so konsequent gegangen wie der Völkerapostel Paulus. Selbst die Kirche hat nicht begriffen, welch grundlegende Neuerung mit dem Erscheinen des Christus gegeben war und ist nicht den Schritt über die sondernden Gruppeninteressen hinaus zum Allgemeinmenschlichen gegangen. Nur auf diese Weise hätte sich ihr der individuelle Einzelmensch erschlossen, auf den es dem Christus ankam.
Aufgabe und Anspruch der transdisziplinären Gender Studies (Geschlechterforschung) ist es, Geschlechterverhältnisse wissenschaftlich zu erfassen und ein differenziertes Geschlechterwissen als Beitrag für Vielfalt und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben zu gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Geschlechtlichkeit ist vielleicht gerade für Institutionen schwierig, die sich vor allem auf das Seelisch-Geistige des Menschen konzentrieren wollen. Aber diesen zentral irdischen Bereich von Sex und Gender zu ignorieren oder zu verdrängen, rächt sich letztlich, wie sich etwa an den Missbrauchsskandalen in der Katholischen Kirche gezeigt hat. Für das menschliche Leben und Erleben hat die Geschlechtlichkeit nach wie vor eine existenzielle Bedeutung, zumal damit bei näherem Hinsehen sowohl die Soziale Frage als auch die Forderung des »Erkenne dich selbst« innig verknüpft sind – Fragen, die nach einer tieferen Welt- und Selbsterkenntnis verlangen, und die sich nicht von selbst lösen werden. Deshalb könnten die diversen Hinweise und Erklärungen, die uns Rudolf Steiner zum Thema der Geschlechtlichkeit hinterlassen hat und die bisher nur wenig bearbeitet wurden, durchaus die Basis bilden für einen eigenen Ansatz, für eine anthroposophischgeisteswissenschaftliche Geschlechterforschung.
Was die Digitalisierung des Geldes bedrohlich macht
Am 12. Oktober wurde von der Europäischen Zentralbank (EZB) das sogenannte Konsultationsverfahren über die Einführung des Digital-Euro eingeleitet. Dass dieser Schritt der Abschaffung des Bargelds dient, davon ist auszugehen. So weiß der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch: »Mit jedem Schlag gegen das Bargeld wird zeitgleich suggeriert, dass niemand die Absicht habe, das Bargeld gänzlich abzuschaffen. Dabei ist genau dies das langfristige Ziel. Die Pläne der Kommission sind somit auch der Einstieg in die Abschaffung der Freiheit.«
Antimuslimischer Rassismus?
oder: Freiheit, Gleichheit – Brüderlichkeit!
Die Gender-Debatte wird mit zunehmender Erbitterung geführt. Wie ein Stellungskrieg, in dem sich zwei feindliche Parteien mit Argumenten beschießen. Das hat keinen Sinn! Was geschlechtergerechtes Handeln bedeutet, eine der wichtigsten Zeitfragen, spielt selbstverständlich im Milieu der Sprache eine Rolle: als Problem der Verständigung. Wie wir sprechen, so denken wir – miteinander. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Damit ist das Problem ausgesprochen, und beinahe automatisch tritt damit auch eine Positionierung ein. In Bezug auf letzteres scheint es nur zwei Optionen zu geben: entweder den Begriff der Brüderlichkeit in seiner wörtlichen Erscheinung zu verteidigen, oder das Wort als anachronistisch-patriarchale Erscheinung aufzufassen, die außerstande ist, den entsprechenden Begriff zu aktualisieren. Natürlich geht es hinter den Kulissen des Sprachlichen um den Auftritt der Begriffe oder Ideen. Auf dieser Ebene handelt es sich um die Frage, wie wir Sprache selbst verstehen, welche Idee von ihr dem Denken zugrunde liegt. Wieder zwei Positionen. Ist sie ein beliebiges Konstrukt, ein Transportmittel, Fahrzeug – wie ein Schiff, dem wir eine Ladung von Bedeutung mitgeben, oder ist sie selbst wesentlich das, was wir sind, durch sie: schöpferisches Medium unserer Menschenwürde?
Philosophie der Begegnung in Freiheit
Die soziale Dreigliederung als Aufgabe der Waldorfpädagogik – Teil II
Der erste Teil dieser Serie ist der Frage nachgegangen, inwiefern die Erziehung im ersten Jahrsiebt die Entwicklung eines freien Geisteslebens im späteren Erwachsenenalter begünstigen oder behindern kann. Der zweite Teil verfolgt dieselbe Frage in Bezug auf das zweite Jahrsiebt und das Rechtsleben. Die Brücke zwischen dem Rechtsleben und der Erziehung im zweiten Jahrsiebt führt über ein Verständnis der Atmungs- und Kreislaufprozesse. Wenn es gelingt, der Entwicklung dieses mittleren Systems im Menschen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, kann sich auch auf gesellschaftlicher Ebene, zwischen Geistesleben und politischem Staat, ein mittlerer Bereich ausbilden.
Impressionen aus Südafrika
In Südafrika kommen Dinge zusammen, die sonst weit auseinanderliegen. Zwischen einem Township, wo Menschen ohne die einfachsten Lebensgrundlagen wohnen, und einer Müllkippe, die sich als langgestreckter Hügel aus der Landschaft erhebt, liegt ein Industriegebiet mit einer Fabrik, in der mit deutschen Maschinen Pflastersteine aus Beton hergestellt werden. Von den insgesamt 400 Beschäftigten sind hier vor Ort etwa die Hälfte tätig. In einer Halle hört der Besucher ein Streichquartett spielen, Arbeiter sitzen auf Paletten und Kanistern zwischen den Maschinen und hören zu. Mozart in Johannesburg – Schwarze spielen, Schwarze hören hingegeben zu, zwei Weiße stehen etwas abseits, der Besuch und seine Begleitung. Die Arbeiter kommen aus dem Township und sind froh, hier Arbeit zu finden. Einmal in 14 Tagen kommen die Musiker und spielen insgesamt drei Stunden lang in den verschiedenen Produktionsstätten und Büros der Fabrik.
Zu Henrik Steffens: ›Einleitung in die philosophischen Vorlesungen‹
Die romantische Bewegung, von Jena ausstrahlend, hatte einen bedeutenden Anteil daran, wie im 19. Jahrhundert in ganz Europa Ethnien, Sprachengruppen und Völker zu einem Selbstgefühl erwachten. In der romantischen Musik ist das fast mit Händen zu greifen – etwa bei Modest P. Mussorgski, Pjotr I. Tschaikowski und Nikolai A. Rimskij-Korsakow in Russland, Bedřich Smetana und Antonin Dvořák in Tschechien, Edward Elgar in England, Edvard Grieg in Norwegen und Jean Sibelius in Finnland. Entsprechende Parallelen finden sich auch in der Literatur. Das vorliegende Buch über den Norweger Henrik Steffens handelt von einem, der als Naturforscher und Philosoph bei der Geburt der Romantik dabei war und dem zugeschrieben wird, sie schon 1802/03 von Jena nach Skandinavien getragen zu haben.
Zu Renatus Ziegler: ›Geist und Buchstabe‹
Dieses Buch ist ein Sachbuch im besten Sinne: Sauber gegliedert charakterisiert und dokumentiert es die Tätigkeit Rudolf Steiners als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zwischen 1882 und 1896 in seinen verschiedenen Facetten: Wie kam es zur Mitarbeit zunächst an Joseph Kürschners Reihe ›Deutsche National-Litteratur‹ [sic!] und dann an der Weimarer Sophienausgabe von Goethes Gesamtwerk? Was waren jeweils seine Aufgaben und was hat er aus ihnen gemacht? Welche eigenen Intentionen hat er dabei verfolgt? Es werden die jeweiligen Arbeitszusammenhänge erläutert, die beteiligten Menschen und Steiners Beziehungen zu ihnen gewürdigt und schließlich auch die zeitgenössische sowie spätere Rezeption von Steiners Herausgebertätigkeit dokumentiert und analysiert. Auch Rudolf Steiners eigener Blick zurück auf seine Herausgebertätigkeit findet Berücksichtigung.
Nachvollziehbare Empörung
Unmittelbar nachdem die ›Philosophie der Freiheit‹ erschienen war, überbrachte Rudolf Steiner sie am 14. November 1893 persönlich dem von ihm hochgeschätzten Eduard von Hartmann. Dieser machte sich sogleich an die Lektüre und konnte Steiner seinerseits schon eine Woche später sein mit ausführlichen Randbemerkungen versehenes Exemplar zur Ansicht übersenden. In diesen Randbemerkungen kommt Hartmann zu einer wahrhaft vernichtenden Beurteilung der ›Philosophie der Freiheit‹, die er zusammenfassend als »Unphilosophie« bezeichnet. Mit diesem Urteil setzte sich Steiner erst 1917 in dem Aufsatz ›Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die gegenwärtige Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches‹ auseinander. Dort meint er, Hartmann habe zwar geahnt, dass die ›Philosophie der Freiheit‹ aus dem Begrifflichen hinausführe, doch höre für diesen jede Philosophie dort auf, wo für ihn das beginne, was er später als die höheren Erkenntnisarten beschreiben sollte.
Zu Roland Halfen: ›Kunst und Erkenntnis‹
»Irgend eine Linie, die von rechts nach links geht, und die empfunden ist als Linie, so etwas ist wichtig!« – Worauf diese Bemerkung Rudolf Steiners abzielt, ist das Aufwachen für spezifische Qualitäten, die man erleben kann, wenn man beim Wahrnehmen eines Kunstwerks auf das eigene Tun und Empfinden achtet. Hierin bekundet sich bereits ein zentrales ästhetisches Anliegen Steiners. Wenn also von »Rudolf Steiners Ästhetik« die Rede ist, dann bezieht sich das nicht auf irgendwelche stilistischen Kategorien, die manche Menschen aus seinen Werken ableiten möchten: Roland Halfen widmet sich den grundlegenden Fragen, welche die ästhetische Erfahrung selbst sowie den Zusammenhang von Kunst und Erkenntnis betreffen. In seinem Buch lässt sich nachverfolgen, wie und zu welchen Einsichten Steiner auf dem Gebiet der Ästhetik kam.
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Scheinwerfer auf die Deutsche Bahn
Zum Gedenken an Bertil Ekman (22. Juni 1894 – 3. August 1920)
Der schwedische Dichter und Mystiker Bertil Ekman war von geistiger Bedeutung für den UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, worauf der schwedische Schriftsteller Sven Stolpe in dessen Biografie hinweist. Nachdem 1923 ein schmales Heft aus Ekmans Nachlass mit dem Titel: ›Strödda Bladur. Bertil Ekmans Efterlade Papper‹ herausgegeben worden war, blieb dieses über mehrere Jahrzehnte unauffindbar, bis es 1999 in der Königlichen Bibliothek in Stockholm wieder auftauchte. Schon lange bestand das Bedürfnis, Ekmans Gedanken auch in deutscher Sprache kennenzulernen. Die von Lars-Åke Karlsson besorgte Übersetzung: ›Verstreute Blätter. Bertil Ekmans nachgelassene Papiere‹ erschien 2018 als Heft 15 der ›Beiträge für religiöse Erneuerung‹. Das Heft enthält Aphorismen, Gedichte und unveröffentlichte Texte, darunter Tagebucheintragungen sowie ein Foto Ekmans: ein junger Mann voll Ernst und Traurigkeit, mit einem geraden, eindringlichen Blick. Er trägt die weiße Studentenmütze von Uppsala mit der gelb-blauen Kokarde.
Impressionen aus Frankreich in Zeiten der Corona-Pandemie
»Ohne jemals ein unantastbares Prinzip aus den Augen zu verlieren: Für uns ist nichts wichtiger als das menschliche Leben«, erklärte Emmanuel Macron in einer Rede am 28. Oktober 2021. Darüber hinaus zeichnete er ein düsteres Bild der gesundheitlichen Situation: 527 Verstorbene (die Zahl wurde allerdings danach in der Presse auf 288 korrigiert), 3.000 Patienten auf den Intensivstationen und 50.000 positive Tests an einem einzigen Tag. Er erläuterte die Vorhersage des Conseil Scientifique, dass 400.000 Tote zu erwarten seien, wenn nichts unternommen werde, beschrieb die Anstrengungen der Regierung – mit 1,9 Mio. PCR-Tests pro Woche – und versicherte, dass die Anzahl der Intensivbetten von 5.000 auf 10.000 verdoppelt werde. Dennoch erklärte er angesichts der wachsenden Zahlen, dass ein zweiter Lockdown die einzige Alternative sei. Anders als beim ersten sollten die Wirtschaft und das Bildungswesen aber weiterlaufen. Private Kontakte sollten dagegen so stark wie möglich reduziert werden. Aus privaten Gründen dürfe man sein Zuhause nur mehr für maximal eine Stunde und in einem Umkreis von weniger als einem Kilometer verlassen. Private Treffen seien ausgeschlossen. Begegnungsorte wie Bars und Restaurants würden geschlossen, wie auch Geschäfte, die als nicht essenziell eingestuft werden.
Annäherungen an Poetologie, Sprache und Aktualität Paul Celans im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags
Den äußeren Anlass für diesen Aufsatz bilden der 100. Geburtstag Paul Celans am 23. November und sein 50. Todestag am 20. April in diesem Jahr. Den inneren Anstoß gibt die unausweichliche Aktualität seines Werks. Ich werde dieser Aktualität vor allem unter dem Aspekt von Celans werkimmanenter Poetologie und Sprachauffassung nachgehen. Zweifelsohne gibt es auch Themen in Celans Lyrik, von denen aus sich im Jahr 2020 Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Aktualität herstellen lassen. Auch wenn die thematischen Aktualitäten besorgniserregend genug sind, möchte ich doch die poetologischen Implikationen vorziehen, weil mir scheint, dass deren spirituelle Dimension alle anderen Aktualitäten umfasst und sie in ihr gut aufgehoben sind. Mit dieser Akzentuierung berühre ich erkenntnistheoretische und rezeptionelle Fragestellungen grundlegender Art, die mit der Frage nach den möglichen Zugängen zu Celans Gedichten unmittelbar verbunden sind.
Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität
Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.
Anmerkungen zum ›Museu Oscar Niemeyer‹ in Curitiba/Brasilien
Mitten im Häusermeer der Millionenstadt Curitiba in Südbrasilien erhebt sich das Oscar Niemeyer Museum, das im Volksmund »Olho« (= »Auge«) genannt wird, weil es wie die Pupille des menschlichen Auges auf seinen seitlichen Glasflächen Himmel, Wolken und umgebende Gebäude spiegelt. Die aus zwei geometrischen Baukörpern, dem Auge und dem Sockelbau, zusammengefügte gelbe Skulptur wirkt monumental. Vom Ausgang im oberen Sockelbereich windet sich eine Rampe über ein Wasserbecken hinweg nach unten auf den Museumsvorplatz. Der von dem Stararchitekten Oscar Niemeyer entworfene und 2002 eröffnete Museumskomplex birgt heute eine Gemälde- und Skulpturensammlung, die zu großen Teilen Kunstwerke südamerikanischer Provenienz umfasst, die andernorts, vor allem in Europa, so nicht bekannt sind, sich aber mit Ausstellungsstücken weltbekannter Museen messen können. Überhaupt ist es zunehmend das Kennzeichen zeitgenössischer Kunst, dass viele Installationen, Videoarbeiten, Skulpturen und Bilder eine globale künstlerische Sprache sprechen. So könnte auch das »Olho« an irgendeinem anderen Ort der Welt stehen. Die Polarisierung der Ost- und Westkunst, wie sie noch im figurativen und abstrakten Expressionismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, wurde inzwischen von vielfältigen künstlerischen Positionen überlagert und aufgelöst. Schließlich bürgt die bereits 1979 von Jean-François Lyotard angekündigte Postmoderne für das »Ende der großen Erzählungen«, an deren Stelle ein durch technische Medien vermitteltes Wissen getreten sei.
Wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist – was ist dann Politik? Ein »schmutziges Geschäft«? Wir unterlegen »Politik« wohl eher mit negativen Vorstellungen, vor allem sehen wir das taktierende Durchsetzen von »Interessen« und den polemischen Kampf um Mehrheiten. Parteien suchen im Wettbewerb um »Stimmen« einen »Markenkern« zu profilieren. Ihre Vertreter sprechen weitgehend in feststehenden Wortgebilden. Als »Bürger« üben wir die »Macht, die vom Volke ausgeht« dadurch aus, dass wir ein Parteiprogramm wählen, in dem Gesetzesvorhaben angekündigt werden. Sie werden dann in der Regel so gar nicht realisiert, weil sie nicht durchsetzbar sind oder in einem mehrheitsfähigen Kompromiss münden. Wir erleben deutlich, dass drängende gesellschaftliche Fragen nicht mit Parteimeinungen und -denkweisen beantwortet werden können. Eine »Antwort« auf diese Verhältnisse ist die zunehmende, auch unterschwellige Staats- und Politikverdrossenheit. Dessenungeachtet erfährt die staatlich gewährleistete Rechtssicherheit in der Verankerung durch das Grundgesetz und dessen Sicherung durch das Bundesverfassungsgericht unsere Wertschätzung (oder sollte es jedenfalls).
Zum Umgang mit der Corona-Pandemie in der Türkei
Männer in Ganzkörperschutzanzügen vor einem Tankwagen spritzen menschenleere Straßen ab. Bilder aus den ersten Corona-Tagen in der Türkei – d.h. nach der Meldung des ersten offiziellen Infektionsfalls am 11. März – zeigten so großflächige wie beliebige Desinfizierungsaktionen im öffentlichen Raum, angeordnet mit dem ersten Corona-Erlass vom 13. März. Bilder, die staatliche Fürsorge und Sicherheit suggerierten, wo im Grunde keine war. In der Türkei verschärft die Corona-Pandemie vor allem die Wirtschaftskrise und die Krise des Vertrauens in Staat, Politik und Medien. Lange herrschte die auch staatlicherseits propagierte Auffassung von einer Art nationaler Immunität vor, manche behaupteten gar, Türken seien genetisch weniger anfällig für das Virus. Erinnerungen an die Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl kamen hoch, als Deutschland den Import von Haselnüssen aus der mutmaßlich radioaktiv verseuchten Schwarzmeerregion stoppte, ein türkischer Minister aber vor die Kameras trat, demonstrativ Tee derselben Provenienz trank und sich brüstete: »Uns kann nichts geschehen.«
Zu Lutz Seiler: ›Stern 111 – Roman‹
›Stern 111‹, der neue Roman von Lutz Seiler, hat den Geisterpreis der (nicht stattgefundenen) Leipziger Buchmesse erhalten. Wie schon sein Vorgänger ›Kruso‹, der 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, landete er bald auf Platz 1 der ›Spiegel‹-Bestsellerliste. Das ist definitiv erstaunlich und auf jeden Fall tröstlich, denn es bedeutet viel in diesen Zeiten. Da draußen in der Welt der Slogans, Internet-Sprechblasen und Ghetto-Slang-Sprachgewohnheiten sind offenbar viele – Hunderttausende – am Leben, die noch Dichtung schätzen.