Artikel von Ute Hallaschka
Zur Ausstellung ›Emy Roeder. Das Kosmische allen Seins‹ im Landesmuseum Mainz
Mit einer Sonderausstellung würdigt das Landesmuseum Mainz aktuell eine der profiliertesten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts – für die meisten dürfte sie jedoch eine Unbekannte sein. ›Emy Roeder. Das Kosmische allen Seins‹ zeigt mit rund 140 Exponaten eine umfassende Werkschau dieser Künstlerin.
Jeder sechste Bundesbürger lebt in Deutschland offiziell in Armut. Ein Fünftel der Erwerbstätigen ist im Niedriglohnsektor beschäftigt. Diese Elendsskala erfasst noch nicht die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Diese nackten Zahlen hätten einen anderen Wahlausgang erwarten lassen. Doch was gab es zu wählen für dieses Land, das eine neue Sozialpolitik braucht? Außer der Linken, die weiterhin unter sozialistischem Ideologieverdacht steht, gibt es keine Partei, die sich radikal zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bekennt. Die Linke trägt schwer an ihrem Erbe, ihre politische Theorie ist Vergangenheit, daher kommt sie mit ihren Zielen nicht in der Gegenwart an. Doch sie zeigt sich immerhin an der Realität orientiert. Alle anderen Parteien leiden mehr oder minder an Realitätsverlust. Ihre in der Vergangenheit konzipierten Identitäten sind weggebrochen.
oder: Freiheit, Gleichheit – Brüderlichkeit!
Die Gender-Debatte wird mit zunehmender Erbitterung geführt. Wie ein Stellungskrieg, in dem sich zwei feindliche Parteien mit Argumenten beschießen. Das hat keinen Sinn! Was geschlechtergerechtes Handeln bedeutet, eine der wichtigsten Zeitfragen, spielt selbstverständlich im Milieu der Sprache eine Rolle: als Problem der Verständigung. Wie wir sprechen, so denken wir – miteinander. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Damit ist das Problem ausgesprochen, und beinahe automatisch tritt damit auch eine Positionierung ein. In Bezug auf letzteres scheint es nur zwei Optionen zu geben: entweder den Begriff der Brüderlichkeit in seiner wörtlichen Erscheinung zu verteidigen, oder das Wort als anachronistisch-patriarchale Erscheinung aufzufassen, die außerstande ist, den entsprechenden Begriff zu aktualisieren. Natürlich geht es hinter den Kulissen des Sprachlichen um den Auftritt der Begriffe oder Ideen. Auf dieser Ebene handelt es sich um die Frage, wie wir Sprache selbst verstehen, welche Idee von ihr dem Denken zugrunde liegt. Wieder zwei Positionen. Ist sie ein beliebiges Konstrukt, ein Transportmittel, Fahrzeug – wie ein Schiff, dem wir eine Ladung von Bedeutung mitgeben, oder ist sie selbst wesentlich das, was wir sind, durch sie: schöpferisches Medium unserer Menschenwürde?
Zur Ausstellung ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ im Frankfurter Städel Museum
Das Thema Renaissance scheint in der Luft zu liegen. Nach der großen Florentiner Schau in der Münchner Pinakothek widmet sich nun das Frankfurter Städel Museum mit einer Sonderausstellung zu ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ diesem Kapitel der europäischen Kunstgeschichte. Mit über hundert Meisterwerken sind die Künstler der Lagunenstadt vertreten, die im 16. Jahrhundert einen eigenständigen Stil entwickelten. Sie setzten vor allem auf rein malerische Mittel, die Wirkungen von Licht und Farbe. Diese Ausstellung zeigt nun die ganze Bandbreite der venezianischen Malerei. Neben Tizian, der mit über 20 Werken präsentiert wird, die umfangreichste Auswahl, die je in Deutschland gezeigt wurde, sind vor allem Tintoretto und Paolo Veronese vertreten. In acht thematischen Kapiteln untersucht die Ausstellung aber auch eine Polarität, die schon in der zeitgenössischen Rezeption des 16. Jahrhunderts eine Rolle spielte: der Gegensatz von disegno (Zeichnung) in Florenz und Rom sowie colorito (Farbe) in Venedig.
Wohin gehört der Islam – ist er ein Teil von Deutschland oder nicht? Das scheint eine sinnlose Ordnungsfrage zu sein. Anders gestellt, könnte sie lauten: Wie kann auch der muslimische Glaube zur Privatangelegenheit werden? Denn das ist ja die Voraussetzung von Religionsfreiheit. Die Trennung von Religion und Staat erfordert einen Verzicht – nämlich aus meinem persönlichen Glauben keinerlei politischen Anspruch abzuleiten, ihn als individuelle Herzensangelegenheit aufzufassen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Eine Theaterinszenierung und eine Ausstellung in München
Vorhang auf!
Während ich dies schreibe, schaue ich zurück. Ich versetze mich voraus in den April und schaue durch die Augen des Lesers zurück, um von dorther auf das aktuell Entstehende Einfluss zu nehmen. Soll es nämlich im April – dem vermutlichen Erscheinungsdatum – noch etwas besagen, dann muss ich die Zeit buchstäblich aufheben und zurückwerfen. Die Bewusstseinsgeste der Zukunft gegenüber ist kein Vorwärts-Tasten mit dem Blindenstock im Dunkeln; es ist Vorwurf und Rückblick der Phantasie an der Wegkehre, an der Wasserscheide der Zeit, wo die Ströme sich trennen. Wo etwas Zukunft wird, was vergangen war.
Zur Ausstellung ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ in der Kunsthalle München
In der Kunsthalle München bietet sich die seltene Gelegenheit, Einblick zu nehmen in eine weit entlegene Kultur. ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ ist wirklich eine Augenweide, ein Schauspiel, in dem der Betrachter sich ganz seiner sinnlichen Erfahrung anvertrauen kann. Das ermöglichen die rund hundert Exponate der Sammlung Ann und Gabriel Barbier-Mueller, die erstmals in Deutschland gezeigt werden. Die Objekte stammen aus dem 7. bis 19. Jahrhundert und wurden größtenteils in Europa erworben. Doch handelt es sich nicht um Raubkunst. Nach der Auflösung des Shogunats wurden die Rüstungen und Waffen der Samurai zu Repräsentationsobjekten, die als Ehrengeschenke für ausländische Gäste verwendet wurden. Das ist das erste, woran die Augen sich gewöhnen müssen: Gerätschaften des Krieges als Kunstwerke zu sehen.
Das Rätsel Theater
Wie geht der komplexe Prozess des Schauspielens im Theater vor sich? Bezieht er sich lediglich auf den Schauspieler oder betrifft er auch den Zuschauer? Welche Voraussetzungen braucht es, damit ein Stück wirklich gelingt? Und wo stehen wir heute in Bezug auf Bühne und Schauspiel? Ute Hallaschka zeichnet eine Bestandsaufnahme. In einem zweiten, daran anschließenden Artikel im nächsten Jahr wird eine mögliche Zukunftsperspektive aufgespannt werden.
Zu Thomas Bernhard: ›Minetti‹ am Residenztheater in München
Jemand hat mich gefragt, wann ich zum letzten Mal eine Theateraufführung gesehen habe, die mich getroffen, berührt, mitgenommen, um nicht zu sagen erschüttert hat. Nichts anderes bedeutet im Theater: Güte. Es muss lange her sein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zuschauer hat ja nichts als seine Augen und Ohren, durch die er an der Handlung teilnimmt. Gutes Theater bedeutet also, dass mithilfe dieser Sinne ein Prozess in Gang gesetzt wird, der mich verändert. Ich werde körperlich buchstäblich ergriffen. Das, was von der Bühne herkommt, sagen wir ruhig: (an)wehender Geist, durchdringt mich anders als die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung. Denn das, was mich da anweht, ist ja äußerlich gesehen, gar nicht da – es stammt als Gewebe eingebildeter Außenwelt aus dem Innern eines anderen Menschen. So erscheint die Welt, als wäre sie Idee und damit wird sie mir zur Landschaft der Freiheit. Hier spielt mein Wille die Hauptrolle, denn das Ich ist der Souverän des Ideellen.
Zur Neuinszenierung der ersten beiden Mysteriendramen am Goetheanum
Zu Besuch im ersten Goetheanum (als Modell)
Ich kann es kaum glauben: Ich verlasse nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mein Haus, sitze im Zug und fahre nach Dornach … Ich weiß noch, wie ich das erste Mal hinfuhr, mit 21 Jahren, als ahnungsloser Neuankömmling in der Anthroposophie, und völlig verblüfft vor dem Goetheanum stand. Niemand hatte mich auf diesen Betonbau vorbereitet. Ein Elefantenhaus, dachte ich, und das war keineswegs respektlos gemeint. Eher als hilfloser Versuch, das Große, das damit zusammenhing, zum Ausdruck zu bringen. Aber Beton? Der kam in der romantischen Flower-Power-Welt von damals nur als Inbegriff der Nüchternheit vor. Gehwege und Gesamtschulen gab es aus Waschbeton. Ich war ratlos.
Zu Reiner Kunzes 85. Geburtstag
»Welches Glück, einen Dichter zu haben ...« Das ist der immer wiederkehrende Stoßseufzer der Hauptfigur des Romans ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ von Rainer Maria Rilke. Brigge ist eine biografische Figur, der Autor lässt ihn in Paris unter seinen eigenen Lebensumständen wohnen, identisch bis zur Hausnummer. Auch seine Ängste und Sorgen gibt er der Figur mit – Rilke, der im Grunde sein Leben lang obdachlos war, ohne eigene Wohnung und ohne gesichertes Einkommen, ständig angewiesen auf Unterstützung durch Gönner und Mäzene. Malte, der Romanheld erfährt das soziale Elend des damaligen Paris der Jahrhundertwende. Immer wenn er es in der Winterkälte der ungeheizten Wohnung nicht mehr aushält, geht er in die Bibliothek. Draußen auf der Straße die Bettler, die ihm zu verstehen geben: Bald könntest du einer von uns sein … Diese bedrohliche Vision, die seine eigene ist, bekämpft Rilke nicht mit dem Gefühl: »Welches Glück, ein Dichter zu sein!« Seine soziale Randlage empfindet er als Auslieferung und die Pflicht des »Dennoch« in der Notwendigkeit künstlerischen Schaffens.