Artikel von Salvatore Lavecchia
Im Schweben zwischen Andreas Laudert und Sebastian Gronbach
oder: die Würde des Menschen
Dieses Jahr jährt sich zum 1600sten Mal ein Ereignis, das die Geschichte des westlichen Christentums noch tiefer geprägt hat als der 2017 gefeierte Reformimpuls Martin Luthers. Dessen Spiritualität und Theologie, die stark von Augustinus (*354; †430) beeinflusst waren – Luther war anfänglich ein Augustinermönch –, hätten nämlich ohne jenes Ereignis eine ganz andere Gestalt gehabt. Vor 1.600 Jahren tagte, am 1. Mai 418, das Regionalkonzil von Karthago, das – einen langen Streit bezüglich des Wesens der Gnade sowie des menschlichen Willens beendend – die definitive Verurteilung und die Exkommunikation des keltischen, aus Irland oder Britannien stammenden Asketen Pelagius (*um 350; †420) aussprach. Damit siegte die Position des Augustinus, die fortan das westliche Christentum prägte und noch bis heute prägt.
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Wenn »Entkolonialisierung« in die Logik des Nationalismus mündet
An einem wundersam warmen und klaren Septemberabend habe ich während eines Straßenmusikfestivals den Dreadlocks tragenden Tiroler Musiker Mario Parizek mit entspannter Freude bei einer seiner Aufführungen wahrgenommen. Wie es sich häufig ergibt, wurde ich neugierig, und somit habe ich, wieder nach Hause zurückgekehrt – ich gehöre zu den Retros, die nicht smartphonisiert leben, und dabei sogar außerordentlich zufrieden sind –, in voller Heiterkeit an meinem Schreibtisch nach Mario gegoogelt. Nie hätte ich den Verdacht hegen können, dass ein Auftritt von ihm, ungefähr ein Jahr davor, aufgrund der von ihm, einem weißen Musiker, getragenen Dreadlocks abgesagt worden war, nach Angaben des aufführenden Lokals mit einer finanziellen Entschädigung, da einige auch zum Team des Lokals zugehörigen Personen sich bei einem solchen Auftritt nicht wohl gefühlt hätten. Dabei trägt der Musiker – so seine Erklärung in einem Video – Dreadlocks, seitdem er 13 Jahre alt ist, und dies als Reaktion auf die »rechte« Atmosphäre in dem Tiroler Dorf, in dem er aufwuchs. In anderen Worten, den Kommentar des enttäuschten Musikers zusammenfassend: Von einem »linken« Lokal wird sein Auftritt wegen etwas abgesagt, das eigentlich von einer aufrichtig »linken« Gebärde gegen eine »rechte« Umgebung getragen wurde und weiterhin wird.
Reise in Humboldts Gegenwart
Ich und Europa X
Wachsamkeit west als Gegenwart des Ich. In dieser Gegenwart knospet das Ich in jedem Augenblick als Freiheit von sich selbst und von anderem, jenseits von innen und außen: generative Leere eines bewussten Wollens, das in der empfindsamen Begegnung mit jedem Augenblick, Ereignis oder Wesen zu einer konkreten Form der Freiheit blühen kann; empfindsame, wache und freie Begegnung, die – durch ein denkendes Tätigsein entstehend – den uneingeschränkt dialogischen Charakter der authentischen Natur des Denkens offenbart. Die Bildung und Pflege dieses wachsamen, warmen Wollens, dieses dialogischen, lichtvollen Denkens, d.h. eine Kultur der denkenden Wachsamkeit im Ich, will ich als eigenen Klang von Europas Schicksal wahrnehmen.
Über zwei Versuche, Freiheit ernst zu nehmen
»Wenn Wesen denken und folglich Personen sind, dann können sie abwägen, was sie tun sollen. Dann gehen sie über biologische Bedürfnisse und Neigungen hinaus. Sie können überlegt handeln, statt einfach ihren biologischen Neigungen folgen zu müssen. Wenn sie anders handeln können, als sich lediglich von ihren biologischen Bedürfnissen und Neigungen bestimmen zu lassen, dann sind sie frei in ihrem Handeln.« Das obige Zitat von Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie in Lausanne und Mitglied der Leopoldina, stammt aus seinem Buch ›Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen‹, das die neueste monografische Verdichtung des akademischen Diskurses zu diesem Thema darstellt. Erschienen ist es 2019, also kurz bevor ein – durchaus ernst zu nehmendes, jedoch sich nicht als die schlimmste Seuche der Weltgeschichte erweisendes – Virus viele politischen Akteure dazu (ver-)führte, durch die enge Einbindung ausgewählter Teilnehmer des wissenschaftlichen Diskurses unsere Gesellschaften so umgestalten zu wollen, als ob die zitierte Formulierung uns menschliche Wesen nur kaum bis überhaupt nicht betreffen könnte. Esfeld ist inzwischen wegen seiner diesbezüglichen kritischen Stellungnahmen bekannt, die er in verschiedenen Medien formuliert hat. Umso anregender ist die Lektüre des genannten Buchs, da Esfeld hier eine souveräne Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrundes bietet, von dem ausgehend sich seine Kritik an den Corona-Schutzmaßnahmen als bewunderungswürdig konsequent erweist.