Rudolf Steiner, Hegel und die Theosophische Gesellschaft
Als Rudolf Steiner 1897 in dem von ihm redigierten ›Magazin für Litteratur‹ einen Aufsatz über die Theosophen, bzw. über die Repräsentanten der 1875 in New York von Helena P. Blavatsky und Henry Steel Olcott gegründeten Theosophischen Gesellschaft schrieb, hätte keiner der Leser gedacht, dass Steiner wenige Jahre später selbst Mitglied dieser Gesellschaft werden würde. Die Theosophen, so heißt es darin, sähen mit Achselzucken auf die ganze europäische Wissenschaft herab und belächelten deren Verstandes- und Vernunftmäßigkeit. In harten, durchaus polemischen Sätzen fällt Steiner ein geradezu vernichtendes Urteil: »[D]ie Zahl derer, die sich lieber dem dunklen Gerede vom Erleben der Gottheit im Innern zuwenden als der klaren, lichten, begrifflichen Erkenntnis des Abendlandes ist nicht gering.« Steiner beschließt den Aufsatz mit einem Plädoyer für die freie, auf Vernunft und Beobachtung sich stützende Wissenschaft der Neuzeit und gegen trübe Geisterlebnisse.
Zum trinitarischen Wesen des Ich
Die erste explizite, bisher nie angemessen betrachtete Vertiefung des Verständnisses der Trinität durch Rudolf Steiner erfolgte schon in den ersten Jahren seiner Tätigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft. Bereits 1903 bis 1905 finden wir, sowohl in Niederschriften als auch in Aufzeichnungen aus Vorträgen und privaten Lehrstunden zahlreiche Hinweise und Erläuterungen zu der Trinität »Bewusstsein/Vater – Leben/Sohn – Form/Heiliger Geist«. Der Vater ist hier das aus dem Nichts schaffende, noch unmanifestierte, seiner selbst bewusste All(Welt)bewusstsein. Er ist, anders ausgedrückt, das Übersein, der schöpferische Ungrund,6 aus dem die Welt ohne Warum – weil ein Warum Zwang bedeuten würde –, durch eine freie Opfertat entsteht. Er ist »in sich ruhend, da und nicht da, über dem Sein, niemals wahrnehmbar [...], das absolut Verborgene, Okkulte [...], weil über alle Offenbarung erhaben«. Der Vater ist, in anderen Worten, der Offenbarer9 – gleichsam das absolute Selbst/Ich in jeder Offenbarung –, die »in sichselbst leuchtende Unendlichkeit« vor jeder »Differenzierung und Individualisierung«.
Die Geburtsstunde der deutschen Marienlyrik
Wahrscheinlich entstand schon in der frühen Christenheit das Bedürfnis, die vier Evangelien zu einer fortlaufenden Erzählung zusammenzufügen im Sinne einer Art Zusammenfassung der jeweils charakteristischen Stationen des Lebens Jesu. So schuf im 2. Jahrhundert n. Chr. der Syrer Tatian († um 170) eine solche ›Evangelienharmonie‹, die in einer lateinischen Übersetzung bis ins frühe europäische Mittelalter gewirkt hat und um 830 auch ins Althochdeutsche übersetzt wurde. Im Frankenreich der Karolinger ist, wohl auch im Zusammenhang mit der Christianisierung, ebenfalls ein solches Bedürfnis nach einer Zusammenfassung des Lebens Jesu vorhanden gewesen. Und so entstanden im 9. Jahrhundert gleich zwei Evangelienharmonien: der von einem unbekannten Verfasser stammende und für die Sachsenmission gedachte altsächsische ›Heliand‹ in germanischen Stabreimversen und der ›Liber evangeliorum‹ (Buch der Evangelien) des Mönchs Otfrid von Weißenburg in althochdeutsch-südrheinfränkischen Endreimversen – die erste deutsche Großdichtung mit Endreimen in Langzeilenform.
Künstlich gepulste Strahlung als Belastung in Erholungsphasen
Über Schlafstörungen spricht man nicht gern. Doch gerade in Pandemie-Zeiten nehmen sie zu, wie eine Umfrage der ›Techniker Krankenkasse‹ zeigte: »Fast jeder Zweite leidet mittlerweile ständig oder gelegentlich unter Schlafstörungen. Die Betroffenen sind tagsüber oftmals müde, unkonzentriert oder leicht reizbar.« Trotz oder wegen zunehmender Erschöpfungszustände schlafen immer mehr Menschen schlecht. Laut einem Bericht der ›Deutschen Angestellten Krankenkasse‹ (DAK) war bereits 2017 die Zahl derer, die schlecht ein- oder durchschlafen können, deutlich angestiegen. Rund 80 Prozent der Erwerbstätigen berichteten demnach von Schlafproblemen. Das waren gut 30 Prozent mehr als noch sechs Jahre zuvor. Jeder Zweite sei daher bei der Arbeit mehr oder weniger müde, hieß es in jenem Beitrag.
Gedanken zur Identitätspolitik
»Was sind Sie?« fragte mich einmal kopfschüttelnd ein Prüfer vom Schulamt, als er für eine provisorische Unterrichtsgenehmigung meine Lehrprobe zu beurteilen hatte und mit offenbar wachsendem Erstaunen in meinem Lebenslauf blätterte. Die Frage, »was« jemand ist oder werden will, betrifft seine äußere Stellung in der Welt, wie sich der Mensch in die Gesellschaft inkarniert und was er beruflich verkörpert, was ihn ausweist wie die identity card. Doch wie ist es mit der seelischen Ebene? Auch dort erscheint man so oder so, und es kann zu Problemen kommen, wenn es darum geht, diese Ausprägungen sensibel einzuordnen. Die gegenwärtige Bewusstseinsveränderung auf dem Feld von Identität und Diskriminierung zeigt uns, dass gerade das Gutgemeinte nicht automatisch als etwas Gutes erlebt wird.
Wenn das Wort nicht mehr unter uns wohnt
Jetzt sind wir angekommen. In der stummen Stille. In diesem zwischenmenschlichen Raum – denn ein anderer ist es ja nicht. Stumme Stille gibt es nur zwischen Menschen. Es war einmal anders, als der Kosmos noch sprach. Es wird auch definitiv wieder anders werden. Aktuell erfahren wir das kosmische Mitspracherecht. Lange hat die Erde geschwiegen. Jetzt äußert sie sich. Noch ist es Bild, sind es Zeichen, doch allmählich werden wir das, was wir wahrnehmen, als Kommunikation eines Wesens verstehen. Mit diesem Wesen auf Augenhöhe zu kommen, dazu brauchen wir ein entsprechendes Sprachvermögen, und zwar dringend, denn durch die Sprache bilden sich Begriffe – im Dialog mit der Erde.
Eine Artikelserie von Stephan Eisenhut
Es fällt in diesem Jahr recht schwer, in eine weihnachtliche Stimmung zu kommen. Zu sehr ähnelt unsere gesellschaftliche Realität inzwischen einem dystopischen Roman oder einem sozialpsychologischen Experiment. Aber wir wollen es dennoch versuchen und einmal nicht über die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen sprechen – mit einer kleinen Ausnahme am Schluss dieses Editorials. Selbst unsere Beiträge zum Zeitgeschehen sparen es weitgehend aus. Stattdessen wenden sich Ute Hallaschka und Andreas Laudert identitätspolitischen Themen zu und werfen dabei auch selbstkritische Blicke auf die Anthroposophie, während Werner Thiede einmal mehr auf den problematischen Einfluss elektromagnetischer Strahlung auf unsere Gesundheit hinweist.
Zu verschiedenen Beiträgen in die Drei 2/2021
Auf dem Meere meiner Seele
Früchte über den Tag hinaus
In welcher Welt verortet, in welcher Zeit angesiedelt?
»Das reicht tiefer als Übereinstimmung«
Grenzüberschreitendes Netzwerk
Grenzüberschreitendes Netzwerk
Geist- und Seelenverwandtschaft in umkämpfter Zeit
Geist- und Seelenverwandtschaft in umkämpfter Zeit
Seltsame Wege nimmt die Geschichte mancher Wörter. Die Vorstellungen, die heute allgemein mit bestimmten Wörtern einhergehen, unterscheiden sich oft enorm von den Vorstellungen und Referenzen, die ursprünglich oder in früheren Zeiten damit verbunden waren. Wald ist so ein Wort. Schwer und gewichtig, dunkel und nahezu gewaltig kommt es daher wie eine mächtige Woge, die über Land geht und an der Stelle, wo sie zur Ruhe kommt, einen Wald zurücklässt, der sich dann weiter ins Land hinein ausbreitet.
Zu Lambert Wiesing: ›Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins‹
Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat jüngst eine Monografie vorgelegt, die sich in fünf Kapiteln der Phänomenologie des Selbstbewusstseins widmet. Wiesing geht – wie er im Vorwort schreibt – davon aus, dass sich die »Wirklichkeit des Selbstbewusstseins […] weder erklären noch verstehen [lässt]. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen.« (S. 10) Entsprechend lautet sein Ziel, »das Urphänomen Selbstbewusstsein […], die selbst erlebte Wirklichkeit meines eigenen Selbstbewusstseins auf ihre Charakteristika hin anzuschauen. […] Ich beschreibe kein Ich, sondern ein Mich. In diesem Buch denke ich mich, mein Dasein, als erlebte Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins.« (S. 10f.)
Zu Philip Kovce: ›Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten‹
Früher war alles besser. Vor allem war das Frühe das Beste. Danach konnte nur noch der Abstieg kommen. Früher musste er kommen. Als Tod, als Krise, als Epigonentum oder ständige Selbstreproduktion und als Manierismus. Heute liegt das Schlechte schon hinter uns, kaum dass wir zu schreiben beginnen. Peter Handke nannte es in einem Interview einmal »eine ungeheure Geläufigkeit«, gerade in der jüngeren Generation, die im Schreiben heute da sei, »einerseits erfreulich, andererseits fragwürdig«1. Auch deshalb hatte ich zunächst nicht so recht Lust, ein Buch zu rezensieren, das kein richtig neues war, sozusagen keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern eine Schöpfung aus dem ›Goetheanum‹, genauer gesagt dem Verlag am Goetheanum, und alle diese Texte waren zudem als Kolumnen in der gleichnamigen Dornacher Wochenschrift erschienen.
Über ›Falling‹ von Viggo Mortensen und ›Ich bin dein Mensch‹ von Maria Schrader
Erstaunlich im Grunde, dass es diese Einrichtung immer noch gibt: Wildfremde Menschen begeben sich körperlich zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, um dort gemeinsam einen Film zu sehen. Das schon so oft totgesagte Kino ist offenbar nicht umzubringen. Kino als Erlebnisgemeinschaft verschafft einen Eindruck von der Intimität des Öffentlichen. Astrale Wogen und Welten, ein Fühlen, das nicht individuell von innen, sondern äußerlich ausgelöst, technisch aus der Peripherie über die Zuschauer kommt – das ist ein interessantes Studienfeld. Ist man sich dessen bewusst, wie der Zuschauerorganismus als Klaviatur oder Instrument bespielt wird, lässt sich umso leichter einsehen, was den Zeitgeist gerade bewegt.
Ein Theaterprojekt über die Corona-Pandemie
Am Jagdschloss Grunewald in Berlin, vor der Kulisse des Grunewaldsees und der immer dunkler werdenden Silhouette des Waldes sitzen wir, die Theaterzuschauer. Nur das Rauschen der nahen Autobahn stört die Idylle. Die Bühne, so scheint es, ragt in den See hinein. Ein offener Ort. ›Offen lag die Welt – oder: Wir klatschen unsere Laptops an die Wand und gehen spielen‹ heißt denn auch der Titel des Stücks, das da von dem deutsch-syrischen Theaterkollektiv ›syn:format‹ gespielt wird.
Sir Walter Scott (1771–1832) zum 250. Geburtstag
Durch Selma Lagerlöf erfuhr ich zum ersten Mal von Walter Scott in dem Sinne, dass man ihn kennen muss: ›Ivanhoe‹ hatte sie zuerst bezaubert. Im Bücherschrank ihres Onkels fand sie Scotts Werke. Von Scott wurden Edward Bulwer-Lytton, George Eliot, Victor Hugo, Wilhelm Hauff und Theodor Fontane inspiriert. Goethe war von ›Waverley‹ begeistert. Als wir eine Schottland-Reise planten, las ich zuvor ›Ivanhoe‹ und ›Waverley‹. Im Übrigen spielte auch Theodor Fontane mit herein: durch die Fontane-Ausstellung 2019 in Potsdam und sein Buch ›Jenseit des Tweed‹ (1860), in dem er seine Schottlandreise von 1858 beschrieb. »Nach Schottland also!«3 Mit diesen Worten beginnt das Buch. Wir waren somit neben Scotts auch auf Fontanes Spuren.
Zur Ausstellung ›Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte‹ im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale
Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale und das British Museum in London haben in enger Kooperation eine spektakuläre Ausstellung mit rund 400 kostbaren Artefakten und Leihgaben aus 15 Ländern zusammengetragen. Die zum Teil erstmals in Deutschland ausgestellten Objekte beleuchten mit der Zeit von etwa 2500 v. Chr. bis 1000 v.Chr. das Ende der Stein- und den Großteil der Bronzezeit – eine noch kaum bekannte Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Ausstellung präsentiert 20 Jahre neuer Forschungsergebnisse rund um die Himmelsscheibe von Nebra (um 1750 v.Chr.) und zeigt ein Netzwerk vielfältiger Einflüsse und Zusammenhänge im gesamteuropäischen Raum auf, bis nach Ägypten und Mesopotamien. Und sie stellt die Frage nach staatlichen Strukturten im schriftlosen (!) Mitteldeutschland zur Zeit der Himmelsscheibe.
Joseph Beuys als Raumkurator in der Stuttgarter Staatsgalerie
Voller Erwartung betrete ich den Beuys-Raum im Stirling-Bau der Staatsgalerie in Stuttgart. Mein Blick fällt als erstes auf die Gebilde aus sprödem Gips und massigem Wachs, die dort herumliegen, und auf die durch den Raum schwingende Filzrolle – als Teile des ›dernier espace avec introspecteur‹ (Letzter Raum mit Introspecteur, 1964-1982). Von der Installation ›Plastischer Fuß Elastischer Fuß‹ (1969-1986) ragen nur vier auf dem Boden liegende Stahlplatten von links her in den Raum, auf denen drei große Autobatterien und eine Luftpumpe in einer Linie aufgereiht stehen. Die zwei großen Matten an der linken Wand fallen nicht gleich ins Auge. Erst recht nicht die beiden kleinen Plastiken, die Joseph Beuys zu beiden Seiten des Eingangs installiert hat: rechts auf einem Sockel die ›Kreuzigung‹ (1962/63) aus ärmlichen Materialien, linker Hand in einem in die Wand eingelassenen Kasten der goldene ›Friedenshase‹ (1982) samt Sonnenkugel, die aus den auf dem schmalen Boden des Safes drapierten Preziosen herausragen. Diese beiden Objekte, die kaum unterschiedlicher sein könnten, setzen das Thema dieses 1984 von Joseph Beuys eingerichteten Raumes: Polarität, die im Menschen ihre Steigerung erfährt.